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Russlands Armee in Syrien und der Ukraine

Wie in Syrien, so auch in der Ukraine?

Analyse
Europa, Russland und Syrien
Russische Militärpolizisten auf der Luftwaffenbasis Khmeimim in Syrien Kreml

Welche Auswirkungen hat der Krieg in der Ukraine auf die russische Armee in Syrien? Und was bedeutet es für die Bevölkerung, wenn die westlichen Länder sich außenpolitisch nun ganz auf den Krieg im Osten Europas konzentrieren?

Angesichts des Kriegs vor der eigenen Haustür und der starken ukrainischen Gegenwehr stellt sich die Frage, ob Russland seine gesamten Truppen in der Ukraine konzentrieren und somit aus Syrien abziehen könnte. Bei einem militärischen Rückzug oder gar einer diplomatischen Abkehr stünde für beide Seiten einiges auf dem Spiel. Mithilfe Russlands hat nicht nur das Assad-Regime den ungewissen Kriegsausgang für sich entschieden, auch Russland hat sich durch sein militärisches Engagement fest als Regionalmacht etabliert.

 

Russland ist ein wichtiger Partner des Assad-Regimes, auch über die militärische Unterstützung hinaus: Moskau agiert als Syriens Garant im internationalen System, hält dem Regime im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen den Rücken frei und ist als Getreideexporteur auch einer der Hauptversorger des syrischen Regimes.

 

»Mit einem der wenigen Stützpunkte außerhalb seiner eigenen direkten Nachbarschaft ist Syrien für Russland von großer strategischer Wichtigkeit«, sagt Tobias Schneider vom Global Public Policy Institute (GPPi). »Als wichtiger Druckpunkt gegenüber Europa in Fragen Flüchtling- und Anti-Terror-Politik, aber auch bezüglich der Beziehungen mit Israel in der Iranfrage ist Russlands Präsenz in Syrien auch von geostrategischer Bedeutung, welche Moskau wahrscheinlich bereit ist, weiter aufrechtzuerhalten.«

 

Nicht nur vor diesem Hintergrund hält Schneider einen Abzug russischer Truppen aus Syrien für unwahrscheinlich. Auch die geringe Truppengröße spielt dabei eine Rolle: »In Syrien hat Russland es geschafft, mit dem Einsatz seiner Luftwaffe und Spezialeinheiten einen riesigen geopolitischen Gewinn bei relativ geringem militärischen Einsatz zu erzielen.« Wegen dieser eindeutigen Kosten-Nutzen-Bilanz vermutet Schneider, dass Russland dies nicht so leicht aufgeben wird.

 

Zwar würden Spezialeinheiten wie diejenigen, die mit den syrischen Truppen Luftschläge koordinieren, aktuell in der Ukraine gebraucht werden. Die Luftwaffe wiederum werde aber nur zu einem geringen Teil in der Ukraine eingesetzt. Deswegen könne man davon ausgehen, dass Russland auch weiterhin in der Lage sei, Luftoperationen in Syrien durchzuführen. Während Russland seine Invasion der Ukraine begann, gingen die russischen Luftangriffe auf Idlib weiter.

 

Mit der Schließung des Luftraums wird der Aufwand für ein Ausweichen auf Flugzeuge zusätzlich erschwert

 

Greifbarer als der mögliche Abzug russischer Truppen schien im März noch der Einsatz syrischer Kämpfer gegen die Regierung in Kiew. Am 11. März verkündete Russland, dass sich 16.000 »Freiwillige« aus dem Nahen Osten gemeldet hätten, um an der russischen Seite in Donetsk und Luhansk zu kämpfen. Ihre Ankunft in der Ukraine bleibt nach bisherigen Beobachtungen jedoch aus.

 

Auch Hanna Notte hält den Transfer syrischer Kämpfer für unwahrscheinlich: »Erfolg und Misserfolg in der Ukraine wird sich nicht daran messen, ob man Truppen aus Syrien abzieht. Sondern dann reden wir über die Frage, ob Russland eine Generalmobilisierung vornimmt. Ein paar hunderte syrische Kämpfer machen keinen Unterschied, da bräuchte es schon Tausende«, meint die Russland-Expertin vom US-Thinktank »James Martin Center for Nonproliferation Studies«. »Die russische Armee hatte jedoch bereits zuvor große logistische Probleme. Macht es dann viel Sinn, Syrer, die das Terrain und die Sprache nicht kennen, mit großem logistischen Aufwand herzuholen?«

 

