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Regierungskrise im Libanon

Und was, wenn’s diesmal schiefgeht?

Analyse
Regierungskrise im Libanon
Kann der Libanon auch diese Regierungskrise aussitzen? Foto: Constanze Flamme

Mehr als sechs Monate nach den nationalen Parlamentswahlen hat der Libanon immer noch keine neue Regierung – die Libanesen haben sich an solche Zustände gewöhnt. Dennoch kommt die politische Krise zur Unzeit.

Die Erleichterung war groß im Mai dieses Jahres im Libanon. Knapp neun Jahre nach den letzten Parlamentswahlen im Juni 2009 hatten die Libanesen endlich eine neue Volksvertretung bestimmt. Nachdem der Präsidentenposten im Oktober 2016 mit der Wahl Michael Aouns nach anderthalbjähriger Vakanz besetzt worden war und die im Dezember 2016 von Premierminister Saad Hariri geformte Übergangsregierung ein langersehntes, neues Wahlrecht ausgearbeitet hatte, schien die Zeit der politischen Krisen im Land mit dem diesjährigen Urnengang vorbei. Entsprechend groß war die Erwartungshaltung, sowohl des libanesischen Volkes als auch der internationalen Gemeinschaft an die neue Legislaturperiode.

 

Ein halbes Jahr nach den Parlamentswahlen ist Ernüchterung eingekehrt. Obwohl Hariri noch im Mai von den politischen Lagern des Landes mit klarer Mehrheit den Auftrag zur Bildung einer »Regierung der nationalen Einheit« zugesprochen bekam, zieht sich der Prozess seit Monaten hin. Zwar ist der Libanon langwierige Regierungsbildungsverfahren, die von einem unnachgiebigen Geschacher um wichtige Ministerposten geprägt sind, gewohnt. Der momentane Stillstand ist jedoch weniger ein Wettstreit um die Kontrolle über staatliche Ressourcen, sondern Ausdruck eines sich zuspitzenden Machtkampfes zwischen den konkurrierenden Lagern im Libanon, der das Land im Zangengriff hält.

 

So war die mit Teheran verbündete Hizbullah als Gewinner aus den Wahlen im Mai hervorgegangen. Zusammen mit ihren schiitischen, sunnitischen und christlichen Verbündeten stellt die schiitische Partei nun 43 Abgeordnete im 128 Sitze umfassenden libanesischen Parlament, dessen Zusammensetzung gemäß der im libanesischen Staatsapparat geltenden konfessionellen Parität die religiöse Vielfalt des Landes widerspiegelt. Zusammen mit ihrem strategischen Partner, der von Michel Aoun gegründeten christlichen »Freien Patriotischen Bewegung« (FPM), hat die Hizbullah gar Einfluss über eine Gruppe von etwa 70 Abgeordneten.

 

Die Hizbullah besteht darauf, dass eine von ihr unterstütze Gruppe sechs sunnitischer Abgeordneter mit einem der für Sunniten reservierten Kabinettsposten bedacht wird

 

Das Lager um Saad Hariri musste hingegen empfindliche Einbußen hinnehmen. Zwar konnten die von Samir Geagea angeführten christlichen »Lebanese Forces« (LF) ihre Sitzanzahl von acht auf 15 fast verdoppeln. Hariris mehrheitlich sunnitische »Zukunfts-Bewegung« erlitt hingegen eine krachende Niederlage und errang nur 20 Mandate, nachdem sie 2009 mit 33 gewonnen Mandaten noch die größte Fraktion geworden war. Besonders schmerzhaft für den designierten Premierminister ist dabei der Verlust seiner Vormachstellung im sunnitischen Milieu des Libanon. Von den 27 für Sunniten reservierten Sitzen im Parlament sind nur noch 17 Teil von Hariris Parlamentsblock, wobei die verbliebenen zehn sunnitischen Abgeordneten überwiegend der Hizbullah nahestehen.

 

Nachdem zunächst das Gerangel zwischen dem FPM und der LF um die wichtigen, für Christen reservierten Ministerien den Regierungsbildungsprozess im Verlauf des Herbsts gelähmt hatte, ist nun die Frage nach der Vertretung der sogenannten unabhängigen Sunniten in der kommenden Regierung zum Politikum geworden. Die Hizbullah nutzt die neuen Machtverhältnisse im Parlament dabei geschickt aus, um den vom Westen und Saudi-Arabien unterstützten designierten Premierminister größtmöglich zu schaden. So besteht die Partei darauf, dass eine ihr nahestehende Gruppe sechs sunnitischer Abgeordneter mit einem der für Sunniten reservierten Kabinettsposten bedacht wird.

 

Saad Hariri lehnt diese Forderung kategorisch ab. Ein Nachgeben würde seine bereits beeinträchtige Machtbasis empfindlich treffen und es der Hizbullah erlauben, die Kontrolle über das soziale Gefüge des Libanon und die kommende Regierung weiter auszubauen. Die schiitische Partei, die angesichts neuer, im Rahmen des sich zuspitzenden Konfliktes zwischen den Vereinigten Staaten und Iran verhängter amerikanischer Sanktionen zunehmend unter Druck steht, will indes die Gunst der Stunde bestmöglich nutzen, um die eigene Vormachtstellung im Land zu zementieren.

