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Rachid Ouaissa zu den Protesten in Algerien

»Das ägyptische Szenario hat Algerien schon 1991 erlebt«

Interview
Proteste in Algerien
Algerier demonstrieren in Blida, südwestlich von Algier, gegen eine fünfte Amtszeit Bouteflikas. Foto: Fethi Hamlati

Rachid Ouaissa, Professor für Politik des Nahen und Mittleren Ostens, spricht im Interview über den Rückhalt der Armee innerhalb der algerischen Bevölkerung und erklärt, warum das »schwarze Jahrzehnt« auch in diesen Tagen eine wichtige Rolle spielt.

zenith: Abdulaziz Bouteflika ließ am 1. April ankündigen, bis zum 28. April von seinem Amt als algerischer Präsident zurückzutreten. Wie geht es danach weiter?

Rachid Ouaissa: Die algerische Verfassung besagt, dass Senatspräsident Abdelkader Bensalah die Geschäfte vorübergehend für 90 Tage übernehmen und Präsidentschaftswahlen organisieren muss. Ich glaube aber, es wird anders verlaufen, als es die Verfassung vorsieht. Die Menschen auf der Straße werden weiter großen Druck ausüben. Ich gehe davon aus, dass sich der Oberbefehlshaber der Armee, Ahmad Gaïd Salah, gezwungen sieht, das Gespräch mit der algerischen Bevölkerung zu suchen.

 

Manche Experten und auch Teile der Bevölkerung sprechen inzwischen von einem Militärputsch. Wie wahrscheinlich ist ein ägyptisches Szenario in Algerien?

Eher unwahrscheinlich. Zum einen ist die Situation in Algerien heute eine andere als in Ägypten. Die ägyptische Armee hat erst einmal zugelassen, dass Islamisten an die Macht kamen, um dann später als Retter auftauchen zu können. Dieses Szenario hat Algerien allerdings schon 1991 erlebt. Zum anderen wird die Bevölkerung weiterhin Druck ausüben. Eine Machtübernahme der Armee kann ich mir so nicht vorstellen.

 

In der neu gebildeten Regierung ist der Oberbefehlshaber der Streitkräfte und stellvertretende Verteidigungsminister Ahmad Gaïd Salah jedoch im Amt geblieben – obwohl er sich zuvor für die Absetzung Bouteflikas eingesetzt hat. Was schließen Sie daraus?

Das ist durchaus auffällig und ein gutes Indiz dafür, dass die algerische Armee die Hauptrolle in der Übergangsphase einnehmen will. Das kann einerseits positiv sein, weil die Armee in Algerien eine wichtige und solide Institution ist, die die Geschichte des Landes seit der Unabhängigkeit 1962 mitbestimmt. Andererseits kann es auch negative Folgen haben, denn Ahmad Gaïd Salah gehörte unweigerlich zum Umfeld von Bouteflika und jeder weiß, dass diese höchsten Riegen der Armee Teil einer korrupten Elite sind. Also werden Stimmen laut, die sagen: »Ihr sollt alle gehen!« Der Militärchef genießt kein hohes Ansehen auf den algerischen Straßen.

 

Wie steht es um Ahmad Gaïd Salahs Unterstützung innerhalb des Militärs?

Innerhalb der Armee haben sich die Strukturen in den letzten Jahren verändert. Die jungen Offiziere sind nicht mehr so sehr in Korruption und die Politik verwickelt. Sollte Salah in den nächsten Tagen versuchen, die Macht an sich zu reißen, kann es durchaus zu seiner Absetzung kommen.

 

»Sie waren alle Teil des Systems Bouteflika«

 

Gäbe es überhaupt eine echte Alternative zur Armee?

Die Opposition wurde in den letzten 20 Jahren unter der Herrschaft Bouteflikas komplett demontiert und ist nicht mehr wirklich vorhanden. Das ist das große Manko und macht es schwierig, andere Personen zu finden, die in der Lage sind, die Übergangsphase anzuführen. Anders als in Tunesien, wo die Gewerkschaften federführend waren, gibt es in Algerien keine unabhängigen gesellschaftlichen Gruppen. Sie waren alle Teil des Systems Bouteflika. Während der Proteste haben sich zwar durchaus ein paar Personen hervorgetan, die nun viel sichtbarer in der Öffentlichkeit sind: Namen, wie den des Anwalts Mustafa
Bushashi oder den der Anführerin der im Sommer 2018 gegründeten Bürgerbewegung »Mouwatana« Leila Zoubida Assoul begegnet man nun gehäuft in den sozialen Medien. Diese Personen und Sammlungsbewegungen sind aber längst noch nicht in den gewählten politischen Institutionen vertreten und haben sich im Moment noch nicht einmal zu einem Bündnis zusammengefunden.

