Lesezeit: 10 Minuten
Proteste im Irak

»Jetzt sind die Ölkonzerne gefragt«

Analyse
Presseschau

Die Proteste im Irak weiten sich aus. Im ganzen Land gehen die Menschen für eine stabile Strom- und Wasserversorgung, Arbeitsplätze und ein Ende der Korruption auf die Straße. Stimmen aus irakischen und internationalen Medien in unserer Presseschau.

Die Proteste, die in der südirakischen Stadt Basra Anfang Juli ausbrachen, kosteten bisher sieben Menschen das Leben, hinzu kommen zahlreiche Verletzte und hunderte Festnahmen. Die Demonstranten stürmten Regierungsgebäude und blockierten Zugänge zu Ölfeldern. Bagdad stellte zeitweilig das Internet im Südirak und in der Hauptstadt ab und verhängte einen landesweiten Notstand.

 

Die Demonstranten fordern entschiedenes Vorgehen gegen Korruption, eine gesicherte Wasser- und Stromversorgung, sowie Maßnahmen gegen die Arbeitslosigkeit. Während die Einnahmen aus dem Ölsektor 89 Prozent des irakischen Haushaltes ausmachen, findet dort nur ein Prozent der Bevölkerung Beschäftigung. Selbst offizielle Statistiken sehen die Jungendarbeitslosigkeit bei über 20 Prozent. Nach den Parlamentswahlen am 12. Mai dieses Jahres und der kürzlich angeordneten Neuauszählung der Stimmen, befindet sich der Irak noch immer im Prozess der Regierungsbildung.

 

Kurdistan 24

Paul Davis, pensionierter US-Sicherheitsoffizier und früherer Geheimdienstberater, sieht in seinem Gastbeitrag für das kurdischen Nachrichtenportal Kurdistan24 den Irak »in einer Abwärtsspirale.« Davis glaubt: Die Proteste zeigen, dass die Elite die Kontrolle über das Land und das Vertrauen der Bevölkerung verloren habe. »Die Zukunft des Iraks scheint düster«, glaubt er. Die Iraker und die Welt sollten sich auf den »unaufhaltbaren Zerfall des Nationalstaates einstellen«. Ein Szenario, das laut Davis nach einem Scheitern der Regierungsbildung eintreten könnte – oder auch erst in ein paar Jahren. Mit allen Mitteln müsse verhindert werden, dass der IS sein Kalifat wiedererrichten könne. In seinem momentanen Zustand werde es dem Irak nicht noch einmal gelingen, die Dschihadisten zu besiegen, glaubt Davis.

Hier geht es zum Artikel.

 

Baghdad News

Ali Al-Kash, von der irakischen Zeitung Baghdad News schreibt, dass die Menschen in Zentral- und Südirak gegen genau jene schiitischen Parteien demonstrieren würden, denen sie vor kurzem noch ihre Stimme bei den Wahlen gegeben hätten. Al-Kash schlussfolgert: Stünde es besser um die klimatischen Bedingungen und wäre die Wasserversorgung gesichert, hätte es keine Aufstände in diesen Provinzen gegeben. Den Menschen ginge es um Wasser, Strom und Jobs – nicht um Korruption oder Wahlbetrug, behauptet Al-Kash. Von einer »Revolution« zu sprechen, sei aber eine Übertreibung und falsch – schließlich sei nicht das ganze Land auf den Beinen, sondern nur einzelne Regionen.

Hier geht es zum Artikel.

 

Arab News

Abdul-Aziz Aluwaisheg, Bevollmächtigter für Strategischen Dialog im Golfkooperationsrat, sieht in seinem Gastkommentar für die englischsprachige saudische Tageszeitung Arab News iranische Interessen am Werk. Denn erst nachdem aus den Wahlen im Irak ein Regierungsbündnis hervorgegangen war, das Teherans Ambitionen im Weg steht, wären die Unruhen im Süden des Landes ausgebrochen. Als weiteren Beleg sieht er die Anwendung von Gewalt und die Angriffe auf den Flughafen sowie Parteizentralen in Basra. Für Aluwaisheg besteht kein Zweifel: Der IS und Iran gleichermaßen stiften Unruhe und haben ein Interesse an der Destabilisierung des Irak. »Die Kontrolle über den Irak zu behalten ist sicherlich Teherans erste Option, die zweitbeste Option wäre aber, das Land unregierbar zu machen,« so Aluwaisheg.