 

Der Tourismus ist eingebrochen und internationaler Investitionen sowie Überweisungen von Auslandslibanesen, vor allem aus den Golfstaaten, sind zurückgegangen

 

Teil des Kalküls dürfte hierbei auch das Bestreben sein, der Rückkehr des syrischen Einflusses im Libanon entgegenzuwirken. Nachdem sich Baschar Al-Assad in Syrien nach Jahren des Konfliktes wiederbehauptet hat, blickt das syrische Regime, das zwischen 1990 und 2005 die Geschicke der libanesischen Politik bestimmte, wieder verstärkt gen Beirut. Die Hizbullah dürfte kein Interesse daran haben, ins zweite Glied zurückzufallen und positioniert sich daher nun als Vertreter der traditionell pro-syrischen sunnitischen Kräfte im Libanon.

 

Diese Machtspiele kommen zur Unzeit. Der syrische Bürgerkrieg sowie die innenpolitischen Krisen der vergangenen Jahre haben die libanesische Wirtschaft in eine anhaltende Rezession gestürzt. Der Tourismus ist eingebrochen und internationaler Investitionen sowie Überweisungen von Auslandslibanesen, vor allem aus den Golfstaaten, sind zurückgegangen. Hausgemachte Probleme, wie etwa die ausufernde Korruption, verschärfen die Situation zusätzlich.

 

Als Resultat stagniert das Wirtschaftswachstum bei gleichzeitig steigender Staatsverschuldung, die laut dem Internationalen Währungsfonds bei mittlerweile über 150 Prozent des Bruttoinlandsproduktes liegt. Mehr als ein Drittel des defizitären Staatshaushalts fließen in die Zins- und Schuldentilgung. Der Libanon bedarf dringend umfassender struktureller Reformen und einer Haushaltsstraffung, um die Wirtschaft anzukurbeln und die öffentlichen Finanzen zu stabilisieren.

 

Wie lange kann die Zentralbank die Kopplung des libanesischen Pfunds an den US-Dollar noch aufrechterhalten?

 

Im Frühjahr dieses Jahres schien der Schritt in die richtige Richtung gemacht. Im Rahmen mehrerer Geberkonferenzen beteuerte die internationale Gemeinschaft ihren Rückhalt für den Libanon und versprach großzügige Unterstützung. Bei der sogenannten »CEDRE-Konferenz« in Paris im April wurden Darlehen und Hilfen in Höhe von mehr als 11 Milliarden Dollar zugesagt, die unter anderem zur Finanzierung von Infrastrukturprojekten herangezogen werden sollen. Gleichzeitig versprach die libanesische Regierung, im Gegenzug tiefgreifende Reformen zu initiieren.

 

Der Stillstand des Regierungsbildungsprozesses ist ein Rückschlag. Das Fehlen eines handlungsfähigen Kabinetts hat die Reformbemühungen zum Erliegen gebracht. Die internationale Gemeinschaft droht nun, die zugesagte Unterstützung zumindest teilweise zurückzuziehen. Gleichzeitig verschärft sich die wirtschaftliche Situation zusehendes. Dieses Jahr glitt der Immobiliensektor, eine der letzten Stützen der libanesischen Volkswirtschaft, in eine Krise ab. Es ist fraglich, wie lange die Zentralbank unter den gegebenen Umständen die Kopplung des libanesischen Pfunds an den US-Dollar aufrechterhalten und der inländische Bankensektor die öffentlichen Schulden noch finanzieren kann.

 

Eine Finanzkrise bahnt sich an, die zum Staatsbankrott führen könnte. Die Folgen für den Libanon wären schwerwiegend. Die angespannte sozioökonomische Lage im Land, das nach wie vor etwa eine Million syrische Flüchtlinge beherbergt und in dem die Armutsrate auch unter den Libanesen zunimmt, könnte sich erheblich verschlimmern. Gleichzeitig könnte ein möglicher Zusammenbruch des libanesischen Staates zu einer Verschlechterung der momentan stabilen aber anhaltend fragilen Sicherheitslage im Libanon führen.

 

Hariri vertraut darauf, dass die internationale Gemeinschaft dem Libanon im Zweifelsfall zur Hilfe eilen wird, sollte die Wirtschaft zusammenbrechen

 

Die Politiker des Landes verschließen die Augen vor dem herannahenden Desaster und machen keine Anstalten, ihre Machtkämpfe zum Wohle des Libanon zu beenden. Bei seiner Rede anlässlich der »Märtyrertags« am 11. November goss Hizbullah-Generalsekretär Hassan Nasrallah zusätzlich Öl ins Feuer und erklärte vehement, dass seine Partei keinesfalls von ihren Forderungen Abstand nehmen würde. Die Worte des Generalsekretärs, der sonst eher für sein gutes politisches Gespür bekannt ist, lösten Verwunderung und Entsetzen unter vielen Libanesen aus. Es scheint, dass Nasrallah den Ernst der Lage verkennt.

 

Saad Hariris Antwort ist ebenfalls unmissverständlich. Der designierte Premierminister ist nicht bereit, in der »sunnitischen Frage« Zugeständnisse zu machen. Es wird berichtet, dass Hariri darauf vertraut, dass die internationale Gemeinschaft dem Libanon im Zweifelsfall zur Hilfe eilen wird, sollte die Wirtschaft zusammenbrechen.

 

Doch es ist nicht sicher, dass Europa und die Vereinigten Staaten dem Libanon wie in der Vergangenheit so oft geschehen wieder beistehen würden. Insbesondere die Trump-Administration, die sich auf Konfrontationskurs mit Iran befindet und dem Libanon aufgrund des Einflusses der Hizbullah im Land mit zunehmender Distanz gegenübertritt, könnte dieses Mal an der Seitenlinie verharren.

Von: 
Sebastian Gerlach

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