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Gas, Grenzen und Diplomatie im Libanon und Israel

Der Levante-Vertrag

Analyse
Gas, Grenzen und Diplomatie im Libanon und Israel
Das Leviathan-Gasfeld vor der israelischen Küste: Mit dem Reservoir Karish könnte Israel nun bald die dritte aktive Lagerstätte für Erdgas erschließen. Deror Avi / Wikimedia Commons

Ende 2022 einigten sich Israel und der Libanon auf ein historisches Abkommen. Wie der Durchbruch gelang, warum sich Nasrallah und Netanyahu plötzlich auf derselben Seite wiederfinden – und ob Erdgas den Libanon vor dem Untergang bewahren kann.

Ein Gebäude, zwei Delegationen, zwei Räume, zwei identische Dokumente und darauf jeweils eine Unterschrift. Dank dieser Federstriche steht seit Oktober 2022 die Seegrenze zwischen Israel und Libanon fest. Mehr als eine Dekade wurde das unter US-amerikanischer Vermittlung geleitete Abkommen verhandelt – mal mehr, mal weniger aktiv.

 

Dabei unterhalten der Libanon und Israel keine direkten diplomatischen Beziehungen. Mehrere US-Mediatoren sind daher in den letzten Jahren zwischen Beirut und Jerusalem gependelt, damit beide Seiten indirekt miteinander kommunizieren können. Denn seit der Staatsgründung Israels 1948 gilt offiziell der Kriegszustand. In Israel zählt der Libanon zu den »Feindstaaten«. Auch der Libanon sieht seinen südlichen Nachbarn als »Feind« und erkennt ihn nicht an, verbietet sogar per Gesetz Kontakt mit Israelis, sei es wirtschaftlich, kulturell oder politisch.

 

Trotzdem, oder gerade deswegen, ist die Zustimmung im Zedernstaat für den unerwartet diplomatischen Umgang mit dem politischen und militärischen Erzfeind groß. Ein seltsam anmutender Konsens, denn politische Einigkeit ist im Libanon eine Seltenheit – und falls doch, ist es die gemeinsame Ablehnung von Israel, hinter der sich die Libanesen versammeln, wenn auch hier die Prioritäten unterschiedlich ausfallen. Nun feiert aber selbst der Hizbullah-Generalsekretär Hassan Nasrallah die erfolgreichen Verhandlungen als »großen Sieg«.

 

Die Hizbullah als bewaffnete paramilitärische Miliz ist mit der militärischen Unterstützung aus dem Iran schlagkräftiger als die libanesische Armee. Neben ihrem militärischen Teil ist sie auch als politische Partei im Parlament und der Regierung vertreten. Mit ihren Verbündeten beeinflusst sie die Leitlinien der libanesischen Außenpolitik stark zugunsten einer anti-westlichen Ausrichtung.

 

Das Karish-Gasfeld ist Teil des Gebiets, welches nach Abschluss des Abkommens nun auf israelischer Seite liegt

 

So brachte sie sich auch in den Disput ein, zwar nicht offiziell am Verhandlungstisch, dafür mit begleitenden Drohungen gegen Israel. Zum Beispiel Anfang Juli, vier Monate vor Verhandlungsabschluss. Drei Aufklärungsdrohnen schickte die »Partei Gottes« in Richtung des damals noch umstrittenen Karish-Gasfelds, nachdem sich von Israel beauftragte Gasförderschiffe auf den Weg dorthin gemacht hatten, um die kommerzielle Förderung vorzubereiten. Denn auf dem umstrittenen Gebiet befinden sich zwei potenziell lukrative Gasfelder die beide Länder gerne für sich nutzen wollen.

 

Die von der Hizbullah ausgesandten Drohnen kann die israelische Armee abschießen, noch bevor sie zum Sicherheitsrisiko werden. Doch Nasrallahs Androhung einer militärischen Konfrontation im Falle eines einseitigen Bohrbeginns vor Festlegung der Seegrenzen, veranlasste Israel wohl, die Schiffe wieder abzuziehen.

 

Das Karish-Gasfeld ist Teil des Gebiets, welches nach Abschluss des Abkommens nun auf israelischer Seite liegt. Eine Fläche von 2290 Quadratkilometern stand bei den Verhandlungen zur Disposition. Neben dem Karish-Gasfeld umfasst diese Fläche das noch nicht erschlossene Qana-Reservoir. Auch deshalb sind Quantität und Qualität des vorhandenen Gases noch unklar. Mit der Hoffnung, dass sich auch dort große Gasmengen finden, wird das Qana-Reservoir als potenzielle Goldgrube gesehen.

