Wenn türkische Wissenschaftler die Kurdenpolitik der Regierung kritisieren, droht ihnen Haft und das Ende der Karriere. Steht der Türkei ein Exodus der Intellektuellen bevor?
Aslı Vatansever gibt sich kämpferisch: »Bei mir siegt der Wille zur Konfrontation über das Bedürfnis zur Flucht«, sagt die Soziologin, die bis vor Kurzem an einer privaten Universität in der Türkei gelehrt hat. Wie 1.127 andere Akademiker hat sie eine Petition unterschrieben, in der ein Ende der militärischen Operationen und Ausgangssperren in den Kurdengebieten und eine Wiederaufnahme der Friedensgespräche gefordert werden. Was für die Soziologin folgte, gleicht dem, was derzeit viele türkische Wissenschaftler durchleben. Gegen sie wurden drei Disziplinarverfahren angestrebt, und sie stellt sich die Frage, ob die Türkei noch ihre akademische Heimat sein kann. Noch heißt ihre Antwort Ja – »noch wehre ich mich gegen notgedrungene Lebenswege, die ich nicht gewählt habe«.
Die im Januar veröffentlichte Petition der »Akademiker für den Frieden«, die in ungewohnter Schärfe das Vorgehen der Regierung als »Vernichtungs- und Vertreibungspolitik« bezeichnete, löste ein politisches Erdbeben aus: Die 30-minütige Rede von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan, in der er die Unterzeichner als »dunkle Kräfte« und »Verräter« diffamierte und die Universitäten aufforderte, disziplinarische Schritte einzuleiten, bildete den Auftakt für eine wahre Hexenjagd.
Die Unterzeichner wurden in den sozialen Medien verleumdet und bedroht, in einer regierungsnahen Zeitung in bebilderten Listen als angebliche »PKK-Kollaborateure« gebrandmarkt. Ein bekannter Mafiaboss konnte den Akademikern unbeschadet damit drohen, in ihrem Blute zu baden. Innerhalb weniger Tage leiteten Staatsanwälte und Universitäten Verfahren gegen mehr als 100 Akademiker ein, einzelne wurden kurzzeitig festgenommen, andere zur Rücknahme ihrer Unterschrift gedrängt, Büros und Wohnungen wurden durchsucht: Vor allem mehrere private Universitäten handelten schnell – so wurde in der Nişantaşı-Universität in Istanbul fast die gesamte soziologische Abteilung entlassen. Auch die Verträge einiger ausländischer Lehrkräfte und Teilzeit-Mitarbeiter wurden nicht verlängert, Projektfonds und Stipendien gestrichen, Ausreiseverbote ausgesprochen.
Schlaflose Nächte im Exil
Selbst im Ausland arbeitende türkische Wissenschaftler, wie die Linguistin Birgül Yılmaz von der Universität London, fühlen sich bedroht: »Zum ersten Mal fühle ich mich in England wie im Exil. Die Frage, was auf mich zukommt, wenn ich in die Türkei fahre, um meine Familie zu besuchen, hat mir schon schlaflose Nächte bereitet.«
Aslı Vatansever sagt, dass sie die Reaktionen auf die Petition zuerst gar nicht ernst nehmen konnte, sie spricht von einer surrealen Situation: »Wir Unterzeichnenden mussten uns selbst daran erinnern, dass unsere Aktion nichts Außergewöhnliches und schon gar keine Straftat darstellt. Als Wissenschaftler haben wir nichts anderes getan als das, was unsere gesellschaftliche Position erfordert, nämlich die öffentliche Aufmerksamkeit auf die katastrophale Lage in den kurdischen Gebieten zu lenken«, meint die Soziologin.
Doch wie ernst es die türkischen Behörden meinten, macht eine vorläufige Bilanz deutlich: 30 Akademiker wurden suspendiert, 38 entlassen oder zur Kündigung gezwungen. 533 Disziplinarverfahren wurden eröffnet sowie 138 juristische Verfahren wegen »terroristischer Propaganda und Diffamierung des Staates«. Die vier Hochschullehrer Meral Camcı, Kıvanç Ersoy, Muzaffer Kaya und Esra Mungan saßen fünf Wochen lang im Gefängnis. Im April wurden sie nach Auftakt des Prozesses vorübergehend aus der Haft entlassen, freigesprochen wurden sie nicht.
