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Türkische Opposition einigt sich auf Kemal Kılıçdaroğlu

Sechs gegen Erdoğan

Analyse
Türkische Opposition einigt sich auf Kemal Kılıçdaroğlu
CHP Fotoğraf Servisi

Droht Präsident Erdoğan eine Wahlschlappe? Die erste Zerreißprobe hat das neue türkische Oppositionsbündnis überstanden. Am Montag einigte man sich auf den Kandidaten Kemal Kılıçdaroğlu – nach einem Wochenende, an dem alles hätte schief gehen können.

Am Montagabend verkündete Temel Karamollaoğlu, Vorsitzender der islamistischen »Saadet Partisi« (zu Deutsch: Glückseligkeitspartei): »Herr Kemal Kılıçdaroğlu ist unser Präsidentschaftskandidat.« Die historische, weil erste aussichtsreiche Kandidatur eines Aleviten verkündete mit Karamollaoğlu also ausgerechnet der Mann, der als damaliger Bürgermeister der Stadt Sivas 1993 bei einem der schlimmsten anti-alevitischen Pogrome der jüngeren türkischen Geschichte – verübt durch Teile seiner Wählerschaft – involviert gewesen war, wenn auch seine genaue Rolle und Verantwortung umstritten sind. Das gibt einen Hinweis darauf, aus welch unterschiedlichen Akteuren und Ideologien das Oppositionsbündnis des Sechsertisches (altılı masa) besteht.

 

Die linke, pro-kurdische HDP bleibt außen vor – auf Wunsch der İYİ-Partei

 

Das Gremium setzt sich aus den Vorsitzenden von sechs Parteien zusammen. Vier davon sind bereits bei den Parlamentswahlen 2018 als »Nationale Allianz« angetreten: die kemalistische Republikanische Volkspartei CHP, die nationalistische İYİ-Partei (zu Deutsch: »Gute Partei«), die islamistische Saadet Partisi und die Mitte-Rechts-Partei »Demokrat Parti«.

 

Seit Februar 2022 treffen sich die vier Parteivorsitzenden monatlich zusammen mit dem ehemaligen AKP-Vorsitzenden, Ministerpräsidenten und Gründer der »Gelecek Partisi« (zu Deutsch: »Zukunftspartei«) Ahmet Davutoğlu und dem ehemaligen Wirtschafts- und Außenminister Ali Babacan, Gründer und Vorsitzender der DEVA-Partei (zu Deutsch: »Partei für Demokratie und Fortschritt«).

 

Tatsächlich dominieren zwei Parteien das Bündnis: CHP und die İYİ-Partei. Bei den Parlamentswahlen 2018 war erstere mit 22,6 Prozentder Stimmen die zweitstärkste Kraft, die İYİ-Partei lag mit 10 Prozent immerhin noch auf Rang fünf. Saadet lag bei 1,3 Prozent. Die DP war über die Listen von CHP und İYİ angetreten, liegt aber in Umfragen inzwischen bei unter einem Prozent. Die Parteien von Davutoğlu und Babacan sind erst 2019 beziehungsweise 2020 gegründet worden, liegen in Umfragen meistens jedoch auch im unteren einstelligen Bereich.

 

Auffallend ist, dass die linke, pro-kurdische HDP zwar die drittstärkste Kraft im türkischen Parlament ist, beim Oppositionsbündnis allerdings auf Wunsch der İYİ-Partei außen vor bleibt. Auch die Türkische Arbeiterpartei TİP, die vier Abgeordnete stellt und in den letzten Monaten für viel Aufsehen sorgt, wurde nicht eingebunden.