 

Denn ein »unabhängiger Irak würde sich in Richtung seiner arabischen Nachbarn und gen Westen orientieren. Chaos im Irak hingegen würde das Land in Abhängigkeit als iranischer Vasall halten.« Die US-Sanktionen und die Positionen der Staaten in der Region sind die größte Sorge, die Teheran umtreibt, so Aluwaisheg. Aus diesem Grund versuche Iran, die Stromversorgung zu unterbrechen, um Druck auf die Regierung in Bagdad auszuüben. »Irak sollte nicht auf den Status des Bauernopfers in der Konfrontation mit den USA reduziert werden.«

 

Aluwaisheg stellt zudem einen Bezug zum Vorfeld des Zwieten Golfkriegs her. Er warnt vor Ressentiments gegen Saudi-Arabien und Kuwait, die sich im Zuge der Proteste wieder Bahn gebrochen hätten. »Es dürfen nicht dieselben Fehler wie 1990 begangen werden.« Ein Appell, der sich vor allem an den Nachbarn im Süden richtet. Schließlich, so Aluwaisheg, hätten die Sicherheitsdienste in dem Emirat die Warnsignale damals überhört, sodass Saddam Hussein den Volkszorn als Grundlage für den Einmarsch in Kuwait nutzbar machen konnte.

Hier geht es zum Artikel.

 

Asharq Al-Awsat

Das Chaos in Basra bedrohe nicht nur die gesamte Region, sondern spiegle die Schwäche des »kranken« irakischen Regierungssystems wider, meint Abdul Rahman Al-Rashed in der Tageszeitung Asharq Al-Awsat. Der frühere Chefredakteur des saudisch finanzierten Blattes mit Sitz in London beschuldigt Iran, den Aufbau eines unabhängigen irakischen Staates zu verhindern sowie die Macht der Behörden in Bagdad »zu lähmen«. Die größte Herausforderung für den Irak bestünde nun darin, der Bevölkerung nicht nur eine gesicherte Wasser- und Stromversorgung zu gewährleisten und die Arbeitslosenzahlen zu senken, sondern die »Interventionen seitens Iran mitsamt seiner Milizen zu stoppen«. Ob er dabei eine militärische Reaktion gegen schiitische Milizen im Südirak im Sinn hat, führt Al-Rashed nicht weiter aus.

Hier geht es zum Artikel.

 

Middle East Eye

Ibrahim al-Marashi, Dozent für die Geschichte des Nahen Ostens an der California State University San Marcos, betrachtet in seinem Beitrag auf dem Nachrichtenportal Middle East Eye die historische Dimension der Proteste. Die Geschichte Basras – der Ort, an dem sich die derzeitigen Proteste entzündeten – sei gezeichnet von Zerstörung, Vernachlässigung, Sanktionen und Milizenkämpfen. Obwohl die Stadt während der US-Invasion relativ unversehrt geblieben war, sei sie in den darauffolgenden Jahren Schauplatz heftiger Gefechte zwischen schiitischen Milizen und den irakischen und US-amerikanischen Truppen gewesen. Die Kämpfe ebbten ab, die Unzufriedenheit blieb: Bereits 2015 gingen die Einwohner Basras mit den gleichen Forderungen wie heute auf die Straße. Der Unterschied: Damals hatte das Land zumindest formell eine Regierung, die auf die Forderungen eingehen konnte.

 

Al-Marashi sieht die Proteste als Teil des Konfliktes zwischen Bagdad und der irakischen Peripherie, zwischen der Regierung, Ölkonzernen und der Bevölkerung. Für Premierminister Haider al-Abadi bedeuten die Unruhen eine weitere Bewährungsprobe. Doch er sieht auch Grund für Optimismus: Die Krise, so hofft Marashi, könnte den den Prozess der Regierungsbildung beschleunigen. Dennoch hält Marashi den Handlungsspielraum der Politik für begrenzt. Dass Abadi sich mit Demonstranten trifft und den südirakischen Regionen Investitionen zusichert, sei gut und schön. Doch die unklaren Zukunftsaussichten für Abadi im Amt erschwerten die Suche nach einer Lösung. Jetzt seien vielmehr die Ölkonzerne gefragt.

Hier geht es zum Artikel.

Von: 
zenith-Redaktion

Banner ausblenden

Die neue zenith 02/2022 ist da: Reise zum Mittelpunkt der Erde

Reise zum Mittelpunkt der Erde

Die neue zenith ist da: mit einem großen Dossier zur Region Persischer Golf und überraschenden Entdeckungen. Von Archäologe über Weltpolitik und Wattenmeer zu E-Sports und großem Kino.

Banner ausblenden

Newsletter 2

Der heiße Draht

Frische Analysen, neue Podcast-Folgen, exklusive Einladungen zu Hintergrundgesprächen und Werkstattberichte: Jeden Donnerstag erhalten tausende Abonnenten den zenith-Newsletter. Sie  wollen auch auf dem Laufenden bleiben? Dann melden Sie sich hier kostenlos an.

Banner ausblenden

WM Katar

So eine WM gab es noch nie

Auf 152 Seiten knöpfen sich Robert Chatterjee und Leo Wigger alle wichtigen Fragen rund um die erste Fußball-WM in einem arabischen Land vor.