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Wahl zum Schura-Rat in Katar und die Frage der Demokratisierung am Golf

Zehn-Prozent-Hürde

Analyse
von Anna Sunik
Die Skyline von Doha
Die Skyline von Doha. Foto: Florian Guckelsberger

17 Jahre später als geplant hat Katar seinen Schura-Rat wählen lassen. Ist der Urnengang auch ein Seitenhieb auf die Nachbarn?

Am 2. Oktober 2021 haben in Katar zum ersten Mal die langerwarteten Wahlen zur beratenden Nationalversammlung (Madschlis al-Schura) stattgefunden. Seit Bestehen des Schura-Rats sind alle 45 Mitglieder vom Emir ernannt worden, die Verfassung von 2003 sieht aber die Wahl von zwei Dritteln der Mitglieder vor. Bei den 30 gewählten Kandidaten gab es keine großen Überraschungen. Viele übten bereits in der Vergangenheit wichtige politische Ämter aus oder waren wichtige Akteure der Wirtschaftssphäre. Obwohl elf Prozent der 233 finalen Kandidaten weiblich waren, wurde keine Frau in den Rat gewählt.

 

Im Vorfeld sorgte die Frage der Wahlberechtigung für Zündstoff. Nur erwachsene Nachkommen von Kataris, die 1930 im heutigen Katar lebten und seitdem nicht weggezogen sind, dürfen wählen – also etwa zehn Prozent der Gesamtbevölkerung von fast drei Millionen. Durch diese Einschränkung im Wahlrecht waren nicht nur die ausländischen Arbeiter ausgeschlossen, sondern auch Angehörige des nomadischen al-Murra-Stammes. Deren Beziehung zum katarischen Staat ist historisch angespannt und häufig Gegenstand des Regionalkonflikts zwischen Katar und Saudi-Arabien. Das führte im Vorfeld zu einigen Demonstrationen, für Katar ein außergewöhnliches Ereignis. Die Spannungen konnten größtenteils beigelegt werden. Unter den gewählten Ratsmitgliedern ist mit Ali bin Fetais Al-Marri nun auch ein Stammesmitglied vertreten.

 

Dass dieser Meilenstein in der Geschichte des Golfmonarchie tatsächlich stattfindet, erschien lange Zeit alles andere als selbstverständlich: Die Wahlen zum Schura-Rat sollten schon 2004 durchgeführt werden, wurden aber immer wieder verschoben. Die Wahlbeteiligung von 63.5 Prozent – deutlich höher als die zehn Prozent bei den letzten Kommunalwahlen – ist ein Hinweis darauf, dass die Bevölkerung durchaus Erwartungen an das Gremium hat.

 

Stamm statt Partei

 

Gleichzeitig sollte die Bedeutung der Wahlen nicht überbetont werden: Katar wird keinesfalls zur Demokratie. So wird ein Drittel des Rats weiterhin von Emir Tamim Al Thani ernannt und damit von ihm politisch abhängig bleiben. Die Machtfülle des Gremiums ist ebenfalls begrenzt: Auch wenn ihm die Verfassung parlamentarische Kernkompetenzen einräumt, wie eine – stark eingeschränkte – Mitsprache beim Staatshaushalt sowie die Möglichkeit, Gesetze vorzuschlagen, ist bei allen relevanten Fragen eine Zweidrittelmehrheit Voraussetzung – eine sehr hohe Hürde. Auch die Regierung versucht sich in Erwartungsmanagement: So sagte Vizepremier- und Außenminister Mohammed bin Abdulrahman Al Thani, dass man nicht erwarten könne, dass das Gremium vom ersten Jahr an die »volle Rolle eines Parlaments« einnehmen könne.

 

Hinzu kommt das begrenzte Interesse von Kataris an einer Demokratisierung im westlichen Sinne: So gaben 2019 in einer Umfrage des katarischen Umfrageinstituts SESRI nur zehn Prozent der Befragten an, einen gewählten Rat einem aus ernannten Repräsentanten bestehenden vorzuziehen. Andere Studien legen nahe, dass für Kataris zwar Rechenschaftspflicht eine wichtige Rolle spielt, die Mehrheit dazu aber keinen Widerspruch in einer nicht-gewählten politischen Führungsschicht sieht. Wie in anderen arabischen Ländern wie Jordanien, die zwar Wahlen, aber keine Parteien zulassen, beobachtet man Stimmabgaben auf Grundlage von tribaler Loyalität statt der Ausrichtung auf eine Programmatik. Dies wurde zusätzlich dadurch verstärkt, dass die Wahlbezirke nach Herkunfts- anstatt Wohnort festgelegt wurden.

 

Obwohl die Wahlen auch international größtenteils begrüßt wurden, ist ein Richtungswechsel unwahrscheinlich. Kernbereiche wie Außen- und Investitionspolitik bleiben dem Emir vorbehalten, die politische Klasse behält ihre Rechte und Privilegien. Die katarische Bürgerschaft ist sehr homogen und wurde durch die Blockade-Krise noch weiter zusammengeschweißt. Eine Gefahr oder auch nur Konkurrenz für die Monarchie ist dadurch, wie schon zur Hochzeit des Arabischen Frühlings 2011, nicht gegeben. Auch für sonstige gesellschaftliche Entwicklungen wird sich wohl nicht viel verändern. Obwohl keine Frauen in die Schura gewählt wurden, erwarten viele Beobachter, dass der Emir dafür Frauen in die übrigen 15 Positionen ernennt. Dennoch ist es eine kleine, aber wichtige Reform, die, wie die Wahlbeteiligung gezeigt hat, auf deutliches Interesse der katarischen Bevölkerung stößt.

 

Obwohl der Konflikt zwischen Katar und seinen Nachbarn Saudi-Arabien, den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) und Bahrain Anfang 2021 offiziell beigelegt wurde, schwelt er auf kleiner Flamme weiter. Die Regionalpolitik spielt wohl auch bei der Entscheidung zur Durchführung der Wahlen eine Rolle – obwohl die meisten GCC-Staaten über eine Art Parlament verfügen, ist deren Machtfülle und Repräsentativität (mit Ausnahme von Kuwait) noch begrenzter als im künftigen katarischen Schura-Rat. Letztlich sind die Wahlen aber auch ein Signal an die Nachbarn, lässt doch Katars Reformprozess seine Hauptrivalen Saudi-Arabien und teils auch die VAE rückständiger wirken.

 

Dr. Anna Sunik ist Politik- und Islamwissenschaftlerin und beschäftigt sich unter anderem mit nahöstlichen Autokratien. 2020 erschien zum Thema ihr Buch »Middle Eastern Monarchies. Ingroup Identity and Foreign Policy Making«.

Von: 
Anna Sunik

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