 

Ende Januar stellte der Sechsertisch ein 200-seitiges gemeinsames Programm in neun Politikfeldern vor. Das zentrale gemeinsame Anliegen der Allianz: eine Rückkehr zum parlamentarischen System und eine stärkere Autonomie vieler Institutionen. Die in der Öffentlichkeit heftig diskutierte Frage, wer als Präsidentschaftskandidat Recep Tayyip Erdoğan herausfordern soll, stand erst am letzten Donnerstag auf der Tagesordnung – und damit knapp zehn Wochen vor den sehr wahrscheinlich am 14. Mai stattfindenden Wahlen.

 

İmamoğlus größtes Problem: Ein Gericht verhängte vor einigen Monaten ein Politikverbot

 

Drei Namen standen im Raum, die auch verschiedene Strömungen innerhalb der CHP abbilden: der Vorsitzende Kemal Kılıçdaroğlu sowie seine Parteikollegen Mansur Yavaş und Ekrem İmamoğlu, die Bürgermeister von Ankara und Istanbul. Yavaş hat sich einen Ruf als sehr fleißiger und fähiger Bürgermeister erarbeitet. Sein Hintergrund bei den Grauen Wölfen macht ihn jedoch einerseits für verdrossene Anhänger der Regierungsparteien AKP und MHP attraktiv, andererseits aber auch bei Teilen der kurdischen und linken Wählerschaft unbeliebt.

 

İmamoğlu ist durch seine Siege bei den Istanbuler Bürgermeisterwahlen 2019 zum landesweiten Star und Hoffnungsträger der Opposition aufgestiegen. Er gilt als charismatisch und ist sowohl im nationalistischen als auch im linken Lager relativ beliebt und hat bereits bewiesen, kurdische Wähler von sich überzeugen zu können. Einige Kritiker sehen in ihm und seinem Auftreten allerdings auch Ähnlichkeiten zu Präsident Erdoğan. İmamoğlus größtes Problem: Ein Gericht verhängte vor einigen Monaten ein Politikverbot gegen ihn. Sollte das Urteil rechtskräftig werden, so wäre seine Wahl laut dem Vorsitzenden des Wahlausschusses nicht gültig – Erdoğan hätte dann leichtes Spiel.

 

In den vergangenen Wochen und Monaten zeichnete sich ab, dass die CHP-Führung auf Kılıçdaroğlus Kandidatur drängt und mindestens vier der fünf anderen Parteichefs ihn unterstützen werden. Diejenigen, die für ihn werben, betonen seine Ehrlichkeit und Bescheidenheit, die politisch-strategischen Fähigkeiten und das Vertrauen darauf, die Machtkonzentration in seinen Händen im Falle eines Wahlsieges aufzugeben, um die Türkei zu demokratisieren.

 

Am Donnerstagabend unterschrieben alle sechs Parteivorsitzenden eine kurze Mitteilung: Sie haben sich auf einen Kandidaten geeinigt und dieser würde am Montag, dem 6. März, vorgestellt werden. Schnell verbreitete sich das Gerücht, dass es sich um den CHP-Vorsitzenden Kılıçdaroğlu handelt, was bei vielen Anhängern und Mitgliedern der İYİ-Parteibasis überhaupt nicht gut ankam. Noch am selben Abend traf sich die Führungsspitze – dann nahm das viertägige Drama seinen Lauf.

 

Akşener pokert zu hoch

 

In einer 15-minütigen Ansprache verkündete Meral Akşener, die Vorsitzende der İYİ-Partei, am Freitag, dass sie Kılıçdaroğlus Kandidatur nicht unterstützt – und den Sechsertisch verlässt. Stattdessen rief sie Yavaş und Imamoğlu dazu auf, dem »Willen des Volkes« zu folgen und sich mit Unterstützung der İYİ-Partei zur Wahl zu stellen. In den Sozialen Medien waren viele User dabei insbesondere vom sehr harten Ton überrascht. Kılıçdaroğlu teilte am Nachmittag ein Video, in dem er betont gelassen reagierte und weiterhin seine Gesprächsbereitschaft in alle Richtungen bekundete.

