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Regierungsbildung im Irak

Liegt Iraks Zukunft in seinen Händen?

Analyse
Regierungsbildung im Irak
Durch geschicktes Taktieren konnte Muqtada Al-Sadr trotz Stimmenverlusten Sitze im Parlament hinzugewinnen. privat

Trotz Stimmverlusten geht Kleriker Muqtada Al-Sadr als Gewinner aus den Parlamentswahlen hervor und ist wieder einmal Königsmacher im Irak – nicht zuletzt, weil er sich am besten auf die Änderungen der Wahlreform vorbereitet hat.

Die erste Parlamentssitzung am 9. Januar deutet daraufhin, dass der irakische Kleriker und Politiker Muqtada Al-Sadr seine Konkurrenten von der Regierung ausschließen will. Nach Tumulten zwischen Abgeordneten von Sadrs Sa’irun-Partei und seinen Widersachern um Nuri Al-Maliki verließen der Ex-Premier und seine Verbündeten das Parlament. Bei der anschließenden Wahl des Parlamentssprechers (das drittwichtigste Amt im Staat) und seiner beiden Stellvertreter, gewannen Sadrs bevorzugte Kandidaten – ein wichtiger Etappensieg für den 47-Jährigen.

 

Iraks derzeitiges Parlament ging aus den Wahlen vom 10. Oktober 2021 hervor. Dabei galt es, 329 Mandate neu zu vergeben. Die Wahl war trotz der angespannten Sicherheitslage ohne nennenswerte Vorkommnisse verlaufen. Einige Experten hatten noch im Vorfeld vor Anschlägen der Terrororganisation »Islamischer Staat« (IS) gewarnt, was vor dem Hintergrund der blutigen Geschichte des Landes und der Zunahme von Angriffen der Terrormiliz in den Monaten zuvor nicht unwahrscheinlich gewesen wäre.

 

Wenig Grund zu Optimismus lieferte allerdings die erneut niedrige Wahlbeteiligung von nur knapp 44 Prozent. Damit verfestigt sich ein besorgniserregender Trend: die zunehmende Desillusionierung und der Vertrauensverlust vieler Menschen in das politische System des Irak. Nicht nur die Legitimität der Abstimmung wird dadurch geschmälert, vor allem gefährdet die Entfremdung weiter Teile der Bevölkerung vom politischen System den sozialen Zusammenhalt sowie die Stabilität der jungen Demokratie.

 

Die Wahlen lieferten erwartbare Ergebnisse, aber auch Überraschungen: Wie angenommen gewann Sadr mit seiner Sa’irun-Allianz die meisten Stimmen. Mit 73 Mandaten, also einem Fünftel aller Parlamentssitze, war er der große Sieger der Abstimmung und ging als Königsmacher für die Regierungsbildung hervor.

 

Sadr, der sowohl iranischen als auch westlichen Einfluss im Irak ablehnt, rief direkt nach der Wahl dazu auf, dass die Waffen der Milizen in die Hände des Staates gehören. Ein klarer Affront gegen die bewaffneten pro-iranischen Kräfte, wobei man nicht unerwähnt lassen darf, dass auch Sadr eine recht hohe Anzahl von Milizionären befehligt.

 

Über Sieg und Niederlage entschied nicht zuletzt ein neues Wahlgesetz

 

Zudem forderte Sadr die Bildung einer nationalen Mehrheitsregierung. Sie wäre ein Novum in der Geschichte des Landes und hätte zur Folge, dass andere relevante schiitische Parteien, vor allem die Fatah-Koalition, der politische Arm pro-iranischer Milizen, außen vorgelassen und an Einfluss verlieren würden.

 

Für Fatah war die Wahl ein Desaster: 2018 ging sie als Zweitplatzierte durchs Ziel und erhielt 48 Sitze, dieses Mal waren es nur 17. Ihr Wahlerfolg 2018 war auf den Beitrag mit ihr verbundener Milizen im Kampf gegen den IS zurückzuführen, die vor allem unter der schiitischen Bevölkerung Heldenstatus erlangt hatten.

 

Dieses Mal hat der irakische Souverän sie an der Wahlurne abgestraft – in jüngster Vergangenheit machen viele Irakerinnen und Iraker sie für das brutale Vorgehen gegen die Protestbewegung verantwortlich. Mutmaßlich gehen zudem zahlreiche Entführungen und gezielte Tötungen von zivilgesellschaftlichen Akteurinnen und Akteuren auf ihr Konto. Die Wahlniederlage könnte eine Abkehr vieler schiitischer Wählerinnen und Wähler von den pro-iranischen Kräften signalisieren.

