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Digitalisierung in der arabischen Welt

Allah ist mit den Robotern

Analyse
Digitalisierung in der arabischen Welt
Arabischen Staaten haben bei der Digitalisierung viel nachzuholen. Foto: Wikimedia Commons

Die arabische Welt geht unvorbereitet in die digitale Zukunft. Das könnte zum Zerfall von Staaten führen.

Warum schreiben arabische Autoren so gut wie keine Science-Fiction? Für den syrischen Kulturjournalisten Al-Mustafa Najjar ist dies ein Rätsel. Repression und Zensur in der politischen und intellektuellen Szene böten doch eigentlich einen Anreiz, um über die ideale und manchmal utopische Zukunft zu schreiben, konstatierte er bereits vor einigen Jahren.

 

Die Zukunft zumindest sei doch noch frei von den religiösen und politischen Tabus der Gegenwart und eine Literaturanalyse des 19. Jahrhunderts zeigt zudem, dass die Art und Weise, wie über die Zukunft nachgedacht und geschrieben wird, den Entwicklungspfad von innovativen Technologien und gesellschaftlichen Anpassungen mitbestimmt. Auch der Diskurs über mögliche Wege in ein »digitales Arabien« leidet unter dieser Fantasielosigkeit.

 

Die Diskussion über die Auswirkung der Digitalisierung auf die arabischen Nationen fokussiert sich sehr auf das Thema eindrucksvoller Start-ups und blendet dabei die Transformation der traditionellen Wirtschaft und – wenig überraschend – der Gesellschaft weitgehend aus.

 

Dabei werden die Folgen der Digitalisierung wohl massiv sein – Staaten könnten auseinanderbrechen, in einigen urbanen Zentren entwickeln sich vollständig transformierte »digitale Stämme«, anderenorts sind apokalyptische »No-go-Areas« möglich, die mithilfe von digitaler Technologie isoliert und überwacht werden.

 

Die Digitalisierung umfasst – vereinfachend skizziert – die Übernahme physischer Arbeit durch Roboter, die Substitution menschlicher Entscheidungen durch algorithmisches »Maschinelles Lernen«, den Transfer von Werten über verschlüsselte Blockchains und den Austausch von Waren und Leistungen über virtuelle Plattformen.

 

Diese technologisch induzierten Veränderungen prallen nun mit zunehmender Geschwindigkeit auf den fragmentierten arabischen Markt, auf geschwächte und zerrissene Nationen. Nicht nur werden die arabischen Unternehmen gezwungen, diese aufwendigen Technologien anzunehmen, um wettbewerbsfähig zu bleiben, auch die Digitalisierung im Westen wird ihre Spuren in der arabischen Welt hinterlassen.

 

Lohnkosten werden unwichtiger: Die Roboter-Fabrik kann überall, also auch im Westen, angesiedelt werden – wahrscheinlich sogar eher dort, weil die technischen Fähigkeiten zur Entwicklung und Wartung der komplexen Maschinen gegeben sind. Im Textil- und Modebereich hat dies bereits dazu geführt, dass Unternehmen ihre Produktion zurück in westliche Staaten verlagert haben.

 

Außerdem sind westliche Unternehmen weniger auf traditionelle Outsourcing-Partner und Zulieferketten angewiesen: Einfache Aktivitäten können durch Maschinelles Lernen oder Maschinen erledigt und müssen nicht in Billiglohnländer verlagert werden. Zudem werden Produkte wie Autos weniger Bauteile beinhalten. Die Software wird wichtiger als die physischen Bauteile.

 

Andererseits erleichtert die Digitalisierung den Zugang zu Wissen- und Produktionsmitteln – auch in Ländern des Südens: Mithilfe von auf Plattformen verfügbaren Produktionsplänen können Produkte vor Ort »ausgedruckt« und die Kosten für Importe gedrückt werden.

 

Und es können neue Geschäftsfelder in der arabischen Welt entstehen. Clickworker und Plattformen könnten etwa helfen, Datenstrukturen für Maschinelles Lernen auch im Westen aufzubauen. Aber auch traditionelle Industrien, die aus Europa abziehen werden (kraftstoffbetriebene Autos), könnten für eine Übergangsperiode in die Region übersiedeln und die eigentliche Transformation finanzieren.