Der logistische Aufwand wächst auch für die russischen Truppen in Syrien. Mit einem vollständigen Abzug sei zwar nicht zu rechnen, allerdings kann es durchaus zu Versorgungsengpässen kommen. Die Türkei hat mit der Straße von Marmara den Seeweg vom Schwarzen Meer zum Mittelmeer für russische Kriegsschiffe geschlossen. Am 23. April folgte die Schließung des Luftraums für russische militärische und zivile Flugzeuge für einen Zeitraum von drei Monaten. Sowohl die Versorgung, als auch die Rotation der Truppen in Syrien erfolgt normalerweise auf dem Seeweg. Mit der Schließung des Luftraums wird der Aufwand für ein Ausweichen auf Flugzeuge zusätzlich erschwert, welcher bereits von der Entbehrlichkeit der Flugzeuge in der Ukraine abhängt.

 

Notte sieht in der türkischen Entscheidung jedoch kein unüberwindbares Hindernis für Russlands Zugang zu Syrien: »Die Schließung des Luftraums für russische Militärflugzeuge ist nicht katastrophal für die russische Seite, weil man immer noch den iranischen und irakischen Luftraum nutzen kann.« Außerdem würde »alles, was an schwerem Gerät kommt, um die permanente Militärpräsenz aufrechtzuhalten, weniger über den Luftweg und mehr über die Schwarzmeerflotte transportiert«. Zivile Schiffe dürften noch passieren. Und die Türkei hätte auch Ermessensspielraum, wie sie den Vertrag von Montreux genau auslegt und wird es womöglich vermeiden wollen, Russland signifikante logistische Probleme zu bereiten und somit weiter zu verärgern, meint die Expertin.

 

»Der Diskurs der Entmenschlichung der Gegenseite«

 

Das große Erwachen, welches die deutsche Politik und Öffentlichkeit seit Beginn der russischen Invasion der Ukraine durchlebt, hätte mit einem aufmerksameren Blick auf die russischen Interventionen und Kriegsverbrechen der letzten zwei Jahrzehnte vermieden werden können. Mehr noch: Hätten westliche Staaten dort eingegriffen und die gezielten, systematischen Angriffe auf die Zivilbevölkerung unterbunden, hätten womöglich Verbrechen wie die in Butscha verhindert werden können.

 

In der russischen Vorgehensweise lässt sich geradezu eine Art Generalprobe für die Ukraine erkennen. Zu den wichtigsten Phänomenen zählen Angriffe auf zuvor vereinbarte humanitäre Korridore, dass diplomatische Verhandlungen (aus)genutzt werden, um derweil militärische Gewinne zu erzielen, oder Krankenhäuser zerstört werden, um die Versorgung Verwundeter zu erschweren.

 

»Russlands Militäreinsatz gegen die Ukraine weist viele Ähnlichkeiten mit seinem Einsatz in Syrien auf, was den gezielten Beschuss von Zivilisten, die massive Zerstörung von Städten und den Einsatz von Propaganda betrifft«, befindet auch Lina Khatib. »Doch während Russland in Syrien auf schwachen Widerstand stieß, habe die westliche Unterstützung und die eigenen militärischen Fähigkeiten der Ukraine Moskaus militärische Schwachstellen aufgezeigt, die im Zusammenhang mit Syrien nicht sichtbar waren«, sagt die Direktorin des Nahost- und Nordafrikaprogramms beim Thinktank Chatham House.

 

»Der Diskurs der Entmenschlichung der Gegenseite«, wie Hanna Notte die russische Propaganda beschreibt, sei eine weitere wichtige Parallele. »In Syrien war es der Kampf gegen den Terrorismus, alle Oppositionellen wurden als Terroristen dargestellt. In der Ukraine ist es jetzt die Entnazifizierung.« Die russische Propagandamaschine sei durch die für Syrien aufgebaute Desinformationskampagne gut geölt. Diese gehe so vor, dass sie die eigenen tatsächlichen oder womöglich zukünftigen Einsätze der Gegenseite zuschreibt. »Das, was Russland über Jahre in Syrien immer wieder den Weißhelmen [dem syrischen Zivilschutz] vorgeworfen hat, das sieht man jetzt eins zu eins wieder in der Ukraine.«

 

Die Parallelen sind vorhanden, aber nicht zwangsläufig so gewollt

 

Der wahllose, ungezielte Beschuss ziviler Infrastruktur und eine allgemeine Indifferenz zu zivilem Leid scheine in der russischen strategischen Militärkultur tief zu sitzen, resümiert Tobias Schneider. Als eine Art Blaupause für die Ukraine würde er Syrien jedoch nicht beschreiben. »Die Russen hätten lieber einen Sieg eingefahren, ohne in die Städte zu gehen, weil das auch für sie riesige Verluste birgt.« Die Parallelen seien also vorhanden, aber nicht zwangsläufig so gewollt.

