Lesezeit: 6 Minuten
Syriens Stämme nach dem IS

Die Beduinen kommen

Feature
Die Schammar und Syriens Zukunft
Foto: Philipp Breu

Nach dem Fall des IS werden die Karten im syrisch-irakischen Grenzgebiet neu verteilt. Ein Scheich aus dem Stamm der Schammar hat gelernt, wie man politische Machtkämpfe austrägt. Und er will zum ersten Mal die Nachkriegsordnung mitbestimmen.

Wäre da nicht die goldene Rolex an seinem Handgelenk, würde der Mann auf den ersten Blick bescheiden wirken. Aber Scheich Humaydi Daham Al-Hadi und seine Stammesarmee kontrollieren heute – unmittelbar nach den letzten großen Gefechten gegen den sogenannten Islamischen Staat (IS) – mehrere tausend Quadratkilometer Boden. Darunter ein Grenzübergang zum Irak, mehrere Ölfelder im Süden. Und bis zu 10.000 Mann unter Waffen.

 

Im Gegensatz zu den Kurden in Nordsyrien steht sein Stamm, der zu den Beduinen der Schammar gehört, nach der erfolgreichen militärischen Offensive gegen den IS heute ganz gut da. Scheich Humaydi war für Konsultationen bereits in Damaskus, Bagdad und Moskau und versucht in alle Richtungen, die Gebietsgewinne für seinen und die von ihm kontrollierten Stämme langfristig zu legitimieren.

 

Das Hauptquartier des wohl über 70-jährigen Scheichs liegt in Tell Alo, etwa eine Stunde entfernt von Qamischli, der Verwaltungshauptstadt des kurdisch kontrollierten Teils Nordsyriens. Von den Einwohnern in der Gegend, mehrheitlich ethnische Araber, wird das zweistöckige Haus meist nur »der Palast« genannt. Tell Alo ist ein winziges Dorf, die meisten Menschen hier leben von Viehzucht und in schlichten aus Lehm gebauten Hütte. Einige sogar noch als Nomaden.

 

Aus manchen Teilen Syriens kommen sie zu ihm, tagsüber sitzen Vertreter und Delegationen verbündeter Stämme in seinem Außendiwan im Innenhof der großen Anlage, abends zieht man sich in die große Halle zurück. Alles ist mit Teppichen ausgelegt, der Stammesfürst und seine Gäste rauchen ohne erkennbare Pausen Zigaretten. Der Scheich ist immer von einer Entourage an Personal umgeben, seien es kleine Jungs, die Kaffee und Tee servieren, oder große Männer in Flecktarnuniformen, die schwer bewaffnet für seine Sicherheit und die seiner Gäste sorgen.

 

Früher waren die Soldaten unter seinem Kommando eine Stammesarmee, die 2013 in eine bewaffnete Miliz mit politischer Partei umgewandelt wurde. Al-Sanadid – »Die Mutigen« heißt die 6.500 bis 8.000 Mann starke Truppe heute. Angeführt werden die Männer von einem der Söhne des Scheichs, Bandar Al-Hadi, der auch als sein möglicher Nachfolger gehandelt wird. »Bandar genießt unter den Männern das größte Ansehen und hat Führungsqualitäten«, sagt Abdallah, einer der Assistenten des Scheichs, der auch als sein Pressesprecher fungiert. Bandar hat der Truppe zu ihrer heutigen Schlagkraft verholfen, seine Männer sind nicht nur bewaffnet, sondern kontrollieren ein mehrere zehntausend Quadratkilometer großes Gebiet in Syrien, das bis zu den Ölfeldern in Deir ez-Zor im Südosten Syriens reicht.

 

Die Truppe hat zahlreiche Schlachten gegen den IS geschlagen und hat ausreichend Erfahrung gewonnen, die sie heute nutzt, um mit Checkpoints Straßen und Verkehr zu kontrollieren. Auch ein Grenzübergang in den arabischen Teil Iraks gehört heute dazu. Dieser Grenzübergang nahe der irakischen Staat Rabia dürfte heute wohl zu den größten Einnahmequellen der Schammar und der Sanadid gehören.

 

Seit dieser Teil Syriens der Kontrolle des Assad-Regimes entglitten ist, regiert Bandar Al-Hadi als Warlord so selbstsicher, dass die Zukunft für seine Schammar fast schon gesichert scheint. »Wir sind stark genug, nicht nur um uns selbst zu schützen, sondern ganz Syrien und Irak, wenn es sein muss«, sagt Bandar und steht dabei inmitten der Basis seiner Miliz, umgeben von einem guten Dutzend bewaffneter Männer in Flecktarn, die ihm als persönliche Prätorianergarde dienen. »Andere Stämme vertrauen uns, deswegen werden wir in der Zukunft auf jeden Fall mehr Einfluss hier haben. Wir haben sogar Einfluss auf den IS in Syrien, weil einige ihrer Mitglieder zu unseren Stämmen gehören.«

 

Der Teil der Schammar, der Scheich Humaydi Al-Hadi folgt, führt also mittlerweile nicht nur Konsultationen mit dem Regime in Damaskus, sondern auch über ein Maß an militärischer Stärke, um sich zur Wehr zu setzen – und geht deshalb selbstbewusst in die Verhandlungen.

 

Doch ähnlich wie den Kurden müsste auch dem Scheich bewusst sein, dass eine militärische Konfrontation mit der syrischen Armee und Russland am Ende kaum Aussichten auf Erfolg hätte. Verhandlungen für größere Stammesautonomie erscheinen in dieser Perspektive eher wie ein Spiel auf Zeit, bevor sie die Kontrolle über das Land wieder an Assad abgeben müssen. »Wir als Stamm betrachten Assad nicht als Feind, aber wir wissen sicher, dass die Schammar in der Zukunft Syriens eine größere Rolle spielen müssen als bisher«, sagt Scheikh Al-Hadi, während er an einer Marlboro zieht.

Von: 
Philipp Breu

Banner ausblenden

Die neue zenith 02/2022 ist da: Reise zum Mittelpunkt der Erde

Reise zum Mittelpunkt der Erde

Die neue zenith ist da: mit einem großen Dossier zur Region Persischer Golf und überraschenden Entdeckungen. Von Archäologe über Weltpolitik und Wattenmeer zu E-Sports und großem Kino.

Banner ausblenden

Newsletter 2

Der heiße Draht

Frische Analysen, neue Podcast-Folgen, exklusive Einladungen zu Hintergrundgesprächen und Werkstattberichte: Jeden Donnerstag erhalten tausende Abonnenten den zenith-Newsletter. Sie  wollen auch auf dem Laufenden bleiben? Dann melden Sie sich hier kostenlos an.

Banner ausblenden

WM Katar

So eine WM gab es noch nie

Auf 152 Seiten knöpfen sich Robert Chatterjee und Leo Wigger alle wichtigen Fragen rund um die erste Fußball-WM in einem arabischen Land vor.