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Ultraorthodoxe Politik in Israel

Nicht links, nicht rechts

Analyse
Ultraorthodoxe Politik in Israel
Ultraorthodoxe am Schabbat in der israelischen Stadt Rechovot Christophe Cagé / Wikimedia Commons

Die Corona-Krise stellt Benyamin Netanyahus Allianz mit den Ultraorthodoxen auf die Probe. Denn die Haredim verfolgen ihre eigenen Ziele und erweisen sich als politisch flexibel.

Seit dem 18. September 2020 befindet sich Israel im zweiten Corona-Lockdown. Pünktlich zum jüdischen Neujahrfest wird der Bewegungsradius um die eigene Wohnung auf 500 Meter reduziert, Schulen und Restaurants sind geschlossen. Auch der Zugang zu religiösen Stätten ist stark eingeschränkt – sehr zum Ärger der ultraorthodoxen Gemeinschaften.

 

Der Kurs der israelischen Regierung stieß jedoch nicht nur bei der streng religiösen Gemeinschaft auf Widerstand. Auch Wirtschaftsvertreter erwarten eine erneute Herausforderung für die ohnehin stark angeschlagenen Unternehmen. Während die Proteste gegen Netanyahu in Israel immer lauter werden, lässt sich der Premier lieber in Washington feiern.

 

Schon seit der Regierungsbildung im Mai 2020 war die Eindämmung der Pandemie scheinbar die Hauptaufgabe der altbekannten Regierungsmitglieder. Mit dabei ist Benjamin Netanyahu als neuer und alter Ministerpräsident – trotz Korruptionsanklagen. Auch seine altbewährten Partner sitzen wieder in der Koalition – die beiden ultraorthodoxen Parteien.

 

Die Ausgangssperren – die letzte Stufe vor dem zweiten Lockdown – betrafen vor allem ultraorthodoxe und arabische Städte oder Viertel.

 

Mit 16 Sitzen sind »Schas« und »Vereintes Thorajudentum« im Parlament vertreten und stellen zusammen drei Minister und fünf Stellvertreter. Bei der Bekämpfung der Pandemie nehmen sie neben Netanyahu eine entscheidende Rolle ein. Stunden nach der Entscheidung über den neuen Lockdown zogen die Ultraorthodoxen in der Knesset ihre Konsequenz. Yaakov Litzman trat von seinem Ministerposten für Bau- und Wohnungswesen zurück – und verlässt damit zum dritten Mal innerhalb von drei Jahren das Kabinett.

 

Im Mai 2020 war es eine Reaktion auf Kritik an seinem Corona-Management. Entgegen der Weisungen seines eigenen Ministeriums besuchte Litzman Massenveranstaltungen und verweigerte bei einer Sitzung Mitte März eine Fiebermessung. Im September 2020 und im November 2017 handelte es sich um Rücktritte aus religiöser Überzeugung. Durch die im Frühjahr strengen, zuletzt gelockerten Pandemiemaßnahmen fühlten sich vor allem die Ultraorthodoxen diskriminiert.

 

Die Schließung von Synagogen und Jeschiwot im Frühjahr oder aber die nächtlichen Ausgangssperren in besonders vom Virus betroffenen Gegenden in den letzten Wochen stießen auf Unverständnis. Diese Ausgangssperren – die letzte Stufe vor dem zweiten Lockdown – betrafen nun einmal vor allem ultraorthodoxe und arabische Städte oder Viertel. So drohte Litzman, sich gegen Netanyahu stellen zu wollen, sollte der einen erneuten Lockdown verhängen.

 

Nirgendwo leben mehr Haredim, was übersetzt so viel bedeutet wie Gottesfürchtige, als in Israel. Mit einer Geburtenrate von durchschnittlich 7,1 Kindern pro Familie sind sie die am schnellsten wachsende Bevölkerungsgruppe Israels. Bei der Staatsgründung 1948 stellten sie ein Prozent der Bevölkerung, 2019 lag dieser Wert laut Israel Democracy Institute bei zwölf Prozent. Die Haredim verzeichnen also ein jährliches Wachstum von vier Prozent.

 

Die Ultraorthodoxen haben bereits mit Parteien im rechten wie im linken Spektrum koaliert.

 

Die ultraorthodoxen Juden in Israel und ihre Parteien unterteilen sich in drei Hauptströmungen und unzählige Splittergruppen. Die Partei der chassidischen Haredim, Agudat Israel, bildet mit Degel HaThora (umgangssprachlich als die »Partei der Litauer« bekannt) eine Fraktionsgemeinschaft – bekannt unter dem Namen »Vereintes Thorajudentum«. Die sephardischen Haredim hingegen sind in der Partei Schas organisiert. Laut Peter Lintl von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) stimmten 90 Prozent der Ultraorthodoxen bei den Wahlen im Frühjahr für die ultraorthodoxen Parteien. In seiner Studie über die Haredim, die im Oktober 2020 veröffentlicht wird, macht Lintl deutlich, dass auch 90 Prozent der Wahlberechtigten ihre Möglichkeit zur Stimmabgabe nutzen.

