Lesezeit: 10 Minuten
Schiitische Milizen in Syrien: Dschihadismus vs. Muqawamismus

Die Dschihadisten der anderen?

Analyse
Schiitische Märtyrer
Mitglieder einer irakisch-schiitischen Einheit, die 2015 im Umland von Damaskus getötet wurden und auf dem Friedhof von Nadschaf im Irak bestattet sind. zenith

Ihr Einsatz in Syrien ist kriegsentscheidend und sie geraten zunehmend ins Visier Israels und der USA. Was die schiitischen Milizen antreibt, unterscheidet und warum es Zeit ist für einen neuen Begriff.

Die gefährliche Eskalation in Syrien der vergangenen Woche hat sie wieder einmal ins Zentrum des Geschehens gerückt: ausländische Milizen, die auf Seiten des Regimes kämpfen. Ein US-Luftschlag bei Deir ez-Zour gegen regimetreue Paramilitärs machte vor allem deshalb Schlagzeilen, weil dabei womöglich Kämpfer eines russischen Militärunternehmens ums Leben kamen. Getötete Iraker, Iraner, Afghanen oder Pakistaner in Syrien scheinen hingegen beinahe alltäglich.

 

Diese Freiwilligen aber, die auf Seiten des syrischen Regimes kämpfen und gemeinhin als »schiitische Milizen« bezeichnet werden, waren ebenfalls Gegenstand der jüngsten Konfrontation – ebenso wie bei jenem Vorfall, der zum Abschuss eines israelischen Kampfjets führte. Ein irakisch-schiitischer Kleriker namens Scheich Akram al-Kaabi, Anführer der hauptsächlich aus irakischen Kämpfern bestehenden Miliz »Harakat Hizbullah al-Nujaba« kündigte daraufhin an, seine Männer würden an der Seite der libanesischen Hizbullah gegen Israel kämpfen – bereits im Sommer 2017 hatte er verlauten lassen, man wolle für Syrien auch den israelisch besetzten Golan befreien.

 

Diese Milizen, die spätestens 2013 auf syrischem Terrain gesichtet wurden, ziehen nicht nur den Hass der Opposition auf sich. Auch viele regimetreue Syrer betrachten ihre Präsenz argwöhnisch, wenngleich man ihre Tapferkeit nicht abstreiten kann. Sie gelten als Legionäre Irans in Syrien, zuweilen auch als schiitisches Pendant zu den fremden Landsmannschaften bei Al-Qaida oder dem sogenannten Islamischen Staat (»Daish«): Ausländer also, die sich einmischen und die Verwüstung Syriens tatkräftig vorantreiben. Die USA und Israel, die die Absicht hegen, den iranischen Einfluss in Syrien notfalls auch mit militärischer Gewalt zurückzudrängen, werden sich wohl weiterhin auf diese Gruppen einschießen, wobei sie sich auf Saudi-Arabiens Unterstützung verlassen können.

 

Ausländische Landsmannschaften, Bürgerwehren, Stämme

 

Die Kämpfer der libanesischen Hizbullah ausgenommen, stammen die meisten schiitischen Freiwilligen aus dem Irak, zu einem Gutteil aber auch aus den von iranischer Kultur beeinflussten Staaten West- und Zentralasiens: Iran, Pakistan und Afghanistan. Einige der irakischen Verbände finden sich unter gleichem Namen und Abzeichen auch in den Reihen der paramilitärischen Volksmobilisierungseinheiten Al-Hashd al-Shaabi wieder. Ihr Einsatz in Syrien ging der Gründung des Hashd allerdings voraus – dessen Führungskader betonen deshalb immer wieder, die Milizen seien zwar mit Billigung der irakischen Behörden, aber auf eigene Rechnung in Syrien und stünden nicht in der Befehlskette des Hashd.

