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Presseschau zu den Wahlen in der Türkei

»Im Nahen Osten endet jede Tyrannei tragisch«

Analyse
Presseschau

Die Bürgermeisterwahl in Istanbul soll am 23. Juni wiederholt werden. Journalisten aus Syrien, Ägypten und Saudi-Arabien kritisieren Erdoğan dafür – und entdecken eine unerwartete Liebe zur Demokratie. 

Al-Thawra 

Die syrische Zeitung Al-Thawra wird von der Baath-Partei betrieben und ist Sprachrohr des Assad-Regimes. Trotz der sich abzeichnenden Wiederannäherung mit Ankara sitzt der Ärger über die jahrelange Unterstützung der Türkei für verschiedene syrische Rebellengruppen dort tief. Zugleich wähnt sich das Regime wieder fest im Sattel – und teilt genüsslich gegen seine Rivalen aus. Dennoch braucht es schon viel Chuzpe, um den Nachbarn für die Missachtung demokratischer Prinzipien zu rügen. 

 

Für die Zeitung ist Erdoğan ein Diktator, weil der nach seiner Niederlage die Wahlen für intransparent erklärt hatte. Der Präsident habe mit seiner Behauptung, Neuwahlen seien der »beste Schritt« für die Türkei, das Ansehen seiner vermeintlich »demokratischen Regierung« zerstört. Der Artikel beklagt außerdem die negativen Folgen der nachträglichen Annullierung der Bürgermeisterwahlen in Istanbul, etwa den Kursverlust der türkischen Lira. Die Sorge vieler Anleger sei politische Instabilität – eine Folge der schwachen demokratischen Institutionen der Türkei. 

 

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Youm7 

Ähnlich argumentiert Karim Abdel Salam in der ägyptischen Tageszeitung Youm7. Der »osmanische Diktator« würde nicht aufhören, bis alle Macht im Land allein in seinen Händen liegt. In seinem Machthunger sei er vergleichbar mit der Muslimbruderschaft. Salam warnt, die AKP sei bereit alle Straftaten – »von Diebstahl bis zu Fälschungen« – zu begehen, um Gegenspieler zu inhaftieren. Weiter argumentiert Salam, Erdoğan habe den rechtmäßigen Wahlsiegern der Republikanischen Volkspartei keine Chance gegeben, eine Regierung zu formen. Außerdem könne auch eine Wiederholung der Wahlen dem türkischen Präsidenten keinen vollständigen Sieg garantieren, schließlich habe die Opposition nicht nur in Istanbul mehr Stimmen erzielt, sondern auch in Ankara und weiteren großen Städten. Erdoğan sei ein »tyrannischer Herrscher, der die türkischen Bürger nicht respektiert«. Deren Ablehnung sei durch die Massenproteste in den Tagen nach der Ankündigung der Wiederwahlen spürbar gewesen. 

 

Angesichts massiver Repressionen im Vorfeld des Verfassungsreferendums, das Ägyptens Präsident Abdulfattah Al-Sisi vollumfängliche Machtfülle de facto auf Lebenszeit bescherte, sind das bemerkenswerte Aussagen. Ebenso wie im Fall des Presseechos aus Syrien sollte man meinen, dass solch eine Bewertung ägyptischen Medien auf die Füße fallen müsste. Doch möglicherweise findet die gegängelte Presse am Nil in der Erdoğan-Kritik eine Chiffre, um die Verhältnisse im eigenen Land anzuprangern. 

 

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Al-Jazeera 

Der katarische Sender Al-Jazeera hält sich mit offener Kritik an Erdoğan zurück – auch wenn das sichtlich schwer fällt. Die Türkei gehört zu den wenigen regionalen Verbündeten des Emirats. Der autoritäre Führungsstil Erdoğans läuft aber dem Ziel zuwider, die eigene Allianz als Gegenmodell zu der der demokratiefeindlichen Golfmonarchien Saudi-Arabien und VAE zu präsentieren. Bakr Al-Badour beschreibt unter dem Titel »Was ich tun würde, wenn ich Präsident Tayyip Erdoğan wäre« seine Sicht der Dinge in Form einer Art Anleitung, die dem türkischen Staatsoberhaupt zu dessen »eigenem Vorteil» gereichen würde. Al-Badour würde als Präsident erstens die Wahlen anerkennen – trotz möglicher Rechtsverletzungen in der Durchführung. Der Grund: Das Ergebnis einer Wahl zu hinterfragen sei auch immer eine Infragestellung der unabhängigen Wahlkommission. Zweitens würde er zunächst die »internen Probleme« lösen und innerhalb seiner Partei die Wogen glätten. Drittens würde er einen öffentlichen Dialog zwischen allen gesellschaftlichen Gruppen ermöglichen. Thema eines solchen Austausches müsse sein: Die aktuelle Sicherheitssituation, die Putsch-Versuche und weitere dringende innenpolitische Probleme. 

 

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Sabq 

Majid Al-Breikan geht in seinem Kommentar für die saudische Zeitung Sabq so weit, einen »Türkischen Frühling« zu prophezeien. Erdoğan sei ein »neues und seltsames Model eines Diktators« in einer Welt, die keinen Platz mehr für Diktaturen habe. Dennoch nennt er zwei Faktoren, die das Verhalten Erdoğans »entschuldigen« könnten. Erstens sein exzessiver Nazismus und die Tatsache, dass er nicht viel mehr als sich selbst sehe. Und zweitens der Umstand, dass er niemanden an seiner Seite habe, der ihm sagen könnte, dass er ein Diktator und Unterdrücker ist. »Im Nahen Osten endet jede Tyrannei tragisch«, schließt Al-Breikan. Auf Sabq publizieren mehrheitlich Autoren, die die Regierungslinie teilen und den saudischen Kronprinzen Muhammad Bin Salman (MBS) gegen jede Kritik in Schutz nehmen. Umso erstaunlicher erscheint in diesem Zusammenhang der explizite Verweis auf das Umfeld des türkischen Staatschefs als Korrektiv. Versteckt sich in dem Anti-Erdoğan-Stück eine Kritik am Umbau der saudischen Führung? 

 

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Al-Araby 

Wael Kandil argumentiert in der ebenfalls saudischen Zeitung Al-Araby in eine andere Richtung. Kandil behauptet, der Erfolg von Erdoğans AKP gründe auf zwei Säulen: Erstens habe er das Talent, die Bürger und andere politische Parteien davon zu überzeugen, dass das Land von einer demokratischen Regierung geführt wird, die in freien und fairen Wahlen an die Macht gekommen ist. Zweitens sei es Erdoğan gelungen, nach außen hin das Bild der Türkei als ein säkulares Land aufrechtzuerhalten. Das Talent, den Schein einer Demokratie zu bewahren, scheint für die Saudis Merkmal eines erfolgreichen Staatsoberhauptes zu sein. Kandil argumentiert weiter: Selbst, wenn bei den kommenden Neuwahlen die Oppositionsparteien ein weiteres Mal vorne lägen, könnte die AKP das Ergebnis als Erfolg verbuchen: als Beweis für eine funktionierende Demokratie in der Türkei. 

 

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Von: 
Elisabed Abralava und Luisa Seutter

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