In der Türkei, Iran und im Libanon steigt die Nachfrage nach Kryptowährungen – ebenso wie die Betrugsfälle.
Es ist seit Jahren dasselbe Muster: Erst sackt die türkische Lira auf den internationalen Finanzmärkten nach unten. Ein paar Wochen später ziehen im Land die Preise an. Im Juni hatte die Währung einen neuen Tiefstand erreicht. Ein Euro war damals 10,5 türkische Lira wert – und bereits Ende Juli zogen die Preise für viele Lebens- und Genussmittel nach.
Bei Alkohol ging es am schnellsten, da reiche Türken und Touristen noch zahlungswillig sind. Bald aber kommen die Preiserhöhungen auch im Supermarkt für einfache Produkte wie Tomaten und Auberginen an. Im Juli lag die Inflation offiziell bei 15 Prozent.
Für viele Türken wird das zu einem Problem. In Städten wie Istanbul fehlen aufgrund der Pandemie die Touristen, die für Devisen und Arbeitsplätze gesorgt haben. Yalcin Boncuk ist deswegen vor einigen Monaten mit seiner Freundin aufs Land an die Schwarzmeer-Küste gezogen. »Es ist billiger und vor allem ruhiger hier«, sagt der 40-Jährige am Telefon.
Seine Freundin arbeitet als Journalistin von daheim. Er selbst handelt mit Kryptowährungen. Dafür hat er zwei Konten. Eines bei einer relativ soliden Börse namens BtcTurk und eines bei der dezentralen Börse Binance, »um mit kleineren Coins zu zocken«, wie er sagt.
Die Türken haben Erfahrung mit der Inflation gemacht. Immer wieder war das Land durch eine schlechte Notenbankpolitik von Perioden starker Preissteigerungen heimgesucht worden. Ende der Neunzigerjahre lag die Teuerungsrate bei über 90 Prozent. »Traditionell nutzen wir zwei Möglichkeiten, dem zu entgehen«, sagt Kadir Halim, der in Istanbul Ferienwohnungen an Touristen vermietet: »Gold und Land.«
Da beide Güter begrenzt sind und die Preissteigerungen bei einer Inflation abbilden, eignen sie sich als Wertaufbewahrungsmittel. »Gerade weil unser Vertrauen in Banken und die Regierung nicht so hoch ist wie in Westeuropa, schenken wir uns zu wichtigen Anlässen wie Hochzeiten und Geburten gegenseitig Gold, das hat Tradition.«
Seit einigen Jahren aber ist zum Inflationsschutz Gold etwas Neues hinzugekommen: die Kryptowährung Bitcoin. Bitcoin wurde 2009 von einem unbekannten Schöpfer (oder einer Gruppe) mit dem Pseudonym Satoshi Nakamoto ins Leben gerufen und wird seitdem weltweit von immer mehr Menschen als Wertaufbewahrungsmittel und Spekulationsobjekt genutzt.
Noch dramatischer als in der Türkei ist die Entwertung der Landeswährung im Libanon
Bitcoin hat zwei Vorteile gegenüber anderen Währungen: Zum einen ist es dezentral. Kein Unternehmen, keine Stiftung, kein Staat hat Einfluss darauf, wer, wann, wie und wo etwas kauft oder verkauft. Keine Regierung kann verhindern,dass jemand seine Bitcoins außer Landes bringt. Das funktioniert, weil ein Netzwerk aus Rechnern (die »Miner«) über die Korrektheit der Transaktionen wacht, die als Belohnung für ihre Rechenleistung Bitcoins erhalten (weshalb Bitcoin immer wieder wegen seines hohen Energieverbrauchs kritisiert wird).
Seinen Ruf als »digitales Gold« hat Bitcoin vor allem deswegen erhalten, weil die absolute Menge aller Coins auf 21 Millionen begrenzt ist. Derzeit befinden sich rund 18,5 Millionen im Umlauf. Bis 2140 sollen alle Bitcoins geschürft sein. Gerade in Ländern wie der Türkei oder dem Libanon, wo die Geldmenge in den vergangenen Jahren massiv ausgeweitet wurde und die eigene Währung immer mehr an Wert verliert, ist Bitcoin deswegen attraktiv: Während der Kurs von Bitcoin zwischen September 2020 und August 2021 von 10.000 auf 40.000 Euro gestiegen ist, kletterte der Kurs in türkischer Lira gemessen von 70.000 auf 410.000.