 

Umso mehr verhärteten sich zwischenzeitlich die Fronten – zu einem Ergebnis kommen wollten jedoch beide: »Maritime Sicherheit und die Ausbeutung der Gasressourcen werden von beiden Seiten nicht mehr als Nullsummenspiel betrachtet«, beobachtet Muriel Asseburg von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin.

 

Dass die Verhandlungen äußerst kompliziert waren und mehrmals kurz vor dem Scheitern standen, ist kaum verwunderlich. Denn um eine Seegrenze zu bestimmen, stellt sich eine ganze Reihe von Fragen: Soll die Demarkation als geografische Verlängerung der (ebenfalls umstrittenen) Landgrenze gezogen werden? Inwiefern wirken sich die vor Israel liegenden Tekhelet-Felsen auf den Grenzverlauf aus? Inwiefern werden nationale Sicherheitsbedenken mit einbezogen?

 

Gas, Grenzen und Diplomatie im Libanon und Israel
Arab Center Washington DC

 

So geht es am Ende um wenige an der Küste angesetzte Winkelgrade einer Linie, die alle Anforderungen erfüllen soll. Ein sehr technisches Verfahren, wie auch die Namen der möglichen Grenzverläufe, um die verhandelt wird: Linie 1 als israelischer Vorschlag, Linie 23 und 29 als libanesische Position sowie die vom ehemaligen amerikanischen Mediator Frederic Hof als Kompromiss eingebrachte Hof-Linie. Sieben Mal hat die libanesische Seite im Laufe der letzten Dekade ihre Forderungen geändert, zuletzt 2021. Wobei Linie 29 nie offiziell Position des Libanon war, innerhalb des Landes jedoch als berechtigte Forderung gegenüber Israel gesehen wurde.

 

Letztlich ist Linie 23 als offizieller Seegrenzverlauf beschlossen worden – damit wurden die Forderungen der libanesischen Seite erfüllt. Südlich dieser Linie darf Israel im Karish-Gasfeld nun ungestört nach Gas bohren – und nach Ägypten und Jordanien verkaufen. Karish ist nach den Lagerstätten Tamar und Leviathan nun das dritte aktive israelische Gasfeld.

 

Das ursprünglich umstrittene Territorium mit einer Größe von 860 Quadratkilometern liegt nun vollständig auf libanesischem Gebiet. Dennoch wird Israel einen Gewinnanteil des potenziell geförderten Gases aus dem Qana-Feld erhalten. Denn ein Teil davon liegt in israelischen Gewässern. Libanons politische Elite, die geschlossen hinter dem Deal steht, präsentierte die ausgehandelten 860 Quadratkilometer, die Israel nun vollständig dem Libanon überlassen wird, als Verhandlungserfolg.

 

Das hat sie auch nötig, besonders die Außenwirkung ist dem politischen Establishment wichtig. »Die Politiker wollten sich international Legitimität zu verschaffen«, glaubt Energieexpertin Laury Haytayan vom Natural Resource Governance Institute in New York.

 

Tatsächlich war es Parlamentspräsident Nabih Berri, der einflussreiche Führer der schiitischen Amal-Partei, der 2020 die offizielle Anfrage an die USA stellte, die festgefahrenen Verhandlungen wiederzubeleben. Nachdem die Explosion im Beiruter Hafen im August 2020 das krisengeplagte Land an einen weiteren Tiefpunkt führte, sah auch die US-Regierung den richtigen Zeitpunkt gekommen, die Verhandlungen zu unterstützen. 2021 entsandte Washington Joe Bidens energiepolitischen Berater Amos Hochstein als Unterhändler.

 

Im Libanon werden die Folgen hinsichtlich einer neuen Beziehung zu Israel heruntergespielt

 

Die Zustimmung der Hizbullah, die Gespräche wiederaufleben zu lassen, kann nicht ohne das Einverständnis der Sponsoren aus Iran getroffen worden sein, wenngleich Teheran von seiner offiziellen Linie gegenüber Israel keinen Schritt zurückweicht.

 

Beiruts Verhandlungen mit dem verfeindeten Nachbarn sind aber auch das Ergebnis des innenpolitischen Drucks. Nicht nur das politische Establishment des Libanon wird kritisiert, die Hizbullah mit ihren Waffen ist ebenfalls ins Visier der Protestbewegung geraten. Denn zu Beginn der Proteste 2019 verteidigt sie die Politik der libanesischen Regierung, in der sie auch selbst sitzt.

