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Schicksalsjahr 1979

Der Vierzigjährige Krieg

Essay
Schicksalsjahr 1979

Das Jahr 1979 wird als der perfekte Sturm in die Zeitgeschichte eingehen. Wir sind gerade erst dabei, alle Konsequenzen zu überschauen, die es hervorgebracht hat.

Ein innerer Konflikt, der eskaliert, bald religiös-konfessionelle Dimensionen annimmt. Massenhafte Gewalt, die ganze Landstriche verheert und  Volkswirtschaften kollabieren lässt. Krieg, der den Krieg ernährt. Ein ausuferndes Gemetzel, das Profiteure, Plünderer, vagabundierende Söldner, Milizen, von Rache angetriebene Entrechtete und Fanatiker hervorbringt und dabei Abertausende in die Flucht treibt. Regionale und schließlich globale Akteure mischen sich ein, unter dem Vorwand, ihre Verbündeten zu schützen, Schlimmeres verhindern zu wollen oder ein Gleichgewicht der Waffen wiederherzustellen.

 

2018, im Jubiläumsjahr des Prager Fenstersturzes (1618) und des Westfälischen Friedens (1648), wurde bei uns viel an die erste große deutsche Katastrophe erinnert. Und es verbreitete sich eine weitere These: Was sich derzeit im Nahen Osten zuträgt, ist diesem Krieg frappierend ähnlich.

 

Tatsächlich gibt es viele Parallelen, die sich vordergründig aufdrängen. Und für irgendwas muss es ja gut sein, dass man sich in der Geschichte auskennt und das historische Wissen auch zur Anwendung bringen kann. Der beliebte Vergleich mit dem Dreißigjährigen Krieg soll vom Ergebnis her gedacht werden: eine Art Westfälischer Frieden (1648) empfiehlt sich hier. Ein komplexes Vertragswerk, entstanden in vielen Einzelverhandlungen und unter Beteiligung aller bedeutenden Akteure, das nicht nur das Leid der Menschen beenden, sondern auch einen Beitrag zur regionalen Friedenssicherung sein kann.

 

Viele haben sich dieser Sicht angeschlossen und die Motive des Dreißigjährigen Krieges und des Westfälischen Friedens in ihre Erwägungen zu Syrien aufgenommen: Der ehemalige Außenminister und heutige Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, der langjährige Sondergesandte der Vereinten Nationen für Syrien, Staffan di Mistura, der Berliner Politologe und Ein-Mann-Thinktank Herfried Münkler.

 

Selbst im Nahen Osten hört man heute immer häufiger Bezugnahmen auf das dunkle deutsche 17. Jahrhundert. Und der ehemalige CIA-Chef und US-Verteidigungsminister Leon Panetta nannte den Krieg gegen die Organisation »Islamischer Staat« 2014 einen »neuen Dreißigjährigen Krieg«.

 

Historische Überlegungen und akademische Gedankenspiele schaden nie. Und man kann davon ausgehen, dass sich diejenigen, die versuchen, die Erfolge der Verhandlungsführer von Münster und Osnabrück auf den Nahen Osten der heutigen Zeit anzuwenden, die Beschränkungen eines derartigen Experiments stets vergegenwärtigen.

 

Vorsicht ist allerdings trotzdem geboten: Denn die politischen Entscheidungsträger könnten solche Analogien zur Grundlage ihrer Lageeinschätzung und am Ende gar ihres Handelns machen. Wer aber der Ansicht ist, dass wir uns in der Mitte – oder gar am Anfang – eines Dreißigjährigen Krieges in Nahost befinden, wird es nicht eilig haben, diesen Zustand zu beenden. Erst muss alles noch viel schlimmer werden, bevor es besser wird. Bevor die Kriegsparteien müde, die Schatztruhen leer, die Bauern tot und die Priester mit deren Witwen verheiratet sind und schlussendlich die Religion als Kriegsvorwand diskreditiert ist.

 

Vierzig Jahre, in denen sich die großen Rivalen der Region ein Nullsummenspiel zur Verhinderung der Macht- und Expansionspläne des anderen lieferten

 

Die Befürworter des »Westfälischen Modells« im Nahen Osten gehen davon aus, dass es wechselseitiger Garantien der Konfliktparteien bedürfe. Dass die regionalen Parteien offen über ihre Sicherheitsinteressen sprechen und kollektiv Verantwortung für regionale Probleme übernehmen müssen. So wie einst Frankreich, Schweden, das Habsburgerreich gegenüber den Städten und Fürstentümern in den vom Dreißigjährigen Krieg betroffenen Gebieten.