Noch dramatischer als in der Türkei ist die Entwertung der Landeswährung im Libanon. Dort ist das Finanzsystem praktisch kollabiert. Schon seit Jahren war das Land abhängig von Überweisungen von Auslandslibanesen, die Dollar und Euro in das von Krisen gebeutelte Land schickten. Das libanesische Pfund war zwar offiziell zu einem festen Tauschwert an den US-Dollar gekoppelt.
Die Preise auf dem Schwarzmarkt aber zeigten klar, dass der von der Regulierung festgelegte Wechselkurs nichts mit der Realität zu tun hatte. Seit 2019 dauert die jüngste Regierungskrise an, die Explosion am Hafen im Sommer 2020 hat alles noch schlimmer gemacht, und so verschlechtert sich die wirtschaftliche Lage stetig. Die Währung kollabierte, so stieg der Tauschwert für einen US-Dollar von 1.500 auf 15.000 libanesische Pfund im Juni dieses Jahres. Das Vertrauen der Libanesen in ihre Banken ist am Ende.
Gerüchte kursieren, dass es vor allem die Revolutionsgarde ist, die illegal Bitcoins schürft
Rund 15 Millionen Libanesen leben im Ausland und überweisen von dort Geld in ihre Heimat. Die Wirtschaft des Landes ist abhängig von diesem konstanten Zustrom an Devisen. Überweisungen über Landesgrenzen hinweg aber sind teuer. Mit neuen Lösungen wie dem Lightning-Netzwerk will Bitcoin Alternativen bieten. Das System, mit dem in Sekundenschnelle Bitcoin und andere Kryptowährungen kostenlos überwiesen werden können, wird derzeit im mittelamerikanischen El Salvador getestet – einem Land, dessen wirtschaftliche Struktur dem Libanon nicht unähnlich ist.
Auch in Iran spielt Bitcoin eine besonderes Rolle. Zwar hat Teheran schon vor Längerem ein Bitcoin-Verbot erlassen. Als aber im Mai 2021 China das Schürfen von Bitcoin untersagte, machten sich zahlreiche Miner mit ihren Computern auf nach Iran. Gerüchte kursieren, dass es vor allem die Revolutionsgarde ist, die illegal Bitcoins schürft und so zu den zahlreichen Stromausfällen im Land beiträgt. Der Anteil an der globalen Hashrate, dem Bitcoin-Mining, stieg auf 4,5 Prozent. Im Mai verhängte Teheran deswegen für vier Monate ein Mining-Verbot. Die Kryptowährung aber bleibt für Teheran attraktiv.
Für Iran ist Bitcoin zumindest theoretisch eine Möglichkeit, Geld ins Ausland zu transferieren. Aufgrund der internationalen Sanktionen sind die Banken des Landes vom SWIFT-System abgeschnitten und so Überweisungen ins Ausland unmöglich. Allerdings ist das inzwischen längst nicht mehr so einfach: Aufgrund der Blockchain-Technologie sind alle Transaktionen einsehbar. Unternehmen wie Chainanalysis haben es sich zur Aufgabe gemacht, solche Bewegungen zu analysieren und die Akteure dahinter zu identifizieren.
Nach wie vor aber ist das Investieren und der Handel mit Kryptowährungen besonders unter jungen Iranern sehr beliebt, schließlich lag die Inflation 2020 bei 35 Prozent. Kein Wunder also, dass immer mehr Menschen in der Region ihr Erspartes lieber in Bitcoin und anderen Kryptowährungen investieren, anstatt ihr Geld auf einem traditionellen Konto dahinschmelzen zu sehen. Laut einer Umfrage des »Cryptocurrency Awareness and Perception Survey 2021« durch die türkische Börse Paribu haben 7,7 Prozent der Befragten im vergangenen Jahr mit Kryptowährungen gehandelt.