 

Bislang allerdings beherrscht das Thema der Innovation den Diskurs – und damit die implizite Vorstellung, dass die traditionelle Wirtschaft weiter existiert und durch Start-ups, die auch in der arabischen Welt verstärkt auftauchen, ergänzt wird. Diese begrenzte Sicht hat möglicherweise mit mangelndem technologischem Wissen über die Auswirkungen der Digitalisierung zu tun, gemischt mit der Hoffnung, die Ineffizienz und mangelnde Wettbewerbsfähigkeit des gegenwärtigen Systems durch eine technologische Komponente zu kompensieren, ohne schmerzliche ökonomische , aber auch gesellschaftliche Reformen zu starten.

 

Auch das schwierige Thema der Demokratisierung kann man in der digitalen Welt ja vielleicht überspringen. Gelingt es nicht etwa China, ein autoritäres Modell im Cyberspace aufzubauen, welches man importieren und an den vorhandenen Geheimdienst-Komplex anschließen kann?

 

Dabei lassen sich ausgehend vom heutigen technologischen Stand bereits Szenarien ableiten, die gleichzeitig und in unterschiedlichen Ausprägungen in den einzelnen arabischen Ländern anzutreffen sein werden: Sie reichen von einer vollständigen digitalen Transformation, in der wichtige Industrien automatisiert werden und die Bevölkerung anderen Jobs in Politik, Erziehung oder Kultur nachgeht – und über Grundeinkommen unterstützt wird, das sich aus den Abgaben der Roboter-Fabrik speist –, bis hin zu hoffnungslosen No-go-Areas, die mit Mauern, Robotern und Drohnen isoliert und bewacht werden müssen.

 

Dazwischen liegt das Szenario der partiellen Digitalisierung: Da die Digitalisierung zumeist in einigen urbanen Zentren erfolgreich sein wird, drohen umliegende Regionen oder gar ganze Staaten auseinanderzubrechen. Im besten Fall übernehmen in diesem Szenario globale Plattformen aus China oder dem Westen die Infrastruktur (Wasser, Strom, Mobilität, künstliche Nahrung) und liefern Basisdienste, um Migration zu unterbinden, weil derartige Megaplattformen selbst bei niedrigen Margen noch profitabel sind. Der Druck auf die arabischen Nationalstaaten wird durch die Digitalisierung also weiter anhalten.

 

Westliche Unternehmen brauchen Zulieferer und Partner in der arabischen Welt immer weniger

 

Gleichzeitig wird immer klarer, dass sich die arabischen Ökonomien in der digitalen Sphäre unterschiedlich etablieren werden. Während der Gazastreifen bereits einem abgeriegelten No-go-Gebiet gleichkommt, in dem Technologie zur Überwachung und Bekämpfung fast schon laborhaft erprobt wird, ähneln die reichen Golfstaaten bereits heute digitalen Stämmen: Hier leben die Bewohner so, wie sie wollen, und finanzieren ihren Lebensstil mittels einer Rente, die zwar nicht von Robotern, sondern aus Erdöleinkommen generiert wird. Als Robotersubstitut agieren noch asiatische Sklavenarbeiter.

 

In naher Zukunft werden diese dann durch Maschinen ersetzt. Dieses Modell funktioniert so gut, dass alle Ansätze, die Bevölkerung wieder in den Arbeitsprozess zu integrieren (Stichwort Saudisierung), scheitern. Gleichzeitig gruppieren sich erfolgreiche arabische Start-ups als innovative Zentren in arabischen Metropolen wie Alexandria, Amman, Dubai, Tunis oder Beirut. Sie suchen enge Verbindungen mit westlichen Innovationszentren und haben sowohl von der Arbeitsweise als auch vom Arbeitsethos her dann mehr mit diesen gemein als mit ihrem arabischen Hinterland.

