Wie deutsche Unternehmer in der Türkei gelernt haben, flexibel auf Krisen und Herausforderungen zu reagieren.
Kamil Karaca träumt auf Türkisch, rechnet auf Türkisch und isst am liebsten türkisch – doch wenn der Türkei-Chef des Autozulieferers Grammer das Büro betritt, »dann denke und handle ich deutsch«. Der kräftig gewachsene Manager steht in der Montagehalle des Unternehmens in der Nähe der anatolischen Großstadt Bursa. Sein Dialekt verrät, dass er im Südwesten Deutschlands großgeworden ist. »Wenn hier einer glaubt, er könne einen Auftrag verschlampen, dann hat er sich geschnitten«, stellt er klar.
Millionen Türkinnen und Türken sind in den letzten Jahrzehnten zum Arbeiten nach Deutschland gekommen, als Werksarbeiter, Ärztinnen oder Handwerker. Doch die Arbeitsmigration zwischen Deutschland und der Türkei ist keine Einbahnstraße.
Viele ausgebildete Deutschtürken verlassen Deutschland in Richtung Türkei. Ein Trend, den Soziologen und Unternehmer seit Jahren beobachten. Einer Studie des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) aus dem Jahr 2014 zufolge sollen es alleine zwischen 2007 und 2011 rund 200.000 junge Deutsche mit türkischen Wurzeln gewesen sein. Am Bosporus erhoffen sie sich gute Karrierechancen.
7.000 Firmen mit deutscher Beteiligung sind in der Türkei registriert
7.000 Firmen mit deutscher Beteiligung sind außerdem nach Angaben der Deutsch-Türkischen Industrie- und Handelskammer (AHK) in Istanbul in der Türkei registriert, werden geleitet von Managern aus Deutschland. Manche von ihnen haben türkische Wurzeln, ihr statistischer Anteil ist allerdings noch nicht erfasst worden.
Doch viele unterschätzen die großen Unterschiede in der Arbeitskultur. Das zumindest glauben die Herausgeber eines Handbuchs, das anlässlich der Cebit 2011 veröffentlicht wurde, als die Türkei Partnerland der ehemals weltgrößten Industriemesse war.
Darin heißt es unter anderem, dass Türken von deutschen Geschäftspartnern die sprichwörtlich deutsche Pünktlichkeit verlangten, »auch wenn sie selbst kleinen Verzögerungen von fünf bis zehn Minuten mit Gelassenheit begegnen«. Eine einheitliche Verhandlungslinie sei im türkischen Geschäftsleben nicht auszumachen. »Es geht spontan, flexibel und insgesamt emotionaler zu als in Deutschland.« Da mündliche Kommunikation wichtiger ist als schriftliche, werde einem schriftlichen Vertrag nicht so viel Bedeutung beigemessen wie hierzulande.
Der Präsident der lokalen Istanbuler Handelskammer ITO musste den rund 400.000 Unternehmen Mut machen
Generell werde der Erledigung von Aufgaben so viel Zeit gewidmet, wie dafür notwendig ist. Türkische Entscheider stoßen oft später zu einer Verhandlung. »Mobile Erreichbarkeit wird vorausgesetzt – an Werktagen und am Wochenende.«
Markus Slevogt kann das bestätigen. Der Präsident der Deutsch-Türkischen Industrie- und Handelskammer (AHK) lebt seit über 20 Jahren in der Türkei und hat sowohl für deutsche Firmen gearbeitet als auch türkische Firmen beraten. »Meetings in der Türkei dauern immer sehr lange, es nehmen viele Leute teil, aber am Ende kommt wenig rum«, beschwert sich Slevogt. In Deutschland sei das anders: »Wenn zu lange geredet wird oder zu viele am Meeting teilnehmen, dann gibt es sofort Beschwerden.«
Auf der anderen Seite sprühen türkische Manager häufig vor Tatendrang, so wie Sekib Avdagic. Als die Corona-Pandemie im Frühjahr 2020 dazu führte, dass die Wirtschaft nahezu stillstand, legte er einen Gang zu. Der Präsident der lokalen Istanbuler Handelskammer ITO und sozusagen Amtskollege von Slevogt wollte, ja musste den rund 400.000 Unternehmen in seiner Handelskammer Mut machen.
»Wenn wir jetzt durchhalten, dann werden wir Marktanteile erobern«, meinte Avdagic. Auch im Cebit-Knigge heißt es, türkischen Geschäftspartnern sei eine langfristige und stabile Geschäftsbeziehung wichtiger als kurzfristig angelegte Profitchancen. Oder, um es mit den Worten das Istanbuler Industriepräsidenten zu sagen: »Es darf jetzt nicht um Gewinne gehen, sondern darum, wichtiges Geschäft an Land zu holen«.
