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Präsidentschaftswahl in der Türkei: Erdoğans Siegeschancen

Die Zitterpartie

Analyse
Recep Tayyip Erdoğan
Recep Tayyip Erdoğan, Präsident der Türkei. Foto (verändert): Presidencia de la República Mexicana / CC BY

Am 24. Juni wählt die Türkei einen Präsidenten. Amtsinhaber Recep Tayyip Erdoğan hat zwar gute Chancen, doch ein Sieg ist alles andere als garantiert – und das liegt auch an seiner autoritären Politik.

Genau eine Woche vor den Wahlen in der Türkei meldete sich der pro-kurdische Präsidentschaftskandidat Selahattin Demirtaş mit einer Wahlkampfrede aus dem Gefängnis zu Wort. In der auf TRT – dem staatlich kontrollierten öffentlichen Fernsehsender der Türkei – übertragenen Rede warnte er vor der »Ein-Mann-Herrschaft« des Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan und pries seine Partei, die HDP, als einzige Chance für die Demokratie im Lande an.

 

Demirtaş ist zu einem Symbol dafür geworden, wie das autoritäre AKP-Regime die Opposition unterdrückt. Denn wie viele andere Abgeordnete und Mitarbeiter der HDP sitzt er seit anderthalb Jahren wegen Terrorvorwürfen in Haft und betreibt als erster Präsidentschaftskandidat der türkischen Geschichte aus der Gefängniszelle heraus Wahlkampf. Noch vor wenigen Wochen hatte Präsident Erdoğan seinen kurdischen Konkurrenten sogar als »Terroristen« bezeichnet und ihm das Recht auf eine Kandidatur abgesprochen.

 

Umso mehr müsste nun eigentlich überraschen, dass eben dieser vermeintliche »Terrorist« minutenlang den Präsidenten öffentlich attackieren durfte. Zwar stehen laut türkischem Gesetz jedem Kandidaten 20 Sendeminuten im Staatsfernsehen zu – doch wie passt es zu dem Bild vom autokratischen Herrscher Erdoğan, dass er sich an solche Gesetze hält? Ist die Türkei womöglich doch noch immer ein ganzes Stück demokratischer, als es in der westlichen Öffentlichkeit wahrgenommen wird?

 

Es könnte knapp werden

 

Die Verhaftungswellen nach dem gescheiterten Putschversuch im Sommer 2016, die anhaltenden Repressionen gegen Journalisten, Aktivisten und Regimekritiker sowie der seit zwei Jahren immer wieder verlängerte Ausnahmezustand, der dem Präsident ermöglicht, per Dekret zu regieren; all das scheint eine klare Sprache zu sprechen: Erdoğan, der Quasi-Diktator, der sich mit allen Mitteln an die Macht klammert, der eine Verfassungsänderung erkämpfte, um seine Alleinherrschaft zu sichern und diese nun mit der kommenden Wahl zementieren will.

 

Gleichzeitig aber gehen Beobachter im In- und Ausland davon aus, dass es bei dieser Wahl knapp werden könnte. Umfrageergebnisse aus der Türkei lassen vermuten, dass Erdoğan im ersten Wahlgang keine absolute Mehrheit erreichen wird, dass es auf eine zweite Wahlrunde und eine Stichwahl zwischen ihm und einem seiner Herausforderer hinauslaufen dürfte, dass er die Macht am Ende sogar verlieren könnte. Ein unwahrscheinliches Szenario zwar, aber alleine, dass ein demokratischer Machtwechsel zumindest denkbar scheint, passt nicht ganz zum Bild einer diktatorisch regierten Türkei – oder etwa doch?

 

Solche vermeintlichen Widersprüche lassen sich mit der Komplexität der türkischen Verhältnisse erklären, sagt der Politikwissenschaftler Fuat Keyman, Leiter des Istanbul Policy Center an der renommierten Sabancı Universität: »Viele Beobachter machen den Fehler, von der Person Erdoğans Rückschlüsse auf die türkische Gesellschaft zu ziehen, oder die Türkei gleichzusetzen mit Diktaturen wie etwa in Syrien, Irak oder Russland.« Die türkische Demokratie lasse sich aber mit solchen Systemen nicht vergleichen, sie sei auf stabilerem Grund gebaut und lasse sich trotz Erdoğans jahrelanger Bemühungen nicht so leicht erschüttern.