 

Über Sieg und Niederlage entschied nicht zuletzt ein neues Wahlgesetz. Einige Parteien wussten es strategisch besser zu nutzen als andere: Sie stellten nur einen Bewerber beziehungsweise eine Bewerberin pro Wahlkreis auf, um sich nicht gegenseitig die Stimmen wegzunehmen; sie sprachen sich mit politischen Partnern ab, wo sie antreten, um nicht miteinander zu konkurrieren; sie nominierten Kandidatinnen, da die neue Frauenquote eine weibliche Abgeordnete aus jedem Wahlbezirk vorsieht.

 

Mehr als Parlamentssitze zählen im Irak die Machtressourcen der Parteien außerhalb der Volksvertretung 

 

Vor allem Sadr nutzte das neue Wahlgesetz klug. Durch geschicktes Taktieren konnte er trotz eines Stimmenverlustes von fast 40 Prozent im Vergleich zur vorigen Wahl 19 Sitze hinzugewinnen. Seine Partei stellt mit 31 Frauen die meisten weiblichen Abgeordneten, zahlreiche Kandidatinnen schafften den Einzug ins Parlament aufgrund der Quote. Im Wahlbezirk Babel 3 beispielsweise gewann eine Sa’irun-Bewerberin das Mandat, obwohl der Fatah-Kandidat mehr Stimmen erlangen konnte.

 

Die Fatah-Allianz reagierte dagegen kaum auf die Neuerungen. Ihre Kandidaten und Kandidatinnen nahmen sich die Stimmen gegenseitig weg, mit der Folge, dass das Mandat oftmals an die politische Konkurrenz verloren ging. Das Bündnis erhielt beispielsweise die meisten Stimmen im Wahlbezirk Niniveh 4, konnte aber keinen Sitz gewinnen, weil sich die Stimmen auf drei ihrer Kandidaten verteilten.

 

Die Wahlverlierer erkennen ihre Niederlage bislang nicht an, sondern wittern Wahlbetrug. In zum Teil verschwörungsideologischen Botschaften machen sie vor allem die Vereinten Nation, die USA und Israel für die angebliche Manipulation verantwortlich. Nach Aufrufen der Fatah-Anführer brachen gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen irakischen Sicherheitskräften und Anhängern der pro-iranischen Parteien aus. Die Folge: Tote und Verletzte auf beiden Seiten.

 

Auch wenn weder die UN, die irakische Wahlkommission noch Iraks Oberstes Gericht, das Ende Dezember 2021 das Wahlergebnis offiziell ratifizierte, systematischen Wahlbetrug feststellten, kann der Druck der Straße Einfluss auf die zukünftige Regierungsbildung haben. Denn mehr als Parlamentssitze zählen im Irak die Machtressourcen, die Parteien außerhalb der Volksvertretung haben: vor allem die bewaffneten Milizionäre.

 

Es wird darauf ankommen, in welcher Weise die Wahlverlierer in die Regierungsbildung eingebunden werden

 

Der Irak hat eine Tradition langwieriger Regierungsbildungen, politischer Kontroversen und daraus resultierendem Stillstand des politischen Tagesgeschäfts. Die entscheidende Frage ist jedoch auch dieses Mal, ob es sich um temporäre politische Machtspiele handelt (die zum politischen Geschäft quasi dazugehören) oder die Gewalt eskaliert, was in eine Phase langfristiger Instabilität münden könnte.

 

Eine Regierungsbeteiligung ist für einige Parteien eine Frage des politischen Überlebens. Denn wer nicht an den Futtertrögen der Macht sitzt und an Einfluss verliert, kann seine Anhänger häufig nicht mehr zufriedenstellen und sie beispielsweise mit lukrativen Posten versorgen.

 

Folglich wird es in den kommenden Wochen und Monaten hinsichtlich der Frage, ob das Land einen friedlichen Weg einschlägt oder ins Chaos abgleitet, wesentlich darauf ankommen, in welcher Weise die schiitischen Wahlverlierer in die Regierungsbildung eingebunden werden. Also konkret, ob erneut eine Einheitsregierung zustande kommt oder stattdessen Wahlgewinner Sadr seine Ankündigung, eine nationale Mehrheitsregierung zu bilden, umsetzen kann.

 

Die rivalisierenden Parteien ringen vor allem um das Amt des Regierungschefs. Der amtierende Premier Mustafa Al-Kadhimi hat derzeit aber gute Chancen, den Posten zu behalten. Im Mai 2020 war er als Kompromisskandidat des schiitischen Lagers gewählt worden, verlor aber rasch die Unterstützung Iran naher Parteien wie Fatah, als er gegen von ihr befehligte Milizen vorging.

