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Russland und die Türkei und der Krieg in Syrien

Ist das noch Außenpolitik?

Analyse
Russland und die Türkei und der Krieg in Syrien
15. Februar 2020: Ein türkischer Militärkonvoi auf der M4-Schnellstraße in der Nähe des Dorfes Bsanqol in der Provinz Idlib. Foto: Abed Kontar

Nicht nur bei den EU-Staaten bestimmt der Blick nach innen die Position im Syrien-Konflikt. Auch für die Türkei und Russland hat die Lage in Idlib innenpolitische Folgen. Der Deal mit Erdoğan kommt Putin gerade recht.

Emotionalisierende Bilder von traumatisierten Geflüchteten in Idlib auf dem einen, Fluchtrouten nach Europa auf dem anderen Kanal: in den englisch- und arabischsprachigen Programmen des türkischen Senders TRT (hier: TRT World und TRT Arabi) zeigt sich die Doppeldeutigkeit der türkischen Außen- und Innenpolitik. Andererseits zeichnen sich hier auch die innenpolitischen Triebfedern der türkischen Politik in Syrien ab. Für Wladimir Putin hingegen sind auf den ersten Blick vor allem außenpolitische und strategische Gründe ausschlaggebend für den hohen militärischen Aufwand. Doch auch Moskau muss die innenpolitische Dimension seiner Syrien-Politik berücksichtigen.

 

Russland griff 2015 offen in den syrischen Bürgerkrieg ein – offiziell, um den sogenannten Islamischen Staat zu bekämpfen. Doch es ging Putin ebenso darum, Russlands als Weltmacht zu etablieren, an der bei großen Konflikten und Krisen kein Weg vorbei führt. Nennenswerter Protest regte sich in Russland gegen diese Ambitionen kaum.

 

Die Einnahme Idlibs durch die syrische Armee wäre für die Türkei aus Erdoğans Sicht ein Sicherheitsrisiko.

 

Recep Tayyip Erdoğans Motive sind konkreter und korrelieren mit den Militäroffensiven der letzten Jahre im Nachbarland. Die Interventionen in Nordsyrien sollten vor allem die Stabilisierung kurdischer Autonomiegebiete primär an der türkischen Grenze, generell aber auch auf syrischem Territorium verhindern. Auch die Bekämpfung des sogenannten Islamischen Staates wurde von Erdoğan als entscheidender Grund genannt, spielte de facto aber im Vergleich zur Bekämpfung der YPG eine geringere Rolle. Dem türkischen Präsidenten war zudem daran gelegen, die Flüchtlingsbewegungen in die Türkei unmittelbar in Syrien zu kontrollieren. Die Einnahme Idlibs durch die syrische Armee wäre für die Türkei aus Erdoğans Sicht ein Sicherheitsrisiko.

 

Erdoğan genoss dabei gewissen Rückhalt über Parteigrenzen hinweg, was sicherlich mit dem hohen Ansehen der Armee in der Bevölkerung zusammenhängt. Auch die Oppositionspartei CHP unterstützte die Vorhaben des türkischen Präsidenten. Einzig die pro-kurdische HDP sprach sich gegen den Einsatz des türkischen Militärs in Syrien aus. Das Zweckbündnis zwischen CHP und HDP, das Ekrem İmamoğlu in Istanbul zum Bürgermeisteramt verholfen hatte, drohte auch an diesem Gegensatz zu zerbrechen.

 

Für beide Machthaber ist Außenpolitik immer damit verbunden, sich gegenüber der eigenen Bevölkerung als unverzichtbare Akteure auf der weltpolitischen Bühne zu inszenieren. Zumindest teilweise versuchen sowohl Erdoğan als auch Putin von Problemen im eigenen Land abzulenken.

 

Putin machte Anfang des Jahres deutlich, dass er auch nach Ende seiner Amtszeit weiterhin Einfluss ausüben will und wird.