Die größte türkische Börse BtcTurk zählt inzwischen drei Millionen Konten
Solche Zahlen sind mit Vorsicht zu genießen. Schon vor einigen Jahren behauptete eine Studie, 18 Prozent aller Türken besäßen Bitcoin. Die Zahl wurde in der Krypto-Szene bejubelt, Kennern des Landes erschien dies aber schon damals überzogen. Noch immer parken die meisten Menschen des Landes ihr Vermögen in Euro, US-Dollar oder Gold. Tatsächlich stellten sich die Zahlen zur Beliebtheit von Bitcoins später als falsch heraus.
Trotzdem spekulieren und investieren immer mehr Türken in Bitcoin und Co. »Es sind vor allem die 25- bis 40-Jährigen, die in Kryptos investieren«, sagt Boncuk. Er erzählt, fast alle seiner Freunde hätten in der einen oder anderen Form etwas mit Kryptos zu tun. »Manche haben sogar ihren Job gekündigt, um Vollzeit zu handeln.« Die größte türkische Börse BtcTurk zählt inzwischen drei Millionen Konten.
Aber der Boom hat auch seine Schattenseiten. Mittlerweile sprießen Tausende Nachahmerprojekte aus dem Boden, die versprechen, das neue Bitcoin zu sein. »Shitcoins« heißen sie in der Szene. Sie sind weder dezentral organisiert, noch ist ihre absolute Menge begrenzt. Ihnen fehlen also die Merkmale, die Bitcoin zum Erfolg verholfen haben. Manche der Projekte haben Potenzial, viele sind aber nichts anderes als Betrug. Gerade Neulinge fallen darauf herein.
»Im Osten, besonders in den kurdischen Gebieten, ist es verrückt«, erzählt Nihal, eine 30-jährige Türkin aus Istanbul. »Die Menschen sind einerseits verzweifelt angesichts der wirtschaftlichen Lage und haben andererseits wenig Ahnung, was sie tun. Da stecken Familienväter ihr gesamtes Vermögen in irgendeine Kryptowährung.« Nihal ist selbst von Bitcoin überzeugt. Die Filmemacherin hat sich in den vergangenen Monaten viel angelesen über Geldtheorie, Inflation und die Funktionsweise von Bitcoin. Den Boom aber hält sie auch für gefährlich. »Da ist einfach viel Betrug im Spiel«, sagt sie.
Im April macht sich der Gründer der Kryptobörse Thodex mit Millionen von Kundengeldern aus dem Staub
Erst im April macht sich der Gründer der Kryptobörse Thodex mit Millionen von Kundengeldern aus dem Staub. Thodex hatte knapp 400.000 Kunden, die auf einmal nicht mehr an ihr Geld kamen. Der 27-jährige Thodex-Gründer Faruk Fatih Özer soll sich mit zwei Milliarden US-Dollar ins Ausland abgesetzt haben, wahrscheinlich nach Albanien. Kurz darauf wurden vier Mitarbeiter einer weiteren Kryptobörse, Vebitcoin, verhaftet, weil sie Kundengelder veruntreut haben sollen.
Auch die Volatilität von Kryptowährungen ist nicht ungefährlich: Langfristig scheint der Bitcoin-Kurs zwar zu steigen. Doch die Wellenbewegungen können für Investoren schmerzhaft sein. 2017 stieg der Bitcoin-Kurs innerhalb weniger Monate von 1.000 US-Dollar auf 18.000 – nur um kurz danach auf 4.000 US-Dollar zu fallen.
Der Boom von Kryptowährungen im Nahen Osten ist nicht Ursache, sondern Symptom eines Problems: Präsident Recep Tayyip Erdoğan gilt als Verfechter einer expansiven Geldpolitik. Immer wieder hat er in den vergangenen Jahren die Unabhängigkeit der Zentralbank eingeschränkt, weil er die Leitzinsen erhöhen wollte, um die Inflation einzudämmen.
Das marode Bankensystem im Libanon zwingt viele Bürger dazu, sich nach Alternativen umzuschauen. Und in Iran ist Bitcoin eine der wenigen Möglichkeiten, Zahlungen ins Ausland zu leisten. Die türkische Regierung will nun mit stärkeren Regulierungen gegen Kryptowährungen vorgehen. Im April wurde Bitcoin als Zahlungsmittel verboten. Das aber schert Investoren wie Boncuk wenig: »Mit Bitcoin bezahlt habe ich noch nie«, sagt er. »Aber ich will mich gegen den Wertverlust der Lira schützen. Und damit Geld verdienen.«