 

Ex-Premier Maliki macht keinen Hehl aus seinen Ambitionen für eine dritte Amtszeit

 

Anfang November 2021 verübten mutmaßlich diese Milizen ein Attentat auf ihn. Der einstige Kompromisskandidat wurde zu einem erbitterten Widersacher. Dieser Bruch könnte ihm nun wiederum die Unterstützung Sadrs einbringen. Des Weiteren vertrauen ihm die großen kurdischen und sunnitischen Parteien – die KDP und Taqadum.

 

Ein weiterer Bewerber auf das Ministerpräsidentenamt ist Nuri Al-Maliki. Der ehemalige Regierungschef und Vorsitzende der pro-iranischen »Rechtsstaat«-Allianz macht keinen Hehl daraus, dass er eine dritte Amtszeit anstrebt. Maliki hat allerdings wenige Befürworter. Vor allem Sadr lehnt eine Nominierung des 71-Jährigen ab. Beide streiten um die Vormacht unter den schiitischen Parteien. Nicht zuletzt wollen die Kurden und Sunniten sein Comeback verhindern. Letztere werfen Maliki vor, sie insbesondere während seiner zweiten Amtszeit unterdrückt zu haben.

 

Auch wenn die Ernennung weiterer Kandidaten möglich ist, richten sich zunächst einmal alle Augen auf den Ausgang dieses inner-schiitischen Machtkampfes zwischen Sadr und dem sogenannten schiitischen Koordinierungsrahmen, dem Zusammenschluss von Maliki, Fatah und anderen schiitischen Akteuren.

 

Zu den Wahl-Überraschungen vom Oktober zählen zum einen der Parlamentseinzug von über 40 unabhängigen und säkularen Kandidaten und Kandidatinnen, zum anderen der Erfolg der aus der jungen Protestbewegung entstandenen Partei Imtidad, die neun Sitze erhielt. Diese Ergebnisse könnten den Grundstein für einen Paradigmenwechsel legen und den Fokus von einer Identitätspolitik, die auf Konfession und Ethnie basiert, hin zu einer programmbasierten Politik verschieben.

 

Können die unabhängigen Angeordneten neue Impulse setzen oder werden sie von etablierten Kräften vereinnahmt?

 

Doch zum einen wird sich solch eine Entwicklung nicht von heute auf morgen vollziehen, zum anderen wird man zukünftig genau beobachten müssen, wie sich die unabhängigen Kandidaten bei Abstimmungen und ihrer Parlamentsarbeit verhalten werden. Setzen sie wirklich neue Impulse, treten als wahre Oppositionskraft auf und leisten damit einen ersten Beitrag zur Überwindung ethno-konfessioneller Trennlinien im Zweistromland, oder werden sie von etablierten Kräften vereinnahmt, und damit quasi vom System verschlungen?

 

Die Wahl vom Oktober hat die politische Landschaft im Irak nicht grundlegend verändert, denn die etablierten politischen Kräfte, die über wichtige politische Netzwerke und Loyalitäten verfügen, werden auch künftig das Machtgefüge im Irak kontrollieren und damit die Politik noch viele Jahre entscheidend prägen. Die Machtbalance innerhalb des schiitischen Lagers wird sich allerdings vermutlich zugunsten Sadrs verschieben.

 

Sollten die unabhängigen Abgeordneten sich mit robuster Oppositionsarbeit empfehlen können, könnten sie eine Basis für einen langfristigen Wandel der politischen Kultur in der Parlamentsarbeit schaffen.

 

Nicht zu vernachlässigen ist der Frust einer (nicht nur schiitischen) jungen Generation, die häufig mit der herrschenden Klasse gebrochen und aufbegehrt hat. Um ihr Vertrauen zurückzugewinnen und die Abwanderung gerader junger Irakerinnen und Iraker einzuhegen, muss Iraks politische Elite schnellstens die drängendsten Herausforderungen des Landes angehen: wirtschaftliche Krise, Kollaps des Gesundheitssektors, Korruption, unzureichende Versorgung der Bevölkerung mit staatlichen Dienstleistungen (vor allem Strom und Wasser), Binnenvertreibung, Terrorismus und die Bedrohung zivilgesellschaftlicher Akteure durch pro-iranische Milizen – um nur einige zu nennen.


Gregor Jaecke ist seit Januar 2019 Leiter des Auslandsbüros Syrien/Irak der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) in Beirut. Zuvor war er für die Stiftung in Kenia und in der Demokratischen Republik Kongo tätig.

Von: 
Gregor Jaecke

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