 

Dabei kommt die Daa’at Thora ins Spiel – die »Thorameinung«. Die beschreibt ein System, in dem alle Entscheidungen für die Gemeinde von führenden Rabbinern getroffen werden. Auch den Gang zum Wahllokal und das wo das Kreuz zu machen ist. Dass die Haredim zur Wahl gehen und für wen sie dabei stimmen ist somit klar – auch aufgrund der Zugehörigkeit innerhalb der ultraorthodoxen Gemeinschaft.

 

»Vereintes Thorajudentum« und Schas sind Teil der aktuellen Regierung. Vor dem Rücktritt von Yaakov Litzman (dem Vorsitzenden von Agudat Israel) besetzten die ultraorthodoxen Parteien im größten Parlament seit der Staatsgründung Israels insgesamt 16 Sitze, stellten drei Minister und fünf stellvertretende Minister. Die Rolle der beiden Parteien darf nicht unterschätzt werden – seit 1990 waren sie an acht der zehn Koalitionen beteiligt.

 

Ein Grund dafür ist die traditionelle Einteilung des israelischen Parteienspektrums in Rechts und Links – mit der Haltung zum Status der palästinensischen Gebiete als Einteilungskriterium. Für die Haredim steht dieser Themenkomplex jedoch nicht an erster Stelle. Das machte es ihnen in der Vergangenheit möglich, sowohl mit Parteien im rechten als auch im linken Spektrum zu koalieren.

 

Der politische Einfluss der Ultraorthodoxen ist nicht von der Hand zu weisen. Andererseits ist die ultraorthodoxe Gemeinschaft aber auch von der Politik abhängig.

 

Lintl erklärte im Gespräch mit Zenith, dass für die ultraorthodoxen Parteien andere Ziele im Fokus stehen: Gesetze zugunsten ihrer Gemeinschaft zu verabschieden sowie das Verhältnis von Staat und Religion in Israel auf ihre eigenen Bedürfnisse anzupassen. Über Jahre hinweg erreichten die Haredim ihre Ziele durch Koalitionsvereinbarungen oder die Leitung strategischer Ministerien.

 

Bereits seit 2001 finden sich in den Koalitionsverträgen Klauseln, die etwa das öffentliche Leben am Schabbat oder die Überwachung der koscheren Speisevorschiften gemäß den Prioritäten der Ultraorthodoxen regeln. Zudem bringen die Ultraorthdoxen regelmäßig Gesetzesentwürfe zur Geschlechtertrennung in Einrichtungen und bei Veranstaltungen oder die Benennung von öffentlichen Orten nach verstorbenen Rabbinern ein.

 

Seit 1992 enthielt jeder Koalitionsvertrag eine Klausel, die einstimmige Beschlüsse innerhalb der Koalition zu Entscheidungen über Religion und Staat vorsieht – dadurch entstand ein Vetorecht für die ultraorthodoxen Parteien.

 

Durch ihre Präsenz in der Koalition ist der Einfluss der Ultraorthodoxen auf die israelische Politik eindeutig. Andererseits ist die ultraorthodoxe Gemeinschaft aber auch von der Politik abhängig – zum Beispiel in Hinblick auf finanzielle Unterstützung durch den Staat. Mehr als die Hälfte der Haredim leben in Israel unter der Armutsgrenze. Die Frauen sind oftmals alleine für den Lebensunterhalt zuständig, da nur etwa die Hälfte der ultraorthodoxen Männer berufstätig sind.

 

Diese finanzielle Schieflage führt zu Spannungen zwischen den Ultraorthodoxen und einem Großteil der israelischen Bevölkerung. Den Haredim wird vorgeworfen, auf Kosten des Staates zu leben, diesen aber gleichzeitig abzulehnen und am wenigsten zur Gesellschaft beizutragen. Nicht zuletzt, weil sie aus religiösen Überzeugungen von der Wehrpflicht befreit sind.

 

»Er lebt ein Gemeinschaftsleben innerhalb eines souveränen Landes, drückt aber gleichzeitig ein deutliches Desinteresse an einer besonderen Anerkennung oder Würdigung durch die Mehrheit aus.« Mit diesen Worten beschreibt Rabbi Yehoshua Pfeffer, Chefredakteur der ultraorthodoxen Online-Zeitung Tzarich Iyun, das Gemeinschaftsmodell der Haredim.