 

Die entscheidende Frage lautete, wie Yavaş und İmamoğlu reagieren würden. Insbesondere dem Istanbuler Bürgermeister werden aufgrund zahlreicher Besuche in anderen Städten und Regionen auch persönliche Ambitionen nachgesagt. Am Abend gaben die beiden zeitgleich auf Twitter Statements ab, in denen sie Kılıçdaroğlu weiterhin ihre volle Unterstützung zusagten und ihr Vertrauen in die »Nationale Allianz« zum Ausdruck brachten.

 

Viele Beobachter spekulierten, was Akşener zu diesem waghalsigen Manöver motiviert haben könnte. Sie hatte schließlich großen Einfluss im Sechserbündnis und im Falle eines Wahlerfolgs und Systemwechsels äußerst gute Chancen, Ministerpräsidentin und damit Regierungschefin zu werden. Dennoch verließ sie nach über einem Jahr der Kooperation so kurz vor den Wahlen das Bündnis und rief die beiden Bürgermeister scheinbar ohne jegliche Absprache auf, sich gegen ihre Partei zu stellen. Sie selbst erklärte ihren Schritt damit, dass zahlreiche Umfragen Yavaş und İmamoğlu bessere Chancen einräumen, Erdoğan zu besiegen.

 

Doch selbst wenn einer der beiden das Angebot angenommen hätte, ist es sehr gut vorstellbar, dass es ihrem Ansehen geschadet hätte und sie opportunistisch erscheinen ließe. Auch Kılıçdaroğlus Chancen wären ohne die Unterstützung der İYİ-Partei in der ersten Runde gleich null und in einer möglichen Stichwahl deutlich geschrumpft.

 

Tatsächlich waren wohl der innerparteiliche Druck und ideologische Gründe eher ausschlaggebend. Kılıçdaroğlu ist sowohl in wirtschaftlichen als auch in gesellschaftspolitischen Fragen weiter von der İYİ-Partei entfernt als seine beiden Parteigenossen. Der 74-jährige Spitzenkandidat wird auf die Stimmen der HDP-Wähler angewiesen sein – Akşener wäre jedoch ein Kandidat ohne oder mit möglichst wenig Unterstützung der HDP am liebsten.

 

Ideologisch ist Kılıçdaroğlu in wirtschaftlichen und sozialen Fragen ebenfalls deutlich weiter entfernt von der eher konservativ-nationalistischen İYİ-Partei. Uneinigkeit herrscht auch darüber, inwieweit eine grundlegende Transformation von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft notwendig ist oder ob nicht ein paar Reformen und bessere Regierungsführung der richtige Weg sind.

 

Am Samstag entwickelte sich die Tragödie dann fast schon zur Komödie. Auf der Suche nach einem geeigneten Kandidaten kam auf einmal der gern gesehene TV-Gast, Anwalt und Autor Ersan Şen ins Spiel, der bisher nicht unbedingt für Radikalopposition bekannt war. Gerade angesichts des öffentlichen Drängens Akşeners auf einen kazanacak aday, also einen Kandidaten mit Siegchancen, wirkte diese Entwicklung äußert skurril und sorgte für Unverständnis. Auch Muharrem İnce, der relativ erfolgreiche CHP-Prätendent bei den Präsidentschaftswahlen 2018, versuchte vergeblich für seine Kandidatur Unterstützung zu gewinnen. Bereits 2020 hatte auch er seine eigene Partei gegründet, die in Umfragen allerdings nur selten über zwei Prozent liegt.

 

Am Sonntag hatte sich abgezeichnet, dass die İYİ-Partei wohl keinen kazanacak aday finden wird. Oppositionelle Sender wie HalkTV und FOX (im Gegensatz dazu ist CNNTürk sehr regierungsnah) kritisierten Akşener ebenfalls scharf, Yavaş und İmamoğlu begannen zu vermitteln. Am Montag ging dann doch alles ganz schnell. Die beiden überzeugten Akşener, am Treffen des Sechsertisches und bei der Verkündigung des Kandidaten am Montag teilzunehmen.