 

Von durch Großmächte garantierten Sicherheitszonen ist die Rede, auch von international vereinbarten und garantierten Minderheitenrechten und einer »höheren Autorität«, bei der Bürger gegebenenfalls Beschwerde gegen die Rechtsverletzungen seitens ihrer Regierungen einlegen können. Die beiden großen Kontrahenten der Region, Saudi-Arabien und Iran, müssten sich zu einer wechselseitigen Anerkennung ihrer Sicherheitsinteressen, aber auch ihres jeweiligen Selbstverständnisses durchringen – etwa dadurch, dass Iran die »faktische Schutzherrschaft« Saudi-Arabiens über die Heiligen Stätten von Mekka und Medina anerkennen sollte.

 

Andere nehmen nicht den Westfälischen Frieden, sondern Beispiele aus der Zeitgeschichte zum Vorbild, etwa die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), die einen unbestreitbar großen Beitrag zur Friedenssicherung und Vertrauensbildung in der Zeit des Kalten Krieges geleistet hat.

 

Die beiden Nahost-Experten Christian-Peter Hanelt und Christian Koch verfassten bereits 2005 ein Papier für das Auswärtige Amt, in dem sie Ansätze für eine »KSZE Golf« skizzierten. Dieser und andere Vorschläge, wie eine solche permanente Konferenz zur Vermeidung militärischer Eskalation zu gestalten wäre, liegen seit Jahren in den Schreibtischfächern der Ministerien.

 

Vielleicht ist die Chance darauf derzeit sogar günstig, da der Nahe Osten sich möglicherweise gar nicht in der Mitte eines Dreißigjährigen Kriegs befindet. Sondern eher am Ende eines anderen, eines Vierzigjährigen. Vor vierzig Jahren nämlich, im Jahr 1979, begann für die Region ein Teil der Gegenwart, wurde sie zu dem, was sie heute immer noch ist, und zwar durch das Zusammenwirken weltpolitischer Ereignisse. Manche davon verliefen parallel, andere als mittelbare oder auch nur scheinbare Reaktionen aufeinander. Eine »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen«, wie der Historiker Ernst Bloch gesagt hätte, die sich allerdings erst später offenbarte.

 

 In Bagdad übernahm Saddam Hussein vollständig die Macht, schon bald befanden sich Iran und Irak in einem furchtbaren Krieg

 

1979 stürzte in Iran das Schah-Regime und aus dem Kaiserreich wurde eine Islamische Republik: Sozial bedingte, zum Teil klassenübergreifende Proteste, eine religiöse Befreiungsideologie und eine charismatische Führerfigur in der Gestalt Ruhollah Khomeinis versetzten die Welt in Staunen – und andere Regime in der Region, etwa das saudische, in Angst.

 

Die nationalistischen, pseudo-säkularen Ideologien der arabischen Welt wurden damals bereits langsam, aber sicher zum Tapetenanstrich degradiert. Sie wichen zunehmend der Herrschaft autoritärer Präsidenten, die sich vor allem aus sich selbst rechtfertigt.

 

In Bagdad übernahm Saddam Hussein vollständig die Macht, schon bald befanden sich Iran und Irak in einem furchtbaren, ein Jahrzehnt währenden Krieg, den die beiden jeweiligen Führer für ihre Machtinteressen nutzten: Saddam spielte die nationalistische Karte und versuchte – allerdings erfolglos – die arabische Minderheit in der iranischen Provinz Khuzestan auf seine Seite zu ziehen, Khomeinis Propaganda wiederum zielte auf die Schiiten im Irak.

 

In Saudi-Arabien besetzte eine Gruppe saudischer Extremisten um den aus der Provinz Qasim stammenden Beduinen Juhayman Al-Otaibi die Große Moschee in Mekka. Die wahhabitische Monarchie wurde davon ebenso kalt erwischt wie durch den Sturz des Schahs in Iran.