 

Es scheint, als führe kein Weg am Militär vorbei. Wie steht das algerische Volk zur Armee als Institution?

Die Armee als Institution genießt aus unterschiedlichen Gründen ein hohes Ansehen in der gesamten Bevölkerung. Zum einen ist sie einer der wichtigsten Arbeitgeber im Land und zudem relativ durchlässig für sozialen Aufstieg. Besonders in Zentral-Algerien ist die wirtschaftliche Infrastruktur schwach ausgebildet. Dort gehen die jungen Männer zur Armee, sobald sie erwachsen sind und verpflichten sich für 30 oder 40 Jahre. Letztendlich ist die algerische Armee eine Volksarmee, denn jeder Algerier ist in irgendeiner Weise mit ihr verbunden. Zum anderen profitiert das Militär immer noch von der revolutionären Legitimität, schließlich sind die Streitkräfte aus der algerischen Befreiungsarmee FLN hervorgegangen, die den Unabhängigkeitskrieg gegen Frankreich gewonnen hat.

 

Der Unabhängigkeitskrieg gegen Frankreich nimmt einen wichtigen Platz im nationalen Bewusstsein ein. Welche Rolle spielt die Erinnerung an das »schwarze Jahrzehnt«, den blutigen Bürgerkrieg Algeriens in den 1990er Jahren?

Der Bouteflika-Clan hat während seiner gesamten Amtszeit die Erinnerung an den blutigen Bürgerkrieg instrumentalisiert: Bouteflika selbst wurde immer als Retter inszeniert, der die Islamisten besiegt und den Versöhnungsprozess eingeleitet hat, obwohl sein Vorgänger General Liamine Zéroual den entscheidenden Vertrag zur Entwaffnung der Islamisten unterzeichnet hat. In früheren Wahlkämpfen argumentierte die FLN stets: Wenn es nicht Bouteflika wird, kommen die Islamisten wieder. Das Regime bedrohte das Volk regelrecht mit dem Verweis auf das syrische oder irakische Szenario.

 

»Die Proteste werden inzwischen massiv von der gesamten algerischen Mittelschicht getragen«

 

Wie gehen die Demonstranten nun damit um?

Die Menschen auf den Straßen sind gerade dabei, alle Symbole und Elemente der algerischen Geschichte wieder für sich zu beanspruchen und dem Regime aus den Händen zu reißen. Mütter zeigen sich mit Bildern von ihren verschwundenen Kindern und sagen: Wir haben keine Angst mehr vor einer Wiederkehr der blutigen Jahre. Das gleiche gilt auch für den Unabhängigkeitskrieg: Man sieht beispielsweise viele Bilder von Helden des Befreiungskrieges. Aber auch Figuren wie die 83-jährige Djamila Bouhirad, die die Schlacht um Algier angeführt hat, solidarisieren sich mit den Bürgern auf der Straße.

 

Die »Bürger auf der Straße« ist ein abstrakter Begriff. Welche gesellschaftlichen Gruppen sind konkret bei den Protesten vertreten?

Die Proteste werden inzwischen massiv von der gesamten algerischen Mittelschicht getragen – jeden Freitag kommen etwa 17 Millionen Algerier zusammen. Es demonstrieren beispielsweise Ärzte, Anwälte und Ingenieure und machen sich auch ganz bewusst als Gruppe sichtbar. Außerdem sind Familien und Frauen wichtige Elemente der Protestbewegungen.

 

Welche Rolle spielt die junge Generation Algeriens bei den Protesten?

Die Proteste haben als eine Art Jugendbewegung begonnen. Noch bevor sich die Menschen in Massen auf den Straßen versammelt haben, kamen Jugendliche in Stadien zusammen, um ihrem Unmut Luft zu machen. Algerier zwischen 15 und 30 Jahren machen etwa 70 Prozent der Bevölkerung aus – Proteste ohne sie wären gar nicht denkbar.

 



Prof. Rachid Ouaissa lehrt an der Phillipps-Universität Marburg zu politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Themen in der MENA-Region. Sein Forschungsschwerpunkt liegt auf der Rolle der Mittelschicht und den Jugendlichen in Nordafrika und insbesondere in Algerien. Er ist unter anderem Autor des Buches »Die Rolle der Mittelschichten im Arabischen Frühling - Ein Überblick«.

Von: 
Franziska Prokopetz

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