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Türkische Außenpolitik und der Krieg gegen die Ukraine

Erdoğans Kalkül hinter den Ukraine-Verhandlungen

Analyse
Türkische Außenpolitik und der Krieg gegen die Ukraine
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan im März 2020 zu Gast bei Wladimir Putin Kreml

Im russischen Krieg gegen die Ukraine übernimmt die Türkei eine Position der »aktiven Neutralität«. Moskau begegnet Ankaras Vermittlerrolle aber mit Skepsis.

Die Taktik der »aktiven Neutralität« – die die Türkei bereits seit 2014 verfolgt – besagt, dass Ankara sowohl Moskau als auch Kiew unterstützt. Die Allianz mit der Ukraine ist wichtig, damit die Türkei die geopolitischen Ambitionen Russlands drosseln kann. Vor allem die Besetzung der Krim wurde von der Türkei immer wieder stark kritisiert. Nicht nur weil die territoriale Integrität der Ukraine auf dem Spiel steht, sondern auch aufgrund der türkischen Ambitionen, mit den seit 1991 entstandenen Turkstaaten, darunter Kasachstan und Turkmenistan, stärkere politische und wirtschaftliche Allianzen zu schmieden.

 

Dabei steht die Türkei in direkter Konkurrenz zu Russland, das die zentralasiatischen Länder nach wie vor als Teil der eigenen Einflusszone sieht. Die abwehrende Haltung gegenüber Moskau ermöglicht es der Türkei allerdings auch, die westlichen Partner – Nato, EU und besonders die USA – trotz Interessenskonflikten im Mittelmeer und in Nord- und Nordostsyrien weiterhin an sich zu binden.

 

Auf der anderen Seite erlaubt die politische Unterstützung Russlands, die bilaterale Beziehung zu Moskau und deren militärische Allianzen nicht zu gefährden: Beispielsweise duldet Russlands Verbündeter Baschar Al-Assad die türkischen Angriffe auf kurdische Milizen in Nordsyrien.

 

Offensichtlich möchte Ankara die Beziehungen zu Russland nicht explizit gefährden

 

Die Verhandlungen Ende März zwischen der Ukraine und Russland in Istanbul sind der bisherige Höhepunkt der »aktiven Neutralität«. Mit Unterstützung seitens Präsident Erdoğan verhandelten Unterhändler beider Seiten, wenngleich die Gespräche im türkischen Antalya Anfang des Monats ergebnislos geblieben waren.

 

Während der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu »bedeutende Fortschritte« verkündet, geben sich die USA und Großbritannien aus der zweiten Reihe weiterhin skeptisch. Die Ukraine, so verlautbart es aus den Verhandlungen, zeige sich mittlerweile bereit, einen »neutralen Status« für sich zu akzeptieren – also auf einen Nato-Beitritt zu verzichten. Und fordert im Gegenzug einen russischen Truppenabzug und Sicherheitsgarantien anderer Länder, darunter seitens der Türkei.

 

Schon länger hatte sich die Türkei als möglicher Vermittler ins Gespräch gebracht und hatte die guten Verbindungen zu Kiew als auch die geübte Gesprächsbasis mit Moskau angeführt. Überraschend ist dennoch, dass sich Russland auf die Türkei einlässt: Denn in der Wahrnehmung Moskaus ist Ankara nicht neutral sondern steht auf der Seite der Ukraine.

 

Zu Beginn des Konfliktes basierte die »aktive Neutralität« darauf, dass die Türkei auch russischen Kriegsschiffen das Passieren der türkischen Meerengen erlaubte. Erst auf Bitten der Ukraine schloss Ankara am 28. Februar, vier Tage nach Beginn des Krieges, die Zufahrtsroute ins Schwarze Meer. Diese anfängliche Zurückhaltung ist insofern interessant, weil Ankara bereits am 23. Februar Moskaus Vorgehen in den Regionen Luhansk und Donetsk scharf kritisiert und von einer bevorstehenden Eskalation gewarnt hatte. Präsident Erdoğan verwies aber darauf, dass die Türkei nicht plane, Partei zu ergreifen. Offensichtlich fürchtet Ankara um seine Beziehungen zu Russland.

 

52 Prozent des türkischen Gasverbrauchs speist sich aus russischen Pipelines

 

Das ist keine Überraschung, wenn man berücksichtigt, dass 2021 mehr als 56 Prozent des türkischen Getreidebedarfs von Russland gedeckt wurde. 52 Prozent des türkischen Gasverbrauchs speist sich aus russischen Pipelines und auch russische Touristen spülen der Türkei erhebliche Summen in die Kassen.

 

Auch Ankaras Interessen in Syrien sowie das Bestreben, eine unabhängige Regionalregierung in Nord- und Nordostsyrien zu verhindern, konnte bisher mit russischer Zustimmung zur Zufriedenheit Ankaras verfolgt werden. Gleichzeitig wurden in Libyen die Grenzen der Kooperation zwischen Russland und der Türkei deutlich, als Ankara mit eigenen Milizen gegen den von Moskau unterstützten General Khalifa Haftar vorging.

 

Für die türkische Außenpolitik stellte bereits die Besetzung der Krim eine nicht hinzunehmende Verletzung der territorialen Integrität der Ukraine dar. Die Türkei versuchte mit dem Hinweis, dass Moskau auf der Krim bewusst durch Menschenrechtsverletzungen gegen die muslimische Bevölkerungsgruppe der Tataren eine Art politischer Säuberung betreibe, internationale Aufmerksamkeit für die Region zu gewinnen.

 

Ebenso stellte man der Ukraine und Georgien militärische Partnerschaften in Aussicht; und Ankara befürwortet bis heute einen Nato-Beitritt beider Staaten. Die Türkei möchte mit diesem Vorgehen Russlands Machtambitionen einhegen. Doch will Ankara damit auch seine Zugehörigkeit zum Westen zur Schau stellen? Gerade im syrischen Bürgerkrieg ist die Türkei nicht davor zurückgeschreckt, islamistische Söldnertruppen im Kampf gegen kurdische Gruppen einzusetzen und zu unterstützen.

 

Die Türkei entschied sich nach der russischen Besetzung der Krim, sich nicht an Sanktionen zu beteiligen

 

Im Gegensatz zu anderen westlichen Ländern entschied die Türkei nach der russischen Besetzung der Krim, sich nicht an Sanktionen zu beteiligen. Zudem spielte Ankara die militärische Kooperation mit der Ukraine herunter. Die Türkei war darauf bedacht, den Kreml nicht zu verärgern und versicherte Moskau immer wieder, dass die militärische Zusammenarbeit mit der Ukraine nicht gegen Russland zielen würde.

 

Am 3. Februar 2022 besuchte Erdoğan Kiew und unterzeichnete mit seinem ukrainischen Amtskollegen Wolodymyr Zelensky sowohl ein Freihandels- als auch ein Verteidigungsabkommen. Erdoğan wollte den ukrainischen und russischen Staatschef an einen Verhandlungstisch zwängen, möglicherweise weil Ankara um die Zukunft der Beziehungen zu beiden Ländern fürchtete. Die Verhandlungen zum Freihandelsabkommen hatten mehr als zwölf Jahre gedauert. Die Vertragsunterschriften ermöglichten der Ukraine Zugriff auf militärische Abwehrtechnologien aus der Türkei.

 

Auch ein Abkommen über den weiteren Verkauf von türkischen Drohnen vom Typ Bayraktar TB2 wurde zu Beginn des Februars 2022 geschlossen. Während die Türkei die notwendige Technologie liefert, soll die Hardware für die Drohnen in der Ukraine hergestellt werden. Die TB2-Drohnen hatten sich schon im Bergkarabach-Krieg 2020 im Einsatz für Aserbaidschan bewährt, und erweisen sich laut Medienberichten nun auch für die Ukraine als wertvolle Waffe.

 

Im Moment versucht Erdoğan, sein Vorgehen unter dem Label der »aktiven Neutralität« zu legitimieren. Aber türkische Drohnen im Einsatz für Kiew und enge Beziehungen mit Moskaus Kriegsgegner sprechen eine andere Sprache. Der Graben zwischen der Türkei und Russland könnte sich zusätzlich noch weiten: Nämlich, wenn von Ankara unterstützte Kämpfer aus Syrien die Ukraine erreichen sollten. Russische Medien behaupten, Islamisten aus Idlib würden sich in Richtung Ukraine bewegen. Allerdings fehlt dafür ebenso eine belastbare Datengrundlage wie für die Ankündigung des Assad-Regimes, Truppen zur Unterstützung Russlands zu entsenden.

 

Möglicherweise wartet Putin ab, bis Erdoğan einen fatalen Fehler wie im Jahr 2015 begeht

 

Doch auch ohne direkte Involvierung syrischer Kämpfer könnte der Krieg in der Ukraine türkischen Interessen nützen: Etwa, wenn Russland dadurch nicht mehr in der Lage wäre, das Assad-Regime zu unterstützen. Erdoğan klagt schon länger über den unzureichenden ideellen und militärischen Einsatz westlicher Verbündeter gegenüber Damaskus. Nun sehen islamistische Gruppen in Idlib und Aleppo womöglich die Gelegenheit, im Windschatten des Kriegs in der Ukraine die Front gegen das Assad-Regime wiederzubeleben, zumal Russland geostrategisch momentan abgelenkt ist.

 

Aufgrund der Politik der »aktiven Neutralität« hat sich die Türkei bisher nicht an Sanktionen gegen Russland beteiligt und ebenso wenig den Luftraum für russische Flugzeuge geschlossen. Im Moment ist noch unklar, wie weit Moskau das türkische Vorgehen akzeptieren will. Möglicherweise wartet Putin ab, bis Erdoğan einen fatalen Fehler wie im Jahr 2015 begeht. Die türkische Luftwaffe schoss damals einen russischen Jet ab, Moskau nutzte die Situation politisch geschickt aus, um in den folgenden Wochen eigene Luftabwehrsysteme zu verkaufen. Damals ein Affront für die Nato-Verbündeten der Türkei.

 

Erdoğan könnte den Krieg in der Ukraine auch nutzen, um die Stimmung der türkischen Gesellschaft gegenüber dem Westen weiter anzuheizen. Mit Blick auf die gegenwärtig schlechten Umfrageergebnisse für seine AKP und die bevorstehenden Wahlen 2023 scheint dies eine mögliche Option. Vor allem, weil türkische Medien und ein Teil der Öffentlichkeit überzeugt sind, dass sich in der Ukraine in Wirklichkeit der Westen und Russland kriegerisch gegenüberstehen.

 

Der Weg der türkischen Außenpolitik hängt besonders von den Entwicklungen in Syrien ab – die türkisch-russischen Beziehungen davon, ob sich die Türkei dazu entschließt, dem Nato-Kurs zu folgen und sich wieder dem Westen zu nähern. Oder ob Ankara davon abweichen und nach einer neuen Kooperation mit Moskau Ausschau halten wird.


Mag. Dr. Hüseyin Çiçek ist Religions- und Politikwissenschaftler, zurzeit ist er Universitätsassistent an der Universität Wien und assoziierter Mitarbeiter am Erlanger Zentrum für Islam und Recht in Europa.

Von: 
Hüseyin Çiçek

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