 

Auch in ihren Hochburgen im Süden des Landes wie Tyros und Nabatiyeh gehen zahlreiche Menschen gegen Inflation, Korruption und Vetternwirtschaft auf die Straße. Zumal viele der »Partei Gottes« eine Mitschuld für die Hafenexplosion geben, die im August 2020 250 Todesopfer forderte.

 

Diese These vertrat auch Lokman Slim, der der Hizbullah vorwarf, das im Hafen gelagerte Ammoniumnitrat als Waffenmaterial an Assads Truppen zu schmuggeln. Im Februar 2021 wurde Slim im Hizbullah-Gebiet von unbekannten Tätern erschossen. Vieles spricht dafür, dass die Hizbullah einen ihrer prominentesten Kritiker für immer verstummen lassen wollte.

 

Ein großer Teil der Bevölkerung macht die Partei von Ex-Präsident Michel Aoun, bis November 2022 im Amt, mitverantwortlich für die schwere Wirtschaftskrise. Bei den Parlamentswahlen im Mai 2022 büßte Aouns Freie Patriotische Bewegung daher viele Stimmen ein und die Pro-Hizbullah-Koalition ihre parlamentarische Mehrheit.

 

Um nun zu verhindern, dass der Eindruck entsteht, man würde aus Sorge vor dem Machtverlust gemeinsame Sache mit dem Feind machen, werden die Folgen hinsichtlich einer neuen Beziehung zu Israel heruntergespielt. Es handele sich um ein ausschließlich technisches Abkommen ohne politische Implikationen, ließ Aoun in einem Pressestatement mitteilen, kurz nachdem er das Dokument als eine seiner letzten Amtshandlungen unterschrieben hatte.

 

Dank der amerikanischen Unterschrift wird das Abkommen als offizielles Dokument über den Seegrenzverlauf anerkannt

 

Eigentlich hätte ein solcher Vertrag laut libanesischer Verfassung vom libanesischen Parlament ratifiziert werden müssen: »Verträge, die nicht mit Ablauf jeden Jahres gekündigt werden können [oder die Staatsfinanzen betreffen], werden erst nach der Zustimmung der Abgeordnetenkammer ratifiziert«, heißt es in Artikel 52 der Verfassung. Das Parlament wurde jedoch nicht befragt.

 

Libanons Chefunterhändler Elias Bou Saab vermeidet in Interviews explizit die Bezeichnung »Vertrag«, sondern spricht von einem »Brief«, den Libanesen und Israelis separat unterzeichnet den USA übermitteln. Die amerikanische Unterschrift vervollständigt dieses Schreiben und wird auf diese Weise von den Vereinten Nationen als offizielles Dokument über den Seegrenzverlauf anerkannt.

 

Im Wissen über die typische Dauer von parlamentarischen Prozessen im Libanon hätte eine solche Abstimmung den tatsächliche Förderbeginn wohl auf unbestimmte Zeit verzögert, trotzdem forderten oppositionelle Parlamentarier wie die der Kata‘ib und der Protestbewegung eine Abstimmung. Eine solche wäre insbesondere für eine Partei politisch heikel: Ein Szenario, in dem Hizbullah-Abgeordnete im Parlament mit »Ja« für einen diplomatischen Durchbruch mit dem Erzfeind stimmen, liegt nicht im Interesse der »Partei Gottes«.

 

Bis heute legitimiert die 1982 gegründete Hizbullah ihren Waffenbesitz mit der militärischen Bedrohung durch Israel und die noch zu befreienden Schebaa-Farmen und Hügel von Kfar Schuba – zwei Gebiete mit jeweils knapp 30 Quadratkilometern Fläche. Sollte sie Verhandlungslösungen mit Israel langfristig als Mittel der Wahl bei Streitigkeiten sehen, verliert die Hizbullah ihre nach außen bekundete Legitimation, außerhalb staatlicher Institutionen Waffen und Streitkräfte zu führen.

 

Eine weitere symbolische Herausforderung für die Hizbullah: US-Mediator Amos Hochstein hat bei den Israel Defense Forces (IDF) gedient. »Wenn ihr weiter verhandeln wollt, dann nicht mit Hochstein, Frankenstein oder irgendeinem -stein, der in den Libanon kommt. Der Weg der Verhandlungen über den unaufrichtigen amerikanischen Vermittler, der Israel unterstützt, wird uns zu keinem Ergebnis führen«, polterte Hassan Nasrallah noch im Mai 2022, fünf Monate vor Unterzeichnung des Abkommens. Hochstein wurde aber auch weiterhin im Libanon zu Interviews eingeladen und von den libanesischen Verhandlern freundschaftlich empfangen.