 

Nicht alle schiitischen Verbände in Syrien sind allerdings Ausländer: Entgegen der weit verbreiteten Behauptung, es gebe so gut wie keine Schiiten in Syrien, ist die vor einigen Jahren rund 150.000-200.000 Köpfe zählende schiitische Minderheit durchaus dynamisch und einflussreich, zumindest in der Hauptstadt Damaskus. Iranische Unternehmen und Stiftungen, Tourismus zum schiitischen Schrein der Heiligen Zainab, aber auch die Präsenz hunderttausender schiitisch-irakischer Flüchtlinge in Syrien seit 2003 haben ihre Position gestärkt.

 

In einigen schiitischen Dörfern in der Provinz Idlib, vor allem aber in von Schiiten bewohnten Damaszener Vierteln gründeten sich in den vergangenen Jahren Bürgerwehren, welche die Abzeichen und Slogans großer Verbände wie Hizbullah kopierten und von diesen zum Teil angeleitet wurden, sich aber aus lokalen Kräften rekrutierten. Ferner mobilisierten die Sicherheitsdienste des Regimes zu Beginn des Aufstands 2011 freiwillige Paramilitärs aus einigen von Schiiten bewohnten Dörfern im Umland von Homs. Die Rebellen nannten diese Gruppen zunächst einfach »Shabiha« – Plünderer und Marodeure.

 

2016 erschien ein neuer, syrischer Typus sogenannter schiitischer Milizen auf der Bildfläche: Regimetreue Stammeskämpfer, die vor allem unter den beduinischen Baggara ausgehoben werden. In den Provinzen Deir ez-Zour und Hasakeh sollen sie gegen kurdische Einheiten, Dschihadisten oder sunnitisch-arabische Rebellen kämpfen. Diese ursprünglich nicht schiitischen, sondern eher vom Sufismus beeinflussten Verbände operieren heute unter typisch schiitischen Fahnen und Slogans – etwa den Namen von Schwiegersohn und Enkel des Propheten, Ali und Hussein.

 

Dies gilt manchen Beobachtern als Beleg dafür, dass iranische Kräfte unter den Syrern aggressiv Missionarsarbeit betreiben. Wenn bestimmte Stämme in der Region für die typischen Slogans und Symbole empfänglicher sind als andere, mag das aber auch daran liegen, dass sie ihre eigene Entstehungslegende auf das Haus des Propheten, Alis und Husseins zurückführen. Deren Verehrung ist ein wesentliches, aber eben kein Alleinstellungsmerkmal der Schiiten.

 

Der Einsatz der syrischen »schiitischen Milizen« war für das Regime nicht kriegsentscheidend. Anderes gilt für die Kämpfer der libanesischen Hizbullah und der ausländischen Kontingente. Deren militärischer Erfolg gründete sich auf starke ideologische Motivation, einen erprobten Modus Operandi und hohe Einsatzflexibilität. Die schiere Anzahl verschiedener, abweichend gleich erscheinender Milizen in Syrien – es dürften insgesamt mehrere Dutzend sein – lässt ein bewährtes Muster erkennen: Sie replizieren sich.

 

Neue Gruppen entstehen, sofern sich eine als fähig erkannte und halbwegs charismatische Führungsfigur findet. Das Prinzip gleicht dem der Zellteilung – eine Milizen-Mitose gewissermaßen, die erklärt, weshalb sie, um im Bild zu bleiben, zum Teil identische DNA aufweisen. Größere Verbände mit Vorbildfunktion wie die libanesische Hizbullah oder die im Umfeld des schiitischen Zeinab-Schreins bei Damaskus ansässigen Brigaden Abu Fadl al-Abbas dienen dabei als Inkubator. Die iranische Qods-Streitmacht und Offiziere der Revolutionsgarden stellen Know-How sowie einen Großteil der Ausrüstung und Finanzierung.

 

Die Dschihadisten der anderen?