 

Das von einem kriegerischen Stammesführer gegründete Regime, das sich durch eine Allianz mit ultrakonservativen Klerikern legitimierte und behaupten musste, es vertrete die Sache des Islam, machte den Kehraus und sagte allem den Kampf an, was seine Macht unterminieren konnte: liberale Tendenzen in der Öffentlichkeit, die von Extremisten als Ausdruck westlichen, unmoralischen Lebenswandels wahrgenommen wurden. Aber auch von nationalistischen, islamistischen oder anderen politischen Ideologien und ihren Trägern.

 

Es wuchs allmählich auch wieder das Misstrauen gegen Schiiten, die traditionell vor allem an der Golfküste lebten, wo das Land immerhin seine großen Öl-Reserven hütet. Saudi-Arabien, das bis dahin keineswegs ein einheitliches Bild abgegeben hatte und an seinen Küsten mitunter multikulturelles Flair versprühte, wurde nun buchstäblich uniformiert: Technische Errungenschaften standen fortan kontrastreich neben den Sitten und Gewohnheiten der Beduinenstämme aus der gottverlassenen Wüste des Nedschd.

 

Das Jahr 1979 mag als Beginn einer Epoche nicht so sehr ins Auge springen, weil ihm das fehlte, was den Nahen Osten aus westlicher Sicht prägt: ein großer Krieg zwischen Israel und seinen Nachbarn. Im Gegenteil: Es war das Jahr eines bedeutenden Friedensabkommens zwischen den Feinden Israel und Ägypten, vorangetrieben durch US-amerikanische Vermittlung und geschlossen durch zwei äußerst gegensätzliche Politiker.

 

Der bis dahin als rechts und unerbittlich geltende Israeli Menachem Begin, ein einst von der britischen Mandatsmacht in Palästina per Kopfgeld gesuchter Ex-Terrorist, und Anwar Al-Sadat, ein charismatischer, mutiger, aber gewiss ebenso durchtriebener Machtpolitiker.

 

Dieser Frieden von Camp David und seine Folgen leisteten gleich mehreren Entwicklungen Vorschub, welche den Nahen Osten bis heute prägen: Die arabische Welt war gespalten, Ägypten, das sich selbst als Mutter des Arabischen Nationalismus sah, isoliert – auch durch saudische Intrigen mit dem Ziel, Kairos Führungsanspruch zu konterkarieren.

 

Und so hoffnungsvoll und zugleich konzessionsreich der Frieden von Camp David insbesondere für Israel sein mochte, das den Sinai aufgab, ließ er eine nachhaltige Lösung des Palästinaproblems nun erst recht in weite Ferne rücken: Wer gehofft hatte, es werde eine regionale Lösung geben, wurde enttäuscht.

 

Wenige Jahre später rückte Israel in den Libanon ein, um die PLO-Guerillas von dort zu vertreiben. Dort hatten konfessionelle Gewalt, der Sektarismus und der Einfluss rivalisierender Staaten bereits genügend Schaden angerichtet; die Invasion der Israelis, die dort auf syrische Interessen prallten, brachte den Libanon nicht nur an den Rand des Kollapses. Man trug auch noch – versehentlich – zur Gründung der schiitischen Miliz Hizbullah bei, die das Vakuum füllte. Und schließlich begann in den besetzten palästinensischen Gebieten ein Aufstand, eine Intifada.

 

Die Ära Sadat steht aber noch für eine andere Entwicklung: den bis heute bewährten manipulativen Umgang der arabischen Regime und ihrer Sicherheitsbehörden mit islamistischen Bewegungen, die man bekämpfte, unterwanderte, aber auch als Vorwand für die Mobilisierung der eigenen Gefolgschaft nutzte. Sadat selbst wurde später von Islamisten aus den Kreisen seines eigenen Militärs ermordet.

 

Staaten in der Region begannen, die jeweiligen Islamisten der anderen Seite für ihre Zwecke zu benutzen – etwa beim Aufstand der Muslimbrüder in Syrien

 

Die regional aktive islamistische Muslimbruderschaft und ihre militanten Flügel lieferten sich 1979 bereits Untergrundkriege mit den arabischen Regimen: in Ägypten ebenso wie in Syrien. Sie waren beseelt vom Vorbild der Islamischen Revolution in Iran, eine islamische Herrschaft zu errichten, und verliehen dem Konflikt eine starke konfessionelle Note: als Bedrohung für konfessionelle Minderheiten und Nicht-Muslime. Aus ihnen und ihrer Ideologie hervor gingen spätere dschihadistische Gruppierungen.

