Lesezeit: 8 Minuten
Saied Kaies, Nabil Karoui und die Wahlen in Tunesien

Robocop gegen Al Capone

Feature
Saied Kaies, Nabil Karoui und die Wahlen in Tunesien
Kaies Saied umarmt einen seiner Wahlkampfhelfer, nachdem die Prognosen zum Ausgang des ersten Wahlgangs der Präsidentschaftswahlen in Tunesien eintreffen. Foto: Mirco Keilberth

Die Nachfolge im Präsidentenamt in Tunesien ist offen wie nie. Unterschiedlicher könnten Nabil Karoui und Saied Kaies kaum sein, doch beide Kandidaten gehen fair miteinander um. Das beeindruckt auch Beobachter in den Nachbarländern.

In dem heruntergekommenen Treppenhaus des Jugendstilgebäudes in der Rue du Ibn Khaldoun ist es still. Eigentlich zu still für diesen Moment. Es ist 18 Uhr, gerade haben 55.000 Wahllokale geschlossen. Die Präsidentschaftswahl ist die dritte demokratische Abstimmung in Tunesien überhaupt.

 

Kais Saied empfängt uns ohne viele Worte, seine Gesichtszüge scheinen fast unbewegt. Die ersten Hochrechnungen trudeln in dem Kampagnenbüro des Professors für Verfassungsrecht ein, eine Mitarbeiterin stürmt aus dem Nebenzimmer auf ihn zu und umarmt ihn weinend. Es sind Freudentränen, Kaies liegt mit 17 Prozent auf Platz eins, vier Prozent dahinter liegt Medienmogul Nabil Karoui. Die Ruhe, die der hochgewachsene Stoiker ausströmt, überträgt sich auf das Freiwilligenteam im Nebenraum. Dabei hat gerade ein politisches Erdbeben Tunesien erfasst.

 

»Im Auge des Sturms, der die Elite mit ihren PR-Agenturen und XXL-Plakaten an der Straße nach La Marsa hinweggefegt hat«

 

Der Freudenmoment dauert in der spartanisch eingerichteten Altbauwohnung keine fünf Minuten, dann küsst Kaies die tunesische Flagge, atmet durch und setzt sich an seinen leeren Schreibtisch. »Ich spüre eine große Verantwortung«, sagt der 62-jährige.

 

Saied Kaies, Nabil Karoui und die Wahlen in Tunesien
Das Wahlkampfteam von Kaies Saied verfolgt in dem spartanisch eingerichteten Hauptquartier am Wahlabend gebannt die Auszählung.Foto: Mirco Keilberth

 

Wahlkampfposter und Laptops sucht man hier vergebens, um den Konferenztisch starren seine Helfer vor vollen Aschenbechern auf den Bildschirm an der Wand. »Wir sitzen im Auge eines Sturms«, sagt einer, »der die Elite Tunesiens mit ihren PR-Agenturen und XXL-Plakaten an der Straße nach La Marsa hinweggefegt hat.«

 

Premierminister Youssef Chahed liegt mit 7,4 Prozent auf Platz fünf, der ehemalige Verteidigungsminister Abdelkarim Zbidi Platz vier mit 7,5 Prozent und Abdelfattah Mourou, der nette Onkeltyp der religiösen Ennhada-Partei, schafft es auf Platz drei mit 12,8 Prozent.

 

Saied Kaies, Nabil Karoui und die Wahlen in Tunesien
Ein Wahllokal in der Rue du Marseille im Zentrum von Tunis.Foto: Mirco Keilberth

 

Die Kenndaten der nach Tod des 92-jährigen Caid Essebsi kurzfristig einberufenen Wahl sind beeindruckend. 24 Kandidaten, 36.000 Soldaten sicherten die Urnen, 8.000 Wahlbeobachter prüften die Auszählung. Zwar stimmten mit 45 Prozent der sieben Millionen registrierten Wähler weniger als erwartet ab, aber nach einer der ersten TV-Debatte in der arabischen Welt standen die politischen Programme der Kandidaten erstmals im Vordergrund.

 

Seit zehn Jahren tourt Kaies Saied im Sammeltaxi oder seinem alten Opel Corsa durch Tunesien

 

Kaies Saieds Weg in die Stichwahl wird wohl als »unsichtbare Kampagne« in die Geschichte der Wahlwerbung eingehen. Stets penibel gekleidet, lehnt er Wahlkampfspenden und Großveranstaltungen ab, seit zehn Jahren tourt er im Sammeltaxi oder seinem alten Opel Corsa durch Tunesien. So unspektakulär wie seine Bürgergespräche endet auch der Abend am 15. September. Kaies schließt um 22 Uhr das Büro und geht einfach nach Hause.