 

In ihrem Selbstbild stehen diese Gruppen den Entrechteten und Unterdrückten bei – was für sie historisch gleichbedeutend mit schiitisch ist. Sie kämpfen nach eigenem Dafürhalten gegen den »Takfirismus« – eine von dschihadistischen Gruppen wie Daish oder Al-Qaida betriebene, zur Ideologie gewordene Praxis, Schiiten als Abtrünnige und Ungläubige zu ächten. Für die schiitischen Gruppen ist die proaktive Selbstverteidigung dagegen nichts weniger als ein gerechter Kampf, ein »Dschihad«. Manche Autoren und Analysten betrachten sie deshalb als schiitische Dschihadisten, die folglich ebenso zu bekämpfen sind wie Al-Qaida oder Daish. Dieser Begriff verwischt jedoch wesentliche Unterschiede – unabhängig von etwaigen politischen oder moralischen Werturteilen.

 

Man kommt einer präzisen Definition des Dschihadismus heute wohl am nächsten, wenn man ihn als identitätsstiftende Ideologie bestimmter aus dem sunnitischen Spektrum hervorgegangener Sekten begreift, die den permanenten bewaffneten Kampf für »den Islam« ins Zentrum des Strebens von Muslimen rückt: unbeschränkt in Zeit und Raum.

 

Der Dschihad-Begriff der Dschihadisten ist total und totalitär. Waffenstillstand oder Frieden mit Schiiten, Christen oder anderen Ungläubigen kann es nicht geben – es sei denn als Kriegslist, die den endgültigen Sieg näher rücken lässt. Gruppen wie Daish fügten der Ideologie des Dschihadismus eine weitere Stufe hinzu: Selbst Sunniten die »vom Weg abkommen« und dieses totalitäre Dschihad-Projekt behindern, müssen mit dem schlimmsten rechnen. Schließlich befördern sie die Fitna, die innerislamische Spaltung.

 

Die Ideologie vieler schiitischer Gruppen propagiert den bewaffneten Dschihad nicht in dieser Form als Selbstzweck und betrachtet ihn eher als zeitlich und räumlich beschränkt. Sie kommt deshalb allerdings nicht gerade kompromissbereit daher: Ihre Fürsprecher mögen Sunniten nicht kollektiv das Muslimsein absprechen, aber sie verschärfen durch ihr Handeln oftmals den schiitisch-sunnitischen Zwist.

 

Der permanente Widerstand

 

Feindschaft gegen Israel oder allgemein den »Zionismus« haben sie gewissermaßen als Gründungsmythos und Quelle ihrer Legitimation von der Hizbullah und Iran übernommen; der jüngst wieder angefachte Streit um den Status von Jerusalem hat die »Rückeroberung« von Al-Aqsa dabei wieder in den Mittelpunkt gerückt. Gleichwohl rühmen sich schiitische Milizenführer in letzter Zeit – übereinstimmend mit der iranischen Haltung – als Beschützer von Christen und Jesiden. Der Dschihadismus hingegen lässt diesen Minderheiten erklärtermaßen nur die Wahl zwischen Unterdrückung, Versklavung oder Tod.

 

Dabei mag es Wechselwirkungen zwischen schiitischen Gruppen und Dschihadisten geben – im Zeitalter der Internet-Propaganda wäre es anders nicht vorstellbar. Der Politologe und Dschihadismus-Experte Asiem El-Difraoui (»Al-Qaida par l’image«) weist darauf hin, dass die Märtyrer-Darstellungen schiitischer Gruppen wie Hizbullah die modernen Dschihadisten nachhaltig geprägt haben.

 

Die Gruppen in Syrien, die gemeinhin als »schiitische Milizen« zusammenfasst werden, mögen einen bewaffneten Dschihad führen, ihr identitätsstiftender Begriff ist allerdings al-Muqawama – der Widerstand. Dieses ideologische Konzept, meist mit dem Attribut »islamisch« versehen, soll der Herstellung der Gerechtigkeit dienen und, wie manche dieser Gruppen propagieren, die Ankunft des schiitischen Erlösers, des Mahdi, vorbereiten.