Selbst wenn alle der rechtlich zweifelhaften Verfahren mit Freisprüchen enden sollten, für viele Wissenschaftler dürfte die Unterzeichnung der Petition das Ende ihrer akademischen Karriere in der Türkei bedeuten. Während viele Hochschullehrer wie Aslı Vatansever das Feld auf keinen Fall kampflos räumen wollen, sehen sich immer mehr nach Möglichkeiten im Ausland um. Viele hoffen etwa auf Stipendien der »Philipp-Schwartz-Initiative für gefährdete Wissenschaftler« der Alexander-von-Humboldt-Stiftung.
Die Stimmung ist angespannt und von Aktivismus gekennzeichnet.
Doch auch in der Türkei haben die Akademiker bereits viel Solidarität erfahren: Unter den Wissenschaftlern entstand ein großes Gemeinschaftsgefühl, Studenten schrieben liebevolle Unterstützungsbriefe. Schriftsteller, Journalisten und Schauspieler veröffentlichten Folgepetitionen. Zugleich haben die Verfahren gegen die Hochschullehrer eine emotionale und lang anhaltende Debatte über Meinungsfreiheit und Möglichkeiten der Regierungskritik in der Türkei ausgelöst – nicht zuletzt in den Universitäten selbst.
»Die Stimmung ist angespannt und von Aktivismus gekennzeichnet«, sagt die Soziologin Ulrike Flader, deren Vertrag an der Nişantaşı-Universität auf den letzten Metern nicht zustande kam, nachdem ihr Mann die Petition unterzeichnet hatte. »Hinzu kommt der Krieg: Angesichts tagtäglicher Toter in den kurdischen Gebieten ist es für viele unmöglich, sich auf akademisches Arbeiten zu konzentrieren.«
An der Artuklu-Universität in Mardin im Südosten des Landes ist das Szenario ein ähnliches, meint Necat Keskin aus der Abteilung für Kurdische Sprache und Kultur: »Die mögliche Nichtverlängerung der Verträge sehen Hunderte Akademiker mit Sorge. Wenn vier Akademiker für ihre Ansicht ins Gefängnis kommen, dann haben andere zunehmend Angst, ihre Meinung zu äußern.« Unabhängig vom Ausgang der Verfahren sieht Keskin mit Skepsis in die Zukunft: »Wenn es so weitergeht, kreiert man eine schweigsame, unkritische und verbeamtete Hochschullandschaft, von der man keine wissenschaftliche Leistung mehr erwarten kann.«
Intellektuelle werden zur Zielscheibe der Politik
Die Soziologin Flader geht noch weiter: „Die Reaktion auf die Petition hat gezeigt, dass es insgesamt eine Tendenz gibt, das akademische Leben in der Türkei hochgradig einzuschränken und ebenso wie die Institutionen Justiz, Polizeiwesen und Presse ›gleichzuschalten‹«, so die Soziologin.
Die Debatten um akademische Freiheit, im Sinne von Freiheit der Forschung, der Lehre, des Studiums und der Meinungsäußerung, sind in der Türkei nicht neu. Nach dem Militärputsch von 1980 wurde ein Jahr später der Hochschulrat YÖK eingerichtet, eine Instanz, die zentralistisch über Einstellungspolitik, Koordination und Lehrplangestaltung der Universitäten wacht. In zahlreichen Fällen wurden auf Weisung des YÖK Konferenzen und Kurse abgesagt oder Prüfungsfragen als unzulässig eingestuft. Seit Neuestem werden auch Themen von Doktor- und Magisterarbeiten abgelehnt, wenn das YÖK darin einen zu kritischen Ansatz vermutet.
Und wenn Wissenschaftler mit Kritik nicht mehr nur im universitären Rahmen bleiben, dann fühlt sich auch schnell der Staatspräsident persönlich angegriffen. Im März forderte Erdoğan, den Begriff Terrorismus im türkischen Strafrecht breiter zu definieren und nicht weiter zwischen »Terroristen, die Waffen und Bomben tragen, und jenen, die ihre Position, ihren Stift oder ihren Titel den Terroristen zur Verfügung stellen« zu unterscheiden. Dabei nannte er explizit Abgeordnete, Akademiker, Journalisten und NGOs als mögliche Ziele.
Dieser Artikel stammt aus der zenith-Ausgabe Sommer 2016, erhältlich im Shop.