Nach dem Sturz der IS-Herrschaft funktionierte Manbidsch. Aber die Stadt ist Spielball von Interessen. Steht das Experiment der Selbstverwaltung vor dem Aus? Eine fotografische Erkundung in einer Gemeinde, die sich gerade selbst gefunden hatte.
Von Osten kommend, in die Provinz Aleppo eintauchend, die Ebene durchquerend, die dem Euphrat ein so atemberaubend schönes Bett bietet, staut sich hier das Wasser zu einem See, auf dem Tausende Blässhühner auf Wellen wippen und Fischverkäufer ihren Fang anbieten. Es ist ein nahezu paradiesisches Panorama, das dazu einlädt, mit einem Segelboot zu einer der kleinen Inseln auf dem Euphrat überzusetzen, ein Feuer zu entfachen und sein Lager aufzuschlagen.
Ist die Brücke über den Euphrat passiert, führt eine kurvige Straße durch eine Hügelkette, gefolgt von einer Landschaft aus bestellten Feldern. Mitten in dieser friedlich anmutenden Oase liegt Manbidsch. In den quirligen Straßen der Stadt wimmelt es von Händlern, Straßenständen, Geschäften, Werkstätten und Restaurants. Es scheint, als sei die Stadt aus einem Dornröschenschlaf erwacht und wolle etwas nachholen: Zweieinhalb Jahre lang hatte Manbidsch unter der Herrschaft des »Islamischen Staates« (IS) gestanden.
Die etwa 300.000 Einwohner bilden eine multikulturelle und -ethnische Gemeinschaft: in der Mehrzahl sunnitische Araber, gefolgt von Kurden, Tscherkessen und Tschetschenen, die hier seit Generationen zusammenleben und seit 2012 drei Systemwechsel miterlebten: Erst hatten lokale Rebellen der »Freien Syrischen Armee« das Assad-Regime entmachtet, dann machte sich der IS breit, der schließlich vom Bündnis der »Demokratischen Kräfte Syriens« (SDF) vertrieben wurde. Und der nächste Machtwechsel steht vor der Tür.
Mit US-amerikanischer Unterstützung hatte das kurdisch dominierte SDF-Bündnis im August 2016 den IS in die Flucht gezwungen. Ein Deal zwischen dem damaligen US-Vizepräsidenten Joe Biden und der Türkei hatte festgelegt, dass Manbidsch nach seiner Befreiung nicht von den Kurden kontrolliert werden dürfe. Somit übernahm der »Militärrat Manbidsch« (MMC), bestehend aus etwa 5.000 Kämpfern verschiedener Ethnien, die Kontrolle über die Stadt und Umgebung. Mittlerweile wirft der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan den damals involvierten kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) vor, einfach ihre Uniformen gewechselt zu haben und unter dem Banner des MMC die Macht in Manbidsch an sichgerissen zu haben.
Mit der Realität vor Ort hat das wenig gemein. YPG-Kämpferinnen und -kämpfer sind in Manbidsch stationiert, doch die meisten Milizionäre sind Araber, die gemeinsam mit den Kurden unter dem Kommando des MMC stehen. Die tagtägliche Arbeit im Stadtrat, im gesetzgebenden Rat und im Hauptquartier des MMC macht deutlich, dass sich die Einwohner von Manbidsch längst selbst verwalten – und sich gegenüber dem SDF-Bündnis emanzipieren konnten. Die türkische Syrien-Strategie hat für diese Dynamik der Lokalautonomie keinen Platz.
Erdoğan wähnt das Momentum auf seiner Seite und will an der türkischen Südgrenze Fakten schaffen – und setzt neben seinen regulären Streitkräften auch auf das dschihadistische Substrat der früheren FSA. In einem Angriffskrieg hat das NATO-Mitglied Türkei im März dieses Jahres die kurdisch dominierte Enklave Afrin erobert. Nun richtet Ankara den Blick auf Manbidsch, 150 Kilometer weiter östlich. Noch versuchen die USA, die türkische »Operation Olivenzweig« in Grenzen zu halten und die SDF, ihren Partner im Kampf gegen den IS, nicht im Stich zu lassen. Washington ist in der Region mit mobilen Einheiten und ausgebauten Basen präsent. Die Amerikaner haben deutlich gemacht, dass sie bleiben werden.
Und Erdoğan hat ebenso deutlich zu verstehen gegeben, dass er auch dann angreifen würde, wenn die US-Einheiten blieben. Nun stellt sich die Frage, ob die damalige Allianz zwischen den USA und dem heutigen MMC auch noch ohne den gemeinsamen Feind, den IS, Bestand hat. Davon hängt das Überleben der Lokalautonomie von Manbidsch ab.
Für Erdoğan bedeutet die angekündigte Offensive auf Manbidsch nur einen Zwischenschritt: Die türkische Regierung plant angeblich, die gesamte, fast 800 Kilometer lange Grenze zwischen der Türkei und Syrien zu überschreiten und auf syrischen Boden einen »Schutzkorridor« einzurichten. Einmal, um das Einsickern von »Terroristen« – gemeint sind die kurdischen YPG-Einheiten – zu verhindern, und zweitens, um einen demografischen Wandel im türkischen Sinne zu erzwingen. Die hier ansässigen Kurden sollen vertrieben werden, um geflüchtete Turkmenen und arabische Syrer, die in der Türkei Zuflucht gefunden haben, in diesem Gebiet neu anzusiedeln.
In den syrischen Orten Dscharabulus, Azaz, Al-Bab und Al-Rai wird bereits deutlich, wie das Leben unter türkischer Herrschaft aussieht: Die Sicherheitskräfte, »Freie Polizei« genannt, werden von der Türkei gestellt, ebenso wie ein Teil der Lehrkräfte, die nach einem Lehrplan unterrichten, den Ankara vorgibt.