 

Erdoğans Drohung, Geflüchtete nach Europa passieren zu lassen, wird zwar in erster Linie als außenpolitisches Druckmittel verstanden, soll aber auch ein Zeichen an die türkische Bevölkerung senden, in der die Unzufriedenheit mit der Migrationspolitik wächst. Diese Stimmung greift die sozialdemokratische CHP bereits seit längerem auf, was zum nächsten Problem für den türkischen Präsidenten führt: Er hat es mit einer ernstzunehmenden Opposition zu tun. Spätestens seit der Bürgermeisterwahl in Istanbul ist klar, dass Erdoğans AKP Wahlen verlieren kann – und dass, obwohl sie dank massiver Repressionen gegenüber anderen Parteien mit Vorteilen in Wahlkämpfe geht. İmamoğlus Wahlsieg ist zudem Ausdruck der Enttäuschung über die anhaltende wirtschaftliche Misere, auf die die AKP noch keine überzeugende Antwort gefunden hat. Dennoch ist nach wie vor unklar, wie eine Zusammenarbeit der AKP-Gegner CHP und HDP bei künftigen Wahlen aussehen könnte.

 

Spätestens seit dem Tod von mindestens 34 türkischen Soldaten dreht sich die Stimmungslage in Teilen der Bevölkerung. Die CHP beschuldigt Erdoğan, die eigenen Streitkräfte in Syrien aus taktischen Erwägungen zu verheizen, dann aber letztlich in Verhandlungen vor Putin einzuknicken, obwohl der russische Präsident für den Tod türkischer Soldaten verantwortlich sei. Die unterschiedlichen Positionen führten im türkischen Parlament zu Tumulten zwischen Abgeordneten beider Lager. Verluste aufgrund militärischer Fehleinschätzungen und einer Überbewertung seines Einflusses auf Wladimir Putin könnten Erdoğans Ansehen im Innern weiter schaden.

 

Wladimir Putin agiert innenpolitisch aus einer gesicherteren Position als Erdoğan. Der russische Präsident bildete Anfang des Jahres sein Kabinett um und macht durch die geplante Verfassungsänderung deutlich, dass er auch nach seinem Abtritt weiterhin Einfluss ausüben will und wird. Wie genau Putins Pläne aussehen, ist noch unklar. Seine zweite und damit nach jetziger Verfassung letzte Amtszeit endet 2024.

 

Idlibs ist zwar Assads oberste Priorität, Putin könnte aber auf diesen Preis verzichten.

 

Im Raum stehen eine Annullierung der Zählung der Amtszeiten als Präsident, die Putin zwei erneute Amtszeiten als Präsident ermöglichen würde, oder die Ausweitung der Kompetenzen des Staatsrates. Putin könnte als dessen Vorsitzender über Parlament und Präsident stehen. Der russische Machthaber hat zugesichert, dass die Bevölkerung über die geplanten Verfassungsreformen abstimmen wird. Einen Zeitraum hat er dafür noch nicht ausgegeben. Die vergleichsweise schnelle Abwicklung und zumindest äußerliche Befriedung der Lage in Syrien nach dem Deal mit dem türkischen Präsidenten kamen Putin für die Durchsetzung seiner innenpolitischen Pläne so gerade Recht.

 

Um bei der eigenen Bevölkerung gut dazustehen, war eine gesichtswahrende Lösung für Russland und die Türkei oberste Priorität. Putin konnte hierbei aus einer stärkeren Position agieren, weil seine Handlungen in Syrien kaum unmittelbare Folgen für die eigene Bevölkerung zeitigen. Für Putin war die Inszenierung als wichtiger Akteur auf der Weltbühne immer der einzige entscheidende Faktor. Ideologische Aspekte und starre Positionen sind mitunter strategisches Mittel, aber in der russischen Außenpolitik selten immanent.

 

Dass die Krise in Syrien aber langfristig auch eine Krise für die Europäische Union bedeutet, dürfte Putin gefallen und als einer von vielen Destabilisierungsversuchen gelten. An einer Eskalation des Verhältnisses zu Erdoğan und damit einer direkten Konfrontation zwischen russischem und türkischem Militär dürften hingegen weder Putin noch Erdoğan Interesse haben. Einen ersten Eindruck, welche Folgen eine solche Konfrontation haben könnte, zeigte bereits der Abschuss des russischen Kampflugzeugs durch die Türkei im Jahr 2016. Unter den massiven Folgen litt vor allem die Türkei. Erdoğan befindet sich einer schwierigeren Lage, da er zunächst Beziehungen zu Putin stärkte und damit andere Bündnispartner provozierte. Die Eroberung Idlibs ist zwar Assads oberste Priorität, Putin könnte aber auf diesen Preis verzichten und sich selbst als Friedensstifter inszenieren.


Lennart Hagemeyer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Hochschule Hannover und wird an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf zum Thema »Propagandistische Weltbilder von internationalen Nachrichtensendern« promoviert.

Von: 
Lennart Hagemeyer

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