2016 und 2017, nach Terroranschlägen und dem Putschversuch, war die Nachfrage nach türkischen Produkten und Dienstleistungen eingebrochen
Türken könnten sich deutlich schneller umorientieren, glaubt auch Slevogt. Als die Pandemie ausbrach, versteckten sich die Firmenlenkerinnen und -lenker nicht hinter Lockdown und Corona-Hilfen. Stattdessen gründeten viele angesichts des Zusammenbruchs der Lieferketten insbesondere aus China neue Exportabteilungen in ihren Unternehmen. »Es kamen Anfragen aus Ländern wie Italien, die vorher nie Produkte in der Türkei bestellt hatten«, erzählt Nergis Özcan, die das Türkeigeschäft des deutschen Maschinenbauers Trumpf leitet.
Die türkische Wirtschaft ist Krisen gewohnt, und das überträgt sich in die Firmenkultur. In den Jahren 2016 und 2017, nach Terroranschlägen und dem Putschversuch, war die Nachfrage nach türkischen Produkten und Dienstleistungen eingebrochen. Doch schon ein Jahr später strömten wieder Touristen an die türkischen Strände, und die Produktion lief vielerorts längst auf Hochtouren.
Gedankliche Flexibilität sei ein großer Vorteil in einem Land, das regelmäßig von Krisen und Katastrophen heimgesucht wird, sagt auch AHK-Präsident Slevogt. Die Art, Geschäfte zu machen, sei weniger von »strategischen Langfristplänen« geprägt. Das muss gar nicht schlecht sein, denn: Dafür mangele es den Deutschen an Flexibilität. »Wenn man das eine mit dem anderen paart, hat man ein perfekt aufgestelltes Management.«
Das wäre schön. Oder, auf Türkisch ausgedrückt: İnşallah, übersetzt »So Gott will.« Der Begriff gehört zur türkischen Arbeitskultur wie das »Mahlzeit!« zur deutschen. Gemeint ist mit der Redewendung, die sowohl von Muslimen als auch von arabisch sprechenden Christen und Juden verwendet wird, so etwas wie ein »Hoffentlich«.
Bei den türkischen Mitarbeitern sei das anders, die erreiche er zur Not auch im Urlaub
İnşallah sei Teil der Arbeitskultur, sagt Slevogt. Er sei erst überrascht gewesen. Dann merkte er, dass das eine Floskel war, nach dem Motto: Wenn Gott es will, wird es fertig, wenn nicht, auch nicht schlimm. »Dann habe ich gesagt: Bitte kein İnşallah. Ein Auftrag vom Chef habe mit Gott nichts zu tun, sondern mit Verantwortung. Die waren komplett vor den Kopf gestoßen«, wundert sich Slevogt noch heute. »Da muss man richtig Druck ausüben und ihn auch ernst meinen und Sanktionen androhen.« Die Leute müssten spüren, dass einer rausfliegt, wenn es nicht läuft.
Der Cebit-Knigge kennt zwar kein İnşallah, dafür aber die türkische Küche. »Geschäfte werden beim Essen gemacht, nicht im Büro«, heißt es. Zu den anderen Gepflogenheiten im türkischen Geschäftsleben gehören hingegen Themen, die besser nicht diskutiert werden. Hasan Aydemir*, Jungmanager beim türkischen Ableger von Vodafone, beschreibt, welchen Regeln er bei seinem Arbeitgeber folgen muss. »Meine Vorgesetzten haben mir gleich am ersten Tag klargemacht, worüber ich mich niemals mit Gesprächspartnern unterhalten darf: Politik, Religion oder Fußball.«
Grammer-Manager Kamil Karaca will es nicht so orthodox halten. Er beobachtet ebenfalls, dass sich viele seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter schwer damit tun, Fristen einzuhalten. Das liege auch oft daran, dass viele Vorgesetzte Termine setzen, die keinen Sinn ergäben. »Da geht es nur darum, Druck auszuüben«, meint Karaca. »Da habe ich sofort interveniert und gesagt, dass man über ein Problem ruhig auch mal eine Nacht schlafen kann.«
Doch auch Karaca hat sich an die Arbeitskultur in der Türkei angepasst – und beschwert sich nun, wenn deutsche Kollegen im Urlaub nicht erreichbar sind. »Ich erwarte doch nicht, dass sie den Laptop am Strand aufklappen, aber ein kleines Telefonat ist nicht zu viel verlangt«, glaubt er. Bei den türkischen Mitarbeitern sei das anders, die erreiche er zur Not auch im Urlaub. »Das mag ich an der türkischen Arbeitskultur.«
*Name geändert