 

Und etwa zur selben Zeit, ebenfalls im Jahr 1979, begann der Einmarsch der Sowjets in Afghanistan: Hier wurde der bewaffnete Dschihad zum geopolitischen Instrument. Saudi-Arabien und die USA versuchten gemeinschaftlich, das »Reich des Bösen« an seiner empfindlichen Südflanke, in Zentralasien, zu schlagen und der Ausbreitung des Kommunismus in der islamischen Welt den Garaus zu machen.

 

Als Verbündeter bot sich Pakistan an, wo 1979 Ex-Präsident Zulfikar Bhutto hingerichtet wurde – von einem neuen Militär-Regime, das zugleich auf Islamisierung setzte. Um sich selbst zu legitimieren und alle Kräfte gegen traditionelle Rivalen, insbesondere Indien, zu mobilisieren.

 

Man könnte die Liste der Ereignisse noch weiterführen, bis man beim Golfkrieg, dem 11. September und dem Arabischen Frühling landet: Auch für die Eskalation des Kurdenkonflikts in der Region und die politische Gewalt in der Türkei spielte das Jahr 1979 eine große Rolle. Und in Westeuropa wurde man damals auch erster größerer, kriegsbedingter Migrationsbewegungen aus der Nahost-Region gewahr. Vierzig Jahre, in denen der politische Islam und Sektarismus an die Stelle der bankrotten Ideologien arabischer Regime rückten.

 

Es waren grenzüberschreitende Ideologien zur Mobilisierung, die mit dem Ausruf »Der Islam ist die Lösung« operierten. Staaten in der Region begannen, die jeweiligen Islamisten der anderen Seite für ihre Zwecke zu benutzen: Das zeigte sich etwa beim Aufstand der Muslimbrüder in Syrien, die von den Geheimdiensten Saddam Husseins unterstützt wurden. Und diese Operationen zur Bekämpfung und Eindämmung dieser Bewegungen waren grenzüberschreitend: eine Art analoge Vorstufe des »Kriegs gegen den Terror«, an dem sich auch die USA und Israel beteiligten.

 

Vierzig Jahre, in denen sich die großen Rivalen der Region ein Nullsummenspiel zur Verhinderung der Macht- und Expansionspläne des anderen lieferten. Vierzig Jahre, in denen sich insbesondere die westlichen Staaten auf eine Logik einließen, die fatale Folgen haben sollte: autoritäre, zum Teil gewalttätige Regime zu stützen und ihnen im großen Umfang Rüstungsgüter zu verkaufen – zur Wahrung eigener Sicherheitsinteressen, zur Bekämpfung terroristischer Gefahr.

 

Neigt sich diese Ära nun dem Ende zu? Oder setzt der Vierzigjährige Krieg sich weiter fort? Der Ausgang ist ungewiss, weshalb sich insbesondere die Theoretiker des Friedens nach Münster oder Osnabrück wenden.

 

Denn viel wichtiger als die Aha-Erlebnisse bei historischen Analogien soll ja eine Botschaft an die Akteure sein: Es ist möglich, selbst die verzwickteste, die aussichtsloseste Konfliktlage zu entflechten. Man kann sich gemeinsam aus dem tiefsten weltpolitischen Morast herauswinden, sofern ein großer Teil der Beteiligten zu dem Schluss kommt, dass ihm ein Ende des Krieges mehr bringt als dessen Fortführung.

 

Herfried Münkler mahnt, dass man aus dem Westfälischen Frieden die Lehre ziehen könne, dass sich Interessen besser als Grundlage von Verhandlungen eignen als »absolute Wertungen«, womit auch religiös begründete Weltbilder gemeint sein könnten.

 

Entscheidend ist hier aber noch etwas anderes, das uns vielleicht optimistisch stimmen könnte: Die Konflikte und Zerwürfnisse, die der Nahe Osten seit 1979 erlebt und die ihn in einen Abwärtsstrudel – mit tatkräftiger Hilfe äußerer Akteure – hineingezogen haben, sind keineswegs ein Schicksal, das ihn von der Antike bis zum Jüngsten Tag verfolgt. Viele dieser Konflikte sind jüngeren Datums und keine Fatalität. Das bedeutet, dass die Region sich auch wieder herauswinden kann.

Von: 
Daniel Gerlach

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