 

»Anders als in postkolonialen Gesellschaften im Nahen Osten oder in Ländern wie Russland, deren Wirtschaft von einzelnen Rohstoffen abhängig ist, lässt sich in der Türkei der Rechtsstaat nicht so leicht aushöhlen. Die Bevölkerung ist selbstbewusst, multiethnisch und ergreift trotz aller Repressionen immer wieder die Chance zu gesellschaftlichen Veränderungen«, sagt Keyman. Erdoğan sei sich darüber im Klaren, dass sich das türkische Volk nicht völlig einschüchtern lasse, und mache deshalb immer wieder Zugeständnisse - wie etwa die Ankündigung, den Ausnahmezustand nach der Wahl aufzuheben – die nicht so recht zu seinem autokratischen Regierungsstil passten, glaubt Keyman.

 

Kein Machtwechsel ohne die Stimmen der Kurden

 

Bei der aktuellen Wahl kommt hinzu, dass Erdoğan sich seine Probleme selbst geschaffen hat, und nun eben auch mit bisher ungewohnter Kompromissbereitschaft auf die neuen Herausforderungen reagieren muss. Um ja keinen Machtverlust zu riskieren, ging er mit seiner Partei ein Wahlbündnis mit der ultranationalistischen MHP ein und änderte dafür das Wahlgesetz, das zuvor solche Bündnisse nicht zuließ. Von dem neuen Gesetz profitierte aber mindestens genauso sehr die traditionell zersplitterte türkische Opposition. Das von vier Oppositionsparteien - der linksnationalistischen CHP, der rechtsnationalistischen İYİ-Partei und der proislamischen Saadet-Partei - geschmiedete Wahlbündnis tritt mit vereinten Kräften gegen Erdoğan an und schickt mit dem charismatischen CHP-Kandidaten Muharrem İnce und der energischen, ultrakonservativen İYİ-Partei-Kandidatin Meral Akşener gleich zwei Herausforderer ins Rennen, die Erdoğan gefährlich werden könnten.

 

Ince, der aussichtsreichste Gegenkandidat, buhlt seit Beginn des Wahlkampfes konsequent um die Unterstützung von Demirtaş und seiner HDP, und die Saadet-Partei bemüht sich um die konservativen kurdischen Wähler, die bisher für Erdoğans AKP gestimmt hatten, denn ohne die Stimmen der Kurden wird ein Machtwechsel nicht möglich sein. Dass Erdoğan Demirtaş nun einen Fernsehauftritt ermöglichte, lässt sich wohl auch als Versuch lesen, seinerseits die kurdischen Wähler zu beschwichtigen.

 

Diese Zugeständnisse bedeuteten aber nicht, dass man Erdoğan mit dem Autokraten-Vorwurf Unrecht tue, sagt der Bremer Politikwissenschaftler und Türkei-Experte Roy Karadağ: »Zu den typischen Eigenschaften von Autokraten gehört die Angst vor dem Verlust ihrer Macht, und Erdoğan droht dieser Verlust gerade mehr als je zuvor. Ihm ist es zwar gelungen, ein System zu schaffen, das ganz auf ihn ausgerichtet ist, aber im Gegenzug heißt das eben auch, dass er für alles verantwortlich gemacht wird, was schief läuft in diesem System.« Dass es auch innerhalb der AKP-Klientel immer mehr Leute gebe, die unzufrieden seien mit der schrittweisen Abschaffung der Demokratie im Land, habe sich in den letzten Jahren immer wieder gezeigt und genau diese Abweichler seien es, die das Blatt bei der kommenden Wahl wenden könnten.

 

Was die noch immer bestehenden Freiräume für die Opposition angehe, oder die Tatsache, dass trotz aller Repressionen noch immer viele Menschen die Möglichkeiten haben sich frei zu äußern, dass es noch immer die eine oder andere regierungskritische Zeitung gibt, so seien dies zwar Zeichen dafür, dass es noch »einen Funken Demokratie« im Land gebe, aber das reiche nicht aus, um das politische System in der Türkei als nicht-autoritär zu bezeichnen: »Es gibt viele autoritäre Kontexte, in denen die Herrscher gut damit leben, dass sie nicht auf völlig totalitäre Art mobilisieren müssen.« Erdoğans AKP habe das auch gar nicht nötig, da sie stets auf eine Art Sperrminorität zählen könne: Rund 40 Prozent der türkischen Bevölