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Tschetschenen im Krieg in der Ukraine

Wenn der Ruf vorauseilt

Analyse
Tschetschenen im Krieg in der Ukraine
Verbände des russisch-tschetschenischen »Batallion Vostok« waren bereits in Georgien 2008 und auf der Krim 2014 im Einsatz. Werden sie nun auch im Ukraine-Krieg 2022 eine Rolle spielen? Yana Amelina / Wikimedia Commons

Im Krieg gegen die Ukraine bahnt sich ein weiterer Konflikt an: zwischen Kadyrovtsy und Geflüchteten aus Tschetschenien. Warum voreilige Urteile über die Kämpfer aus der Diaspora vor allem der Propaganda von Putin und Kadyrov nützen.

Seit der von Wladimir Putin angeordneten Invasion der Ukraine häufen sich Berichte über eine Beteiligung von tschetschenischen Kämpfern an den Kriegshandlungen. Das Besondere hierbei ist, dass Personen aus Tschetschenien oder mit tschetschenischem Hintergrund sowohl auf russischer als auch ukrainischer Seite stehen. Sehen wir also einen »Krieg im Krieg«, in dem Tschetschenen gegen Tschetschenen kämpfen?

 

Auf russischer Seite kämpfen die sogenannten Kadyrovtsy, eine paramilitärische Einheit und Privatarmee des namensgebenden tschetschenischen Diktators Ramsan Kadyrov. Die meisten Quellen gehen von circa 10.000 Kadyrovtsy aus, die seit dem Einmarsch an der Seite russischer Soldaten in der Ukraine kämpfen. Wie im restlichen Kriegsgeschehen, spielt auch hier Propaganda eine große Rolle in der Beurteilung der Entwicklungen und Umstände. Bild- und Videomaterial zeigen scheinbar durchtrainierte, bestens ausgerüstete Männer auf dem Weg in und durch die Ukraine, angeblich auf ihrem Weg direkt an die Front beziehungsweise gen Kiew.

 

Begleitet von dieser starken, Pro-Putin- und Pro-Kadyrov-Propaganda wird eine nicht weniger starke Gegen-Propaganda betrieben. Personen in einschlägigen Social-Media-Kanälen werten die durch Kadyrov und seine Anhänger verbreiteten Videos und Fotos aus und zeigen Diskrepanzen auf. Hierzu gehört zum Beispiel das Verbreiten von Sprachnachrichten und anderen Quellen, die die von Kadyrov postulierten Verluste tschetschenischer Kämpfer auf unter zwei beziffern, und diese widerlegen, etwa durch eine Person, die von gefallenen Angehörigen berichtet.

 

Weiterhin werden scheinbar an der Frontlinie aufgenommene Videos tschetschenischer Soldaten dekodiert und zum Beispiel an weit von den Kampfgebieten entfernten Orten verortet. Verdächtig ist auch, dass, während russische Militärangehörige ihre Smartphones, Tablets und Laptops abgeben mussten, tschetschenische »Kadyrovtsy« munter durch die Ukraine zu ziehen scheinen und ihre Kampfbereitschaft und Ausrüstung filmisch festhalten.

 

Ziel der Propaganda um speziell diese tschetschenische Kampfeinheit scheint vor allem Einschüchterung

 

Andere Quellen berichten davon, dass der Einsatz von Kadyrovtsy im Ukrainekrieg auf russischer Seite dem zynischen Kalkül Putins dient, dass die russische Öffentlichkeit weniger erzürnt über Verluste tschetschenischer Kämpfer als ethnischer Russen wäre. Dieses Narrativ wird unterstützt durch Quellen, die davon berichten, dass es sich bei den auf Kadyrov-nahen Kanälen verbreiteten Videos und Bildern augenscheinlich um gut genährte Mitarbeiter einer Art Social-Media-Team handelt, während die tatsächlichen tschetschenischen Kämpfer in einem anderen (Gesundheits-)zustand sind.

 

Ziel der Propaganda um diese tschetschenische Kampfeinheit scheint vor allem Einschüchterung: Die russische Führung instrumentalisiert das Stereotyp der als besonders brutal, kampferprobt und -freudig geltenden Tschetschenen im Sinne einer psychologischen Kriegsführung, um die Ukraine zum Aufgeben zu bewegen. In dieses Narrativ lässt sich dann auch die Behauptung einordnen, dass Kadyrovs Eliteinheiten angeblich mit dem Auftrag in die Ukraine entsandt wurden, ein Attentat auf den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Zelenskyi zu verüben.

 

Auch aus militärisch-strategischer Sicht scheint unwahrscheinlich, dass Kämpfern, entsandt aus Tschetschenien, eine Schlüsselrolle in Putins Angriffsstrategien zukommt. Da die Privatarmee des tschetschenischen Diktators vorrangig Teil der russischen Nationalgarde ist, wird diese vor allem zu innenpolitischen Zwecken und zur Aufrechterhaltung der sogenannten inneren Ordnung eingesetzt.

 

Sie sind Einschätzungen von Experten zufolge nicht für einen Angriffskrieg und dem Einsatz direkt an der Front ausgebildet. Obwohl sie bereits an anderen internationalen kriegerischen Auseinandersetzungen wie in Syrien beteiligt waren, scheint es wahrscheinlicher, dass sie als Besatzungsmacht in den von der russischen Armee eroberten Gebieten genutzt werden sollen.

 

Berichte über eine Evakuierung von Familienangehörigen des Kadyrov-Clans nach Dubai

 

Dass derart viele seiner Garanten für die Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit und die Unterdrückung von Protesten in die Ukraine entsendet wurde, scheint auch Machthaber Kadyrov zu beunruhigen. Obwohl umgehend Dementi folgten, gelangten Berichte über eine Evakuierung von Familienangehörigen des Kadyrov-Clans nach Dubai direkt zu Kriegsausbruch an die Öffentlichkeit.

 

Hintergrund könnten deutlich höhere Verluste auf Seiten der Kadyrotsy in der Ukraine sein. Denn die könnten zu einer Erosion des tschetschenischen Machtapparats führen, sobald die in der Bevölkerung gefürchteten Sicherheitskräfte und somit das Hauptinstrument der Terrorisierung jeglicher politischer Opposition fehlt. Ein so entstehendes Vakuum innerhalb Tschetscheniens würde dann höchstwahrscheinlich zu Aufstand, Protest und Widerstand in der bislang unterdrückten Bevölkerung führen.

 

Auf pro-ukrainischer Seite kämpfen vor allem Kriegsveteranen. Viele von ihnen waren schon im Ukrainekrieg 2014 gegen die russische Besetzung der Krim im Einsatz, oder aber sind bereits in unterschiedlichem Ausmaß durch die beiden Tschetschenienkriege in den 1990er Jahren geprägt. Jegliche Art von bewaffnetem Konflikt, in welchem Russland als einer der beiden Konfliktparteien auftritt, dient als Chance, den eigenen Krieg weiterzuführen.

 

Die jüngere Geschichte, vor allem der Krieg in Syrien, in dem Russland auf der Seite des Assad-Regimes unter anderem gegen den sogenannten Islamischen Staat (IS) ins Feld zog, dient hierfür als Zeugnis. Nicht nur aus dem Nordkaukasus selbst, sondern auch der nordkaukasischen Diaspora in Europa haben sich überdurchschnittlich viele Personen dem IS angeschlossen.

 

Aus dschihadistischer Sicht handelt es sich bei dem Konflikt in der Ukraine um einen »Krieg der Ungläubigen«

 

Obwohl hier natürlich islamistischer Extremismus beziehungsweise Dschihadismus eine große Rolle gespielt haben, lässt sich mit Sicherheit sagen, dass auch Russlands Beteiligung am Krieg einer der Hauptmotivatoren für die Kampfbereitschaft nordkaukasischer Kämpfer war. Solche kriegerischen Auseinandersetzungen können immer als eine Art verlängerter und ausgelagerter Konflikt zwischen Tschetschenien und Russland gesehen werden. Dies führt dazu, dass in Ländern mit einer tschetschenischen beziehungsweise nordkaukasischen Diaspora internationale Konflikte mit russischer Beteiligung immer eine Reaktion erzeugen.