 

Selbst der libanesische Verhandlungsführer Elias Bou Saab verglich den Vertrag mit den Abraham-Abkommen

 

Nach der Unterzeichnung versuchen Pro-Hizbullah-Aktivisten nun den schmalen Grat zwischen Ideologie und Realpolitik. »Verhandlungen sind Teil des Krieges. Wir akzeptieren diese ganzen Grenzziehungen nicht, aber wir gehen mit diesen Dingen sehr realistisch um«, erklärte der Hizbullah-Unterstützer Sadiq Al-Nabulsi, der als Professor für Politikwissenschaft an der staatlichen Libanesischen Universität arbeitet, in einem Fernsehinterview. Zugleich beeilte er sich nachzuschieben, dass man sich vorbehalte, jegliche Zugeständnisse und Vereinbarungen notfalls auch mit Waffengewalt zu revidieren – sollte sich dafür die »historische Gelegenheit« auftun.

 

Unabhängig davon ist das Kalkül, die Verhandlungen als »Teil des Krieges« zu präsentieren, nicht aufgegangen. Denn für viele Libanesen kommt das Abkommen einer Anerkennung Israels gleich: In einem Interview mit dem Tagesspiegel spricht Sami Gemayel, der Führer der christlichen Kata‘ib-Partei, sogar von der »Grundlage für eine Normalisierung«. Dass so eine Aussage von einem Politiker kommt, dessen Partei im libanesischen Bürgerkrieg von Israel unterstützt wurde und die sich als vehementer Gegner der Hizbullah sieht, ist nicht weiter verwunderlich.

 

Doch selbst der libanesische Verhandlungsführer Elias Bou Saab verglich den Vertrag mit den Abraham-Abkommen, die 2020 den Grundstein für offizielle diplomatische Beziehungen zwischen Israel und den Golfstaaten legten. Bou Saab ging sogar soweit, dass der Seegrenzenvertrag als »Hochstein-Abkommen« in die Geschichte eingehen könnte. Eine solche Aussage eines libanesischen Ministers einer Partei, die mit der Hizbullah verbündet ist, kommt einer Zäsur der libanesischen Außenpolitik gleich.

 

Durch das Paradox, einen Staat nicht anzuerkennen, und dennoch mit ihm zu verhandeln, ergeben sich für den Libanon nicht nur unterschiedliche Interpretationen der symbolischen Bedeutung des Abkommens, sondern auch handfeste Nachteile. So befindet sich mit der festgelegten Grenze ein Teil des Qana-Gasreservoirs auf israelischem Gebiet. Der vom Libanon beauftragte französische Energiekonzern Total, der das potenzielle Gasfeld auf vorhandenes Gas untersuchen und kommerziell nutzbar machen wird, soll mit den Israelis die Höhe eines Gewinnanteils verhandeln.

 

Der Libanon kann dadurch das gesamte Qana-Feld kommerziell beanspruchen und umgeht den Kontakt mit dem Nachbarn über direkte Kompensationszahlungen oder eine gemeinsame Infrastruktur. Sollten sich Total und Israel jedoch nicht auf die entsprechende Höhe des Anteils geeinigt haben, ist die Förderung von Gas auf libanesischer Seite in den Grenzgewässern vertraglich blockiert. So wurde es im Abkommen festgelegt– der Libanon kann bei den Verhandlungen zwischen Israel und Total nur zusehen.

 

Ein Streit um eine Passage bezüglich der beteiligten Energieunternehmen kurz vor der Unterzeichnung hätte die Verhandlungen beinahe scheitern lassen

 

Eigentlich waren die Libanesen vor so einer Situation gewarnt, denn es besteht derzeit eine Pattsituation zwischen Zypern und Israel. Beiden teilen sich das Gasfeld Aphrodite, ausschließlich Zypern möchte es kommerziell nutzen: Seit 2012 ist die Entwicklung zur Förderung blockiert, da sich die Länder nicht auf die Höhe der Kompensationszahlungen von Zypern an Israel einigen können.