 

In dem Nobelvorort Karthago wird in dem Moment noch auf der Straße gefeiert. Hunderte Anhänger von Nabil Karoui haben die Autoradios voll aufgedreht, es geht ausgelassen zu. Der Medienmogul könnte im Oktober auch in die Geschichte eingehen – falls er direkt aus der Gefängniszelle in den Präsidentenpalast einzieht.

 

In der Parteizentrale von »Coeur de Tunisie« liegen in jeder Ecke Flyer, Poster, Fähnchen aus, junge Hostessen betreuen die ausgelassen feiernden Gäste, Karouis Frau empfängt persönlich. Mithilfe einer französischen PR-Firma und des Kanals Nessma TV hat es der 57-Jährige mit dem Aufruf zu einem »Krieg gegen die Armut« in die Stichwahl geschafft. Der tödliche Autounfall seines Sohnes vor drei Jahren hätte ihn motiviert, »Wohltäter und Politiker im Dienste der Armen« zu werden, sagt er.

 

Dass seine Stiftung im Süden Tunesiens gute Arbeit leistet, finden auch viele Wähler, die Nabil Karoui nicht ihre Stimme geben

 

Der in einfachen Verhältnissen in Bizerte aufgewachsene Unternehmer ging in Caied Essebsis Palast ein und aus. Es ist wohl kein Zufall, dass er nur Wochen nach Essebsis Tod in die Fänge der Justiz geriet. Die Kontakte zu der mächtigsten Familie im Land hatte er zum Aufbau seines Medienimperiums genutzt.

 

In den letzten beiden Jahren tourte er mit der nach seinem Sohn genannten Stiftung durch die unterentwickelten Orte im Süden. In Sidi Bouzid und Kasserine hätte die »Khalil-Tunes-Stiftung« gute Arbeit geleistet, sagt der Projektleiter einer internationalen Hilfsorganisation und so sehen es auch viele, die Karoui nicht wählen. Konkurrent Saied kann dagegen mit Hocharabisch, der Forderung nach einer basisdemokratischen Bürgerkomitees und dem Ruf der Unbestechlichkeit punkten.

 

Der Medienunternehmer Karoui ist vor der Wahl in den Hungerstreik getreten und sieht sich als politischer Häftling. Tatsächlich fragen sich internationale Diplomaten, warum der von vielen Medien als »Berlusconi von Tunesien« titulierte Karoui nach dreijährigem Ermittlungsverfahren wegen Steuerhinterziehung und Geldwäsche ausgerechnet drei Wochen vor den Wahlen öffentlichkeitswirksam von einer Anti-Terror-Einheit verhaftet wurde.

 

Dass er im Gefängnis sitzt, hat Karoui nicht geschadet

 

Auch wenn Stil und Ideologie beider Kandidaten sich diametral gegenüberstehen, in einem sind sie sich einig: Das Hauptproblem Tunesiens ist die grassierende soziale Krise. Zwar hat sich der Kurs des Dinar in diesem Jahr durch Zuwächse im Tourismusbereich wieder erholt, doch die ständig steigenden Lebenshaltungskosten machen selbst gutsituierten Beamtenfamilien zu schaffen. 150.000 Studienabgänger suchen jedes Jahr vergeblich nach einem Job.

 

Der Sozialwissenschaftler Kouraish Jaouahdou glaubt, dass ein weiterer Faktor für den Ausgang der Wahlen entscheidend war. »Die Generation, die 2011 auf die Straße ging, hatte gehofft, dass dem Sturz Ben Alis eine Kulturrevolution folgt. Meinungsfreiheit haben wir erreicht. Doch das alte Regime, Korruption auf lokaler Ebene, Vetternwirtschaft und der soziale Druck der Familien sind präsenter denn je.«

 

Karoui und Saied sind sich vielleicht in den letzten Jahren in den Armenhäusern Tunesiens begegnet, Kaies wohl in seinem alten Opel Corsa, und Karoui in einer Kolonne von Toyota-Jeeps. Klassische Populisten sind beide nicht, die Verleumdung des politischen Gegners ist beiden fremd.

 

Nach der TV-Debatte schnellten die Umfragewerte für Kaies Saied weiter in die Höhe – zur Verwunderung aller Experten

 

»Ich weiß gar nicht, wie groß mein Unterstützer-Team ist, da wir lose organisiert mit Aktivisten im ganzen Land arbeiten«, sagt der Professor, der wegen seiner hölzernen Bewegungen in den sozialen Medien den Spitznamen Robocop verpasst bekommen hat. Nach der TV-Debatte schnellten seine ohnehin schon guten Umfragewerte zur Verwunderung aller Experten weiter in die Höhe.