 

Netanyahu ist sich seiner vielfältigen Basis bewusst – Likud-Wähler und Ultraorthodoxe.

 

Doch wie zukunfts- und anpassungsfähig ist dieses Modell? Besonders die Digitalisierung stellt die Gemeinschaft vor Herausforderungen. Im sonst so genau strukturierten ultraorthodoxen Judentum fehlen klare Ge- oder Verbote für die Internetnutzung. Aus Lintls Studie geht hervor, dass 2008 28 Prozent der Ultraorthodoxen das Internet nutzten, 2019 waren es schon 49 Prozent. Die Corona-Pandemie wird die Internetnutzung wohl weiter beschleunigt haben.

 

Generell wird bei den Haredim alles abgelehnt, was für die Gemeindevorsteher schwer zu kontrollieren ist. Um trotzdem mit dem Lauf der Zeit zu gehen, finden die Ultraorthodoxen eigene Wege. Etwa das »koschere« Smartphone, also ein Mobilgerät, das die App-Nutzung gemäß religiöser Vorgaben einschränkt

 

In Benyamin Netanyahu sehen die Ultraorthodoxen einen Politiker, der sie unterstützt und dem sie im Umkehrschluss Unterstützung zukommen lassen. Möglicherweise verbindet sie auch die Ablehnung des Obersten Gerichtshofs. Der Ministerpräsident ist wegen Korruption angeklagt und zieht die Legitimität der Verfahren gegen ihn immer in Zweifel.

 

Den Ultraorthodoxen wiederum ist der Oberste Gerichtshof ein Dorn im Auge, weil er in der Vergangenheit die Geschlechtertrennung in Bussen sowie 2017 das Gesetz zur Wehrpflichtbefreiung von ultraorthodoxen Juden kippte. Netanyahu ist sich seiner breiten Basis bewusst – weder Likud-Wähler noch Ultraorthodoxe möchte er vergrätzen. Da die Gruppen sich aber in ihren Ansichten teilweise widersprechen, sitzt Netanyahu zwischen den Stühlen.

 

2000 orthodoxe Pilger harrten bis Beginn der Neujahrsfeierlichkeiten an der Grenze zwischen Belarus und der Ukraine aus.

 

Besonders während der ersten Covid-19-Welle in Israel standen die ultraorthodoxen Gemeinschaften aufgrund von Missachtung der Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung im Fokus der Kritik. Dadurch verhärtete sich die ohnehin negative Haltung großer Teile der israelischen Bevölkerung gegenüber den Haredim. Das Hin und Her der Maßnahmen rief aber auch bei Netanyahus Anhängern Unverständnis hervor.

 

Eine aktuelle Wählerbefragung macht das deutlich. Bei einer Hochrechnung des israelischen TV- Senders Kanal 13 vom 7. September 2020 erreichte die Partei Yamina von Naftali Bennet 21 Sitze – ein Zuwachs von 15 Sitzen. Netanyahus Partei Likud verliert währenddessen fünf Sitze und fällt auf 31. Beiden ultraorthodoxen Parteien werden aktuell sieben Sitze bescheinigt.

 

Besonders das Debakel zum jüdischen Neujahrsfest veranschaulicht Netanyahus Dilemma. Breslauer Juden pilgern an Rosch ha-Schana traditionell zum Grab des Rabbis und Begründers der ultraorthodoxen Bewegung – Rabbi Nachman (1772-1810) – in die Ukraine. In Uman, im Westen der Ukraine, kommen normalerweise rund um das Neujahrsfest mehr als 30.000 Gläubige zusammen. In einem Brief an den ukrainischen Präsidenten Volodymyr Zelensky bat der Coronavirus-Beauftragte der israelischen Regierung, Prof. Roni Gamzu, die Massenreisen nach Uman auszusetzen.

 

Die Ukraine leistete Folge und untersagte jeglichen Einreisen bis zum 28. September – also über die jüdischen Feiertage hinaus. Nichtsdestotrotz machten sich Pilger auf nach Uman – 2000 harrten bis Beginn der Neujahrsfeierlichkeiten am 18. September an der Grenze zwischen Belarus und der Ukraine aus, andere versuchten, über die Türkei oder Moldawien einzureisen.

 

Gamzu und darüber hinaus auch Netanyahu werden von den Haredim – weit über die Gemeinschaft der Breslauer Juden hinaus – für die Absage der Pilgerfahrt verantwortlich gemacht. Netanyahu sollte vermitteln, stattdessen stieß er seine ultraorthodoxen Unterstützer vor den Kopf.

Von: 
Annika Scharnagl

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