 

Den einzelnen arabischen Staaten und ökonomischen Akteuren bleibt nun nicht sehr viel Zeit, um eigene Strategien zu entwickeln. Insbesondere, wenn sie sich nicht nur anpassen, sondern die digitale Zukunft auch aktiv gestalten wollen.

 

Virtuelle Organisationsformen à la Alibaba und Amazon bedingen ja eine globale monopolitische Strategie: Der Kunde soll die Plattform nicht mehr verlassen müssen und nur diejenigen Plattformen werden überleben, die möglichst umfassend sind, Daten ihrer Kunden sammeln und dann mittels Maschinellem Lernen verwerten.

 

Für die Akteure in der arabischen Welt stellt sich also die Frage, ob sie nur Zulieferer derartiger Plattformen sein werden – und damit keinen oder limitierten Zugang zu Daten haben – oder ob sie auch eigene Plattformen besitzen werden, die regionale, aber vielleicht auch globale Geltung erlangen werden.

 

Erfolgreiche Digital-Strategien werden daher kaum nationaler Natur sein – dazu ist ihr Aufbau zu aufwendig. Sie bedürfen – dies zeigen erste Ideen einer arabischen Modeplattform – einer verstärkten regionalen Kooperation, damit sie gegenüber technologischen Monopolen, wie sie in China und den USA entstehen, eine Chance haben.

 

Rückblende: wirtschaftliches Wachstum durch größere Märkte und Freizügigkeit von Arbeitskräften. In Europa war das im ausgehenden 20. Jahrhundert das große Thema – in der arabischen Welt war eine regionale Integration der Volkswirtschaften stets Zukunftsmusik.

 

Welche Folgen ein Ausbleiben der Integration haben kann, das haben der irakische Ökonom Khair El-Din Haseeb und sein Forschungskreis bereits 1991 in Szenarien dargestellt. Ihre Analysen zeigten für fast alle arabischen Länder ein negatives Wachstumsszenario und schlimmer noch: Das Auseinanderbrechen ganzer Nationen wurde konsequenterweise als unumgänglich angesehen.

 

»Dieses Szenario könnte darin gipfeln, dass der Libanon in vier Kleinststaaten zerfällt, einen maronitischen, einen sunnitischen, einen schiitischen und einen drusischen. Der Irak könnte gespalten werden in einen kurdischen, einen sunnitischen und einen schiitischen Teil.« Auch einen Zerfall Syriens und des Sudan sahen die Wissenschaftler voraus.

 

Die Staaten, die nicht von Teilung betroffen seien, würden sich ebenfalls in einem Zustand extremer Schwäche wiederfinden. Dass die Realität dieses Szenario sogar noch übertroffen hat, mag auch daran liegen, dass die Integration der arabischen Ökonomien noch immer nicht fortschreitet, ja nicht einmal mehr ein wichtiges Thema zu sein scheint.

 

Der Aufsatz der Ökonomen von 1991 blieb in der Öffentlichkeit auch weithin unbeachtet. Im Gegenteil: Die von Bürgerkrieg und Unsicherheit geplagten Länder versuchen, ihre Grenzen nun auch mithilfe moderner Überwachungstechnologie noch unüberwindlicher zu gestalten – und die Frage bleibt, ob die digitale Sphäre diese Restriktionen überwinden und einen arabischen virtuellen Raum erschaffen kann.

 

Die Aussichten sind heute zumindest noch nicht sehr erfolgversprechend und es schmerzt sehr, dies auch in Hinblick auf die unglaublich innovative und kreative Arbeit einzelner arabischer digitaler Akteure sagen zu müssen.

 


Prof. Dr. Dr. Ayad al-Ani forscht am Alexander von Humboldt Institut für Internet und Gesellschaft, lehrt an den Universitäten Basel und Stellenbosch. Im Mittelpunkt seiner Arbeit stehen Veränderungen in Organisationen in Wirtschaft und Politik sowie die zeitgleichen Transformationen in Gesellschaft, Ökonomie und Bildung. Er ist Mitbegründer des »Digital Arabia Network«.

Von: 
Ayad Al-Ani

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