 

Verglichen mit der Situation vor der libanesischen Küste könnte Israels neues Kabinett aus politischen Motiven die Erschließung des Qana-Feldes blockieren, während das eigene Karish-Gasfeld weiter ausgenutzt wird. Für den Libanon wäre das eine politische sowie wirtschaftliche Blamage, da der Erzfeind dadurch Entscheidungen im eigenen Territorium beeinflussen würde, ohne dass der Libanon ein Mitspracherecht hätte.

 

Bis kurz vor dem Abschluss der Verhandlungen war unklar, ob es überhaupt zu einer Einigung kommt. So führte der Streit um eine Passage bezüglich der beteiligten Energieunternehmen kurz vor der Unterzeichnung fast dazu, dass das Abkommen nicht zustande gekommen wäre. Zwar hält sich der libanesische Verhandlungsführer Elias Bou Saab bedeckt. Zu vermuten ist, dass es um den US-amerikanischen Einfluss auf die zukünftig in die Gasbohrungen involvierten Unternehmen ging.

 

»Die Explorationsarbeiten sollen von einem oder mehreren angesehenen internationalen Unternehmen durchgeführt werden, die keinen internationalen Sanktionen unterliegen, die die fortgesetzte Unterstützung durch die USA nicht behindern und die keine israelischen oder libanesischen Unternehmen sind«, heißt es im Dokument.

 

Laut dem in Doha ansässigen »Arab Center for Research & Policy Studies« forderte der Libanon, die ursprüngliche Formulierung von »nicht den US-Sanktionen unterliegend« durch »internationale Sanktionen« zu ersetzen. Die US-Vermittler nahmen das hin, setzten aber durch, den Satz »die die fortgesetzte Unterstützung durch die USA nicht behindern würden« anzuknüpfen. Eine solche Formulierung löst das Problem jedoch nicht, sondern vertagt die Diskussion. Auch andere Fragen sind noch offen: »Es fehlt unter anderem ein Konfliktregelungsmechanismus«, sagt Nahostexpertin Muriel Asseburg.

 

Neben dem Libanon hatten auch Israel und die USA Interesse an einer schnellen Verabschiedung des Abkommens

 

Neben dem Libanon hatten auch Israel und die USA Interesse an einer schnellen Verabschiedung des Abkommens: Die Neuwahlen, in denen es auch um das Amt des israelischen Premierministers ging, waren für den 1. November angesetzt. Im Wahlkampf gegen Herausforderer Benjamin Netanyahu hätte sich ein diplomatischer Erfolg gut gemacht, denn eine Mehrheit der Israelis steht hinter dem Abkommen.

 

Wenngleich nicht öffentlich geäußert, wäre Bidens israelischer Wunschkandidat für den Posten des Premierministers der Zentrist Lapid gewesen. Beide halten öffentlich Lobreden auf die liberale Demokratie und verfolgen ähnliche Ziele im Nahen Osten, etwa eine Zweistaatenlösung mit den Palästinensern.

 

Netanyahu dagegen, dessen Regierungsstil eher an Donald Trumps und Viktor Orbans Demokratieverständnis erinnert, widerspricht Biden bei Grundsatzfragen in der Nahostpolitik, sei es bei der Zweistaatenlösung, der Siedlungspolitik, oder einer Konfrontation mit Iran.

 

Das Abkommen erweckt den Eindruck, als hätte Israel das bekommen, was es wollte: Stabilität an der Seegrenze im Norden, eine sichere Einnahmequelle durch das Karish-Gasfeld und einen Gewinnanteil am libanesischen Qana-Reservoir.

 

Doch im Wahlkampf wetterte der spätere Wahlgewinner gegen das Abkommen. Netanyahu warnte vor einer »historischen Kapitulation vor der Hizbullah«, denn »der Libanon bekommt 100 Prozent und Israel null Prozent«. Netanyahu drohte gar damit, den Vertrag aufzukündigen, sollte er an die Macht kommen. Dabei bezog er sich auf die territorialen Konzessionen, die Israel an Libanon hinsichtlich der ursprünglichen israelischen Forderung von Linie 1 machte.

 

Das Abkommen wurde fünf Tage vor den Wahlen in Israel und vier Tage vor Ende von Aouns Amtszeit unterzeichnet

 

Netanyahus Wahlkampfparolen bremsten jedoch nicht die Entschlossenheit der Lapid-Regierung, möglichst schnell den diplomatischen Durchbruch zu schaffen. Wie im Libanon wurde auch in Israel das Parlament zwecks einer Abstimmung zur Ratifizierung trotz öffentlicher Aufforderung übergangen. Im jüdischen Staat besteht dafür aber keine rechtliche Notwendigkeit, ließ die israelische Generalstaatsanwältin in einer Erklärung verlautbaren.