 

Während die Erfahrungen in anderen russischen Auslandseinsätzen für eine bessere Einschätzung der russischen Verhandlungsbereitschaft nützlich sein kann, lägen aufgrund der unterschiedlichen Nähe und Bedeutung auch die Unterschiede auf der Hand, erklärt Schneider. Zunächst passe die Beschreibung der Generalprobe, da viele jener Generäle und Offiziere, die man heute in der Ukraine sieht, zuvor in Syrien stationiert gewesen seien.

 

Ein Beispiel sei der neue Oberbefehlshaber für die Operation im Donbass, General Alexander Dvornikov, der als General 2015/16 die Intervention in Syrien geleitet hat und dafür als »Held der Russischen Föderation« ausgezeichnet wurde. Auch sei die Intervention in Syrien die erste Möglichkeit seit dem Krieg in Georgien gewesen, Kampf- und Führungserfahrung im Feld zu sammeln. Neben dem Aufbau menschlicher Kapazitäten seien auch neue Waffensysteme im Einsatz erprobt worden.

 

Gleichzeitig seien die Einsätze sehr unterschiedlich, was sich schon an der benötigten Truppenstärke zeige: »Wenn man nur eine kleine Interventionsarmee aufrechterhalten muss, kann man wählerisch sein und so hat Moskau auch seine besten Leute entsandt«, sagt Schneider. Auf den Großteil der russischen Streitkräfte, die aktuell in der Ukraine im Einsatz sind, haben sich die Lektionen aus Syrien anscheinend nicht übertragen lassen, beobachtet der Berliner Syrien-Experte.

 

»Das Bewusstsein wächst, dass die Ukraine und Syrien zusammenhängen«

 

Dem deutschen öffentlichen Diskurs zum Krieg in der Ukraine gibt Hanna Notte vor allem eine Lehre aus Syrien mit: »Dieses in der deutschen Debatte beliebte Mantra, Konflikte könne man nicht militärisch lösen, muss man nach Syrien zynisch bewerten.« Notte, die früher selbst in Mediationsverfahren gearbeitet hat, die den Genfer Prozess begleiteten, berichtet von ihrer Erfahrung aus den Verhandlungen: »Man kann nicht sagen, dass keine Redebereitschaft vorhanden gewesen wäre. Aber zeitgleich haben die syrische Armee, Russland und Iran militärisch Tatsachen geschaffen, bis man so überlegen war, dass man den Rest des politischen Prozesses unterminieren konnte.«

 

Und heute sei zu sehen, was von den Verhandlungen übrig sei, nämlich ein Verfassungskomitee – aus Sicht vieler Syrer ein sehr magerer Ersatz für einen echten politischen Prozess. Dem Argument, man solle keine Waffen an die Ukraine liefern, da so der Krieg verlängert werde, entgegnet Notte: »Man kann verhandeln. Aber man muss  aus einer Position der Stärke verhandeln, wenn es irgendwie eine Chance auf einen fairen Kompromiss geben soll. Auch das ist eine Lektion aus Syrien.«

 

»Das Bewusstsein wächst, dass die Ukraine und Syrien zusammenhängen«, beobachtet Tobias Schneider. Anzeichen dafür, dass das internationale Erwachen bezüglich russischer Aggression der syrischen Bevölkerung den Rücken stärkt, sieht er jedoch nicht – im Gegenteil. »Viel Stillstand« sei in punkto internationaler Verhandlungen zu erwarten, da sich in nächster Zeit niemand mit Russland an einen Tisch setzen werde. Die europäische Diplomatie dürfe nicht den Eindruck erwecken, Russland auch nur einen Fußbreit Raum zuzugestehen.

 

Mit der Aufmerksamkeit der westlichen Länder auf der Ukraine wandern auch die einst für Syrien bestimmten internationalen Gelder in diese Richtung. Dies ist besonders fatal in Anbetracht der negativen Auswirkungen des Ukrainekriegs auf die Ernährungssicherheit. »Da Syrien in hohem Maße von Weizen aus Russland und der Ukraine abhängig ist, wird der Krieg in der Ukraine die bereits bestehende Nahrungsmittelkrise in Syrien nur noch verschlimmern«, sagt Lina Khatib. Etwa 90 Prozent der Bevölkerung lebten schon zu Beginn des Kriegs in der Ukraine in Armut.


Sara Stachelhaus ist Programmkoordinatorin im Beiruter Büro der Heinrich-Böll-Stiftung.

Von: 
Sara Stachelhaus

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