 

Leid und Unterdrückung, die es zu überwinden gilt, sind die Hauptmotive im schiitischen Narrativ, ausgehend von der Geschichte Alis und Husseins, die demnach im 7. Jahrhundert von den Umayyaden um die rechtmäßige Führung der Muslime, das Kalifat, gebracht wurden. Der Widerstand gegen jedwede Herrschaft, die als ungerecht betrachtet wird – ob Kolonialismus, Israel, das Schah-Regime, oder das wahhabitische saudische Königshaus – wurde zur raison d'être vieler schiitischer Aktionsgruppen. Diese Ideologie bietet nicht nur Anknüpfungspunkte für schiitische Minderheiten in Afghanistan, Pakistan oder dem Nahen Osten, sie ist auch eine Art Staatsdoktrin der Islamischen Republik Iran.

 

Um die herausragende Rolle des Widerstandsbegriffs (Muqawama) als verbindendes Merkmal zu erfassen, bietet sich die Einführung eines neuen Begriffs an: Muqawamismus, als Lehnwort aus dem Arabischen – analog zum Dschihadismus. Der Begriff Dschihadismus wurde von den Mainstream-Medien angenommen und ersetzt inzwischen weitgehend den wenig trennscharfen »Islamismus« als Beschreibung für extremistische Gruppen wie Al-Qaida oder Daish.

 

Pragmatiker und Endzeitliche

 

Die Ideologie des Widerstandes mag schwer vereinbar sein mit der Tatsache, dass die schiitischen Milizen an der Seite des syrischen Baath-Regimes kämpfen – eine Herrschaft, die sie mitunter selbst als dhalim, als unterdrückerisch, betrachten. Viele »Muqawamisten« gestehen diesen Widerspruch sogar offen ein; sie führen allerdings pragmatische Motive an: Die Alternative zu Assad seien sunnitische Extremisten, die man an der Zerstörung schiitischer Wallfahrtsorte und der Destabilisierung der Heimatländer der Schiiten hindern müsse.

 

Der Begriff des Muqawamismus kann nun helfen, eine Geisteshaltung zu beschreiben, die die politischen und sozialen Umstände dieses Konflikts weitgehend ausblendet. So können Akteure, die sich selbst und andere von Unterjochung befreien wollen, leicht selbst zu Unterdrückern werden.

 

Unter den Führungskadern der muqawamistischen Gruppierungen lassen sich verschiedene Schattierungen ausmachen: Insbesondere bei den Irakern finden sich Pragmatiker, die das Assad-Regime zwar ablehnen, aber aus taktischen Gründen stützen – dies mit Billigung der irakischen Regierungen seit 2011. Sie betrachten es mitunter als Chance, sich Ruhm, Geld und Machtoptionen zu verschaffen.

 

Den »orthodoxen« Muqawamisten wiederum ist der Kampf für die Sache Alis und Husseins real und jetztzeitig – der Konflikt zwischen sunnitischen und schiitischen Mächten historische Kontinuität. Schließlich gibt es noch die Minderheit der »Endzeitlichen«, deren Geisteshaltung jener der Dschihadisten wohl am nächsten kommt. Sie erwarten sehnsüchtig den Mahdi. Und ähnlich wie viele Daish-Kämpfer sehen sie Syrien als das Schlachtfeld für den großen Showdown: Al-Malhama Al-Kubra – das große Gemetzel vor dem Untergang der Welt.

Von: 
Daniel Gerlach

Banner ausblenden

Die neue zenith 02/2022 ist da: Reise zum Mittelpunkt der Erde

Reise zum Mittelpunkt der Erde

Die neue zenith ist da: mit einem großen Dossier zur Region Persischer Golf und überraschenden Entdeckungen. Von Archäologe über Weltpolitik und Wattenmeer zu E-Sports und großem Kino.

Banner ausblenden

Newsletter 2

Der heiße Draht

Frische Analysen, neue Podcast-Folgen, exklusive Einladungen zu Hintergrundgesprächen und Werkstattberichte: Jeden Donnerstag erhalten tausende Abonnenten den zenith-Newsletter. Sie  wollen auch auf dem Laufenden bleiben? Dann melden Sie sich hier kostenlos an.

Banner ausblenden

WM Katar

So eine WM gab es noch nie

Auf 152 Seiten knöpfen sich Robert Chatterjee und Leo Wigger alle wichtigen Fragen rund um die erste Fußball-WM in einem arabischen Land vor.