 

Als gesichtswahrenden Kompromiss schlug die İYİ-Vorsitzende folgendes vor: Beide Bürgermeister würden im Falle eines Wahlsieges – so wie die fünf anderen Parteivorsitzenden – zu Vizepräsidenten ernannt werden und die Aufgaben und der Einfluss des Amtes gleichzeitig gestärkt. Der Sechsertisch, zu diesem Zeitpunkt Fünfertisch, stimmte zu. Seit der Verfassungsreform von 2017 kann der Präsident nämlich beliebig viele Vizepräsidenten ernennen.

 

Erdoğan ist der erfolgreichste Wahlkämpfer der türkischen Geschichte

 

Die Oppositionsparteien kritisieren die aktuelle Regierung einerseits für ihren undemokratischen Regierungsstil als »Ein-Mann-Regime« und andererseits für ineffektive Regierungsführung, sei es in Reaktion auf das Erdbeben, die Wirtschaftspolitik oder Migration. In diesen beiden Punkten hat die Opposition sich zwar nicht gerade mit Ruhm bekleckert, durch den schnellen Kompromiss jedoch Schlimmeres verhindert. Der intransparente Entscheidungsprozess war sicherlich kein Musterbeispiel für Basisdemokratie. Gleichzeitig sah es am Wochenende so aus, dass das Bündnis im Chaos versinkt – keine gute Voraussetzung, um während einer Wirtschaftskrise das Vertrauen der Wähler zu gewinnen. Vor allem deshalb, da das Jahrzehnt vor der AKP-Herrschaft von wechselnden, instabilen Koalitionen und politischen Krisen geprägt war.

 

Akşener, die bisher einen enormen Einfluss auf das Bündnis und das Image einer intelligenten Strategin besaß, hatte Monate Zeit, sich auf solch einen Fall vorzubereiten. Dass sie dennoch so planlos und ohne jegliche Absprachen agierte, erstaunte viele Beobachter. Der Türkei-Experte Howard Eissenstat, der selbst auf Twitter spekulierte, fasste es so zusammen: »Notiz an mich selbst. Nicht gleich von einer Strategie ausgehen. Es könnte auch einfach Dummheit sein.«

 

Eine bessere Figur hingegen machten Yavaş und İmamoğlu. Die von Kılıçdaroğlu rekrutierten Bürgermeister zeigten ihre Teamfähigkeit, Loyalität und Intelligenz. Von ihrem Charisma und ihrer Beliebtheit könnte auch Präsidentschaftskandidat Kılıçdaroğlu profitieren, der beiden in dieser Hinsicht nachsteht. Dennoch hat der CHP-Chef es bisher sehr erfolgreich geschafft, verschiedene Gruppen für sich zu gewinnen. Das zeitgliche Werben um Stimmen von Linken, Kurden, Konservativen, Islamisten und Nationalisten wird sich aber weiterhin als schwieriger Balanceakt erweisen. So könnte zum Beispiel ein noch vor den Wahlen mögliches HDP-Parteiverbot Kılıçdaroğlu dazu zwingen, klar Stellung zu beziehen.

 

Recep Tayyip Erdoğan ist der erfolgreichste Wahlkämpfer der türkischen Geschichte und hat durch seine Kontrolle über den Staatsapparat viele Möglichkeiten, Themen zu setzen und Unterstützung zu gewinnen. Nichtsdestotrotz hat auch er bei seinen Wahlsiegen 2014 (51,8 Prozent) und 2018 (52,6 Prozent) nur knappe absolute Mehrheiten erreichen können. Ein Kandidat, der es schafft, die komplette Opposition hinter sich zu vereinen, hätte angesichts der vielen Krisen im Land und der sinkenden Beliebtheitswerte des Präsidenten gute Chancen, die AKP-Ära zu beenden.

Von: 
Marc Imperatori

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