Was Algerien zu Europas Versorgung beitragen kann. Und was nicht.
Algerien hat im russisch-ukrainischen Konflikt – als solchen sieht ihn die algerische Regierung – seine block- und bündnisfreie Haltung demonstriert. Die leitet sich aus der außenpolitischen Doktrin des Landes ab und gilt seit der Unabhängigkeit von Frankreich als unverrückbar. Algerien beharrt auf Dialog und Diplomatie bei der Lösung von Konflikten und möchte freundschaftliche Beziehungen zwischen den Staaten fördern und entwickeln.
Angesichts der Versuche Europas, sich aus der Abhängigkeit von russischem Gas zu befreien, ruhen große Erwartungen auf dem Erdgas-Exporteur. Algerien will aber souverän entscheiden und orientiert sich vor allem an den eigenen Reserven. Der Vorstandsvorsitzende der staatlichen Ölgesellschaft Sonatrach, Toufik Hakkar, erklärte Anfang März, die Lieferung von Erdgas beziehungsweise Flüssiggas (LNG) nach Europa hänge von der Verfügbarkeit ab, zuerst müsse aber der wachsende inländische Bedarf gedeckt werden sowie die bestehenden vertraglichen Verpflichtungen gegenüber ausländischen Kunden. Man räumt Anfragen aus Europa also vorerst keine Priorität ein.
Würde Algerien sein Verhältnis zu Moskau belasten, wenn es zusätzliche Kapazitäten für den europäischen Markt zur Verfügung stellte, um den Ausfall russischer Lieferungen zu kompensieren? Der russische Botschafter in Algier, Igor Beliaev, versucht derlei Befürchtungen in einem Interview mit der Zeitung L'Expression am 7. März zu zerstreuen und spricht in diesem Kontext von einer »rein kommerziellen Frage«.
Die Pipeline Medgaz verfügt über eine Kapazität von zehn Milliarden Kubikmetern und verbindet den Hafen Beni Saf an der Westküste Algeriens mit dem spanischen Almería
Energieexperten schätzen, dass Algerien angesichts seiner Reserven und inländischen Verbrauchslage zusätzlich zwei bis drei Milliarden Kubikmeter Gas im Jahr auf den internationalen Markt bringen kann. Allein Deutschland verbraucht aber jährlich um die 80 Milliarden Kubikmeter. Algerien könnte Russland seine Position als führender Gaslieferant der EU so also nicht streitig machen. Dies, so schob Beliaev noch nach, sei auch gar nicht notwendig: Eine Verringerung oder gar Einstellung russischer Gaslieferungen nach Europa stehe »derzeit nicht auf der Tagesordnung«.
Zur Erinnerung: 2021 machten russische Erdgasimporte in die EU etwa 50 Prozent und die Ölimporte rund 25 Prozent der Gesamtimporte aus. Hinzu kamen rund 40 Prozent der importierten Festbrennstoffe, hauptsächlich Kohle. Angesichts der latenten Bedrohung durch eine Energiekrise muss Europa sichere Alternativen finden. Verhandelt wird mit Norwegen, den Niederlanden und den USA. Besonders Spanien, Italien und Frankreich schauen aber auch erwartungsvoll nach Algerien.
Das wichtigste Ziel für algerisches Gas ist der europäische Markt bereits heute. Hauptsächlich Italien (35 Prozent), Spanien (31 Prozent) und Frankreich (7,8 Prozent) beziehen von dort, wobei der Anteil von LNG 33 Prozent der Exporte ausmacht. Der Gastransport in die EU erfolgt vor allem über Pipelines – zunächst die Transmed, deren Ankerpunkt Italien ist, mit einer theoretischen Kapazität von 33,5 Milliarden Kubikmetern pro Jahr. Sie verläuft durch Tunesien und exportierte 2021 22 Milliarden Kubikmeter Gas. Vorbehaltlich adäquater Investitionen in die Produktion sind die Lieferungen steigerungsfähig. Die Pipeline Medgaz verfügt über eine Kapazität von zehn Milliarden Kubikmetern und verbindet den Hafen Beni Saf an der Westküste Algeriens mit dem spanischen Almería.
Die Zukunft der durch Marokko nach Spanien laufenden Pipeline GME mit einer Kapazität von 13,5 Milliarden Kubikmetern ist derzeit hingegen unsicher: Der Vertrag läuft am 31. Oktober 2022 aus. Aufgrund des Abbruchs der diplomatischen Beziehungen zwischen Marokko und Algerien 2021 hat Algier beschlossen, den Vertrag über den Betrieb der GME nicht zu verlängern.
Das Unternehmen Sonatrach hätte mit etlichen weiteren Herausforderungen zu kämpfen, um den zusätzlichen Bedarf Europas zu bedienen. Dazu gehören mittel- und langfristige Gasverträge, deren Revision viel Zeit für Verhandlungen erfordert. Auch eine Gesetzänderung, die ausländische Direktinvestitionen in den Sektor ermöglichen und die Produktion voranbringen würde, steht aus. Schließlich ist da der hohe Inlandsverbrauch, der die Exporte bis 2030 übersteigen könnte: Hier müsste Algerien seine Subventionspolitik überholen und den informellen Wirtschaftssektor besser kontrollieren. Es scheint unwahrscheinlich, dass Algerien der Retter sein kann, der Europa aus der Abhängigkeit von russischem Erdgas befreit.