 

Nachdem auch der Nationale Sicherheitsrat Israels den Grenzverlauf nicht als Risiko eingestuft und die Verabschiedung absegnet hat, wird auch die Kritik der israelischen Hardliner leiser.

 

Das Abkommen wurde schließlich fünf Tage vor den Wahlen in Israel und vier Tage vor Ende von Aouns Amtszeit unterzeichnet. »Die Lapid-Regierung hat politisch kaum vom Abkommen profitiert, für die Wahlentscheidung der meisten Israelis war es nicht entscheidend«, resümiert Muriel Asseburg. Dass Netanyahu das Abkommen kassiert, wie im Wahlkampf angedeutet, ist laut Asseburg aber unwahrscheinlich: »Seit den Wahlen hat sich Netanyahu sehr viel zurückhaltender geäußert. In der Vergangenheit zeigte er sich als sicherheits- und stabilitätsorientiert, nicht als militärischer Abenteurer«, glaubt die Expertin. Nur im Falle eines Krieges in der Region, in den Israel und die Hizbullah verwickelt sind, sei davon auszugehen, dass das Abkommen keine Relevanz mehr haben wird, so Asseburg.

 

Libanons Initiative zur Wiederbelebung der Verhandlungen profitierte so von mehreren Faktoren, die ein schnelles Unterzeichnen für alle Beteiligten zur Priorität machten: Hohe Energiepreise, Lapids und Aouns auslaufende Amtszeiten sowie der innenpolitische Druck auf die libanesische Regierung und die Hizbullah durch die Protestbewegung.

 

Während im Gasfeld Karish auf der israelischen Seite bereits Gas gefördert und exportiert wird, sind auf der libanesischen Seite selbst die Probebohrungen noch nicht gestartet. Im ersten Quartal 2023 soll es losgehen, heißt es seitens Total.

 

 

Im Libanon ist mittlerweile die elfte parlamentarische Abstimmung über Michel Aouns Nachfolge erfolglos verstrichen

 

Selbst falls sich im bestmöglichen Fall Gas im Wert von jährlich 4 bis 8 Milliarden US-Dollar findet, wirkt diese Summe angesichts der Staatsverschuldung von knapp über 100 Milliarden US-Dollar wie ein Tropfen auf den heißen Stein. An tiefgreifenden Reformen kommt der Libanon also nicht vorbei.

 

Das geförderte Gas ist zunächst für den heimischen Markt wichtig: »Libanons derzeitige Hauptenergiequelle ist Schweröl und Diesel. Gas ist deutlich billiger«, sagt Expertin Haytayan. Sollte nach der Versorgung des eigenen Marktes noch Gas übrigbleiben, könnte der Export des Rohstoffs ein lukratives Geschäft werden: »Es fehlen aber Gaskraftwerke, LNG-Terminals oder Pipelines – alles müsste erst noch gebaut werden«, gibt Haytayan zu Bedenken.

 

Doch die dafür notwendigen, großangelegten Investitionen erscheinen für den Libanon in seiner momentanen Verfassung kaum realistisch. Sinnvoll wäre es daher, den eigenen Gasmarkt in die vorhandene Infrastruktur Israels einzubinden: »Das ist politisch unmöglich«, befindet Haytayan. »Aber wer hätte vor ein paar Jahren gedacht, dass wir einen Deal mit Israel schließen?«

 

Dass öffentliche Gelder im Libanon seit jeher in privaten Taschen verschwinden, ist ein offenes Geheimnis: Aus Sorge vor der grassierenden Korruption wird für die Gasgewinne ein transparenter Vermögensfond gefordert. Vier Gesetzesentwürfe liegen dazu derzeit dem Parlament vor: »Gesetzeslücken müssen geschlossen werden, um den Missbrauch der Gelder zu verhindern«, fordert Haytayan. Besonders Medien und Zivilgesellschaft stünden dabei in der Verantwortung, den Prozess kritisch zu begleiten.

 

Im Libanon ist mittlerweile die elfte parlamentarische Abstimmung über Michel Aouns Nachfolge erfolglos verstrichen. Seit den Parlamentswahlen im Mai 2022 ist noch immer keine Regierung vereidigt. Die Transformation des Libanon zur Erdgas-Macht wird also dauern. Wenn sich vor der libanesischen Küste überhaupt etwas findet.

Von: 
Alexander Karam

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