 

Es sind bereits die ersten Beiträge aufgetaucht, die von Tschetschenen berichten, die erst für den IS gekämpft haben und sich nun in die Ukraine aufmachen oder angeblich bereits vor Ort sind. Bislang lassen sich diese Ausreisen nicht unabhängig bestätigen, als authentisch können allerdings Aufrufe zum Kampf in einschlägigen Social-Media-Kanälen gehandelt werden.

 

Dennoch muss man einen weiteren entscheidenden Aspekt beachten, vor allem im Kontext einer Gleichsetzung von tschetschenischen Dschihadisten und denjenigen, die nun in den Kampf gegen Russland ziehen wollen. Aus dschihadistischer Sicht handelt es sich bei dem Konflikt in der Ukraine um einen »Krieg der Ungläubigen« – und da sollten sich Muslime nicht einmischen.

 

Die Beteiligung an Kampfhandlungen von Tschetschenen wird teilweise sogar scharf verurteilt. Tschetschenischen Dschihadisten, die zuvor zum Beispiel in den Reihen des IS dienten, scheinen sich derzeit also eher in einer Art Interessengegensatz zwischen den dschihadistischen Anweisungen und dem eigenen Konflikt mit der russischen Führung zu befinden.

 

Der Großmufti von Tschetschenien hat die russische Invasion und die Beteiligung an diesem Kampf als »Dschihad« bezeichnet

 

Allerdings könnten einige Faktoren und Entwicklungen dazu beitragen, dass sich nicht nur dschihadistisch motivierte Personen aus der tschetschenischen Diaspora am Krieg in der Ukraine beteiligen werden: Salah Mezhiev, der Großmufti von Tschetschenien, hat die russische Invasion und die Beteiligung an diesem Kampf als »Dschihad« und »Krieg für den Propheten und Islam« bezeichnet. Das könnte unter tschetschenischen Dschihadisten beziehungsweise Islamisten generell als eine Art Beleidigung der Religion verstanden werden und dazu führen, sich am Krieg in der Ukraine zu beteiligen.

 

Weiterhin scheint sich Kadyrov selbst seit mindestens dem 13. März in der Ukraine aufzuhalten. Entsprechende Videoaufzeichnungen, von ihm selbst verbreitet, können bislang nicht unabhängig bestätigt werden. Dennoch ist auch dieser Auftritt als eine Art Provokation zu werten, um die im Exil lebende tschetschenische Opposition zum Kampf in die Ukraine zu locken.

 

Mit dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine ist Europa in der für viele Beobachter ungewohnten Situation, mit einer direkten Kriegssituation konfrontiert zu sein. Inhaltliche Präzision und Kenntnis des genauen Sachverhalts sind jetzt besonders wichtig. Denn jegliche Art von öffentlicher und vorschneller Verdachtsäußerung zum Beispiel gegenüber der tschetschenischen Diaspora gleicht einer Diskreditierung und bedient direkt die Propagandanarrative von Putin, dass es sich bei pro-ukrainischen Kämpfern vor allem um kriminelle, terroristische und extremistische Akteure handelt. Effektiver ist es hier, dass Sicherheitsbehörden bereits aktiv Personen, die als besonders »anfällig« für eine Ausreise gelten, präventiv kontaktieren.

 

Gesellschaftlicher Zusammenhalt sowie Zugang zu offener und freier Berichterstattung durch Medien sind Europas stärkste Waffe für eine geschlossene, auf gesellschaftlichen Säulen fußende Opposition gegen das Putin-Regime. Vorschnelle Verurteilungen und Schlussfolgerungen in komplexen Sachverhalten würde zum Aufbrechen dieses Zusammenhalts führen. Es würden mehr Fronten entstehen, wenn Personen, die bereits durch Putins Krieg in Tschetschenien ihre Heimat verlassen mussten und etwa in Deutschland oder Österreich Zuflucht fanden, unter Verdacht gestellt werden und sich dadurch sogar verstärkt in der Pflicht sehen, in den aktiven Kampf gegen Russland zu ziehen.


Miriam Katharina Heß ist seit Januar 2022 Research Fellow im Projekt »Islamistische Radikalisierung und Extremismus in Europas tschetschenischer Community« im Programm Sicherheit und Verteidigung der DGAP.

Von: 
Miriam Katharina Heß

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