 

»Wir wollen eine dezentralisierte Form von Staat, gestützt auf Recht und Gesetz, und nicht in der Hand einiger weniger. Lokale Komitees sollten Repräsentanten in das Parlament entsenden.« Zu seinen Überzeugungen gehört aber auch, dass Homosexualität mit Gefängnis bestraft werden solle und der Zivilgesellschaft die staatliche Förderung gestrichen muss, wenn sie sich in die Angelegenheiten des Staates einmischt.

 

Trotz der Schlagzeilen über seine Bemerkungen über Homosexualität als »Verschwörung gegen die tunesischen Werte« haben vor allem junge, gebildete Intellektuelle für »den Unbekannten« gestimmt. Schlecht ausgebildete Tunesier auf dem Land haben dagegen eher Karoui gewählt, er setzt hauptsächlich auf das Thema neue Arbeitsplätze. Dass er im Gefängnis sitzt, hat ihm nicht geschadet. »In Tunesien sitzen viele Leute unschuldig im Knast«, sagt Elfkah Kamel im Büro von Kais Said, ein paar Kilometer weiter.

 

Auf zwei Bildschirmen läuft die erste TV-Debatte von Präsidentschafts-Kandidaten in der arabischen Welt. Familien, Jugendliche, Libyer, Algerier, hängen gebannt an den Lippen der Kandidaten.

 

Mohamed Bashein sitzt vor einem Cafe an der Hauptstraße von Alouena und zieht an seiner Wasserpfeife. Auf zwei Bildschirmen läuft die erste TV-Debatte von Präsidentschafts-Kandidaten in der arabischen Welt. Familien, Jugendliche, Libyer, Algerier, hängen gebannt an den Lippen der Kandidaten. Dabei fällt es fast allen schwer, ihre Botschaften in den 90 Sekunden Rahmen unterzubringen, die ihnen pro Redebeitrag zur Verfügung stehen. Das Publikum im Café diskutiert munter die Leistung der einzelnen Kandidaten. »Ich habe das erste Mal das Gefühl, das Politiker den Wählern Rechenschaft ablegen müssen«, sagt ein Mann am Nachbartisch.

 

Bashein ist mit dem Auto aus Tripolis nach Tunis gekommen, um mit Freunden die Atmosphäre des Wahlkampfes selbst zu erleben. Dabei hat der 29-jährige Ölingenieur bereits zweimal in Tripolis selbst gewählt. 2012 und 2014 hatte die Wahlbehörde HNEC Parlamentswahlen organisiert. »Nicht die Wahl selbst sondern die Debatten- und Wahlkampfkultur interessiert mich«, sagt er.

 

In Libyen werden politische Parteien von vielen immer noch als zwielichtig angesehen, immer wieder streute Langzeitherrscher Muammar Al-Gaddafi Verdachtsmomente gegen »Politiker« unters Volk. Gerade auf dem Land sind die herrschenden Stammes-Strukturen nicht bereit, den gewählten Politikern die Macht zu übergeben.

 

Kouraish Jaouahdou arbeitet seit mehreren Jahren daran, Mitbestimmung im Kleinen umzusetzen. Im Rahmen des »Project participatif« können Bürger über die Verwendung der Gemeindefinanzen mitentscheiden. »Ich fürchte, dass die Ideen von Said Kaies zu ambitioniert sind. Für lokale Selbstverwaltungsstrukturen muss erst die Kultur dafür geschaffen werden. Wir sehen in unseren Projekten, wie lange es dauert, das Verhältnis von Staat und Bürger neu zu definieren. Anarchie ist angesichts der Lage in Libyen für die gesamte Region gefährlich.«

Von: 
Mirco Keilberth

Banner ausblenden

Die neue zenith 02/2022 ist da: Reise zum Mittelpunkt der Erde

Reise zum Mittelpunkt der Erde

Die neue zenith ist da: mit einem großen Dossier zur Region Persischer Golf und überraschenden Entdeckungen. Von Archäologe über Weltpolitik und Wattenmeer zu E-Sports und großem Kino.

Banner ausblenden

Newsletter 2

Der heiße Draht

Frische Analysen, neue Podcast-Folgen, exklusive Einladungen zu Hintergrundgesprächen und Werkstattberichte: Jeden Donnerstag erhalten tausende Abonnenten den zenith-Newsletter. Sie  wollen auch auf dem Laufenden bleiben? Dann melden Sie sich hier kostenlos an.

Banner ausblenden

WM Katar

So eine WM gab es noch nie

Auf 152 Seiten knöpfen sich Robert Chatterjee und Leo Wigger alle wichtigen Fragen rund um die erste Fußball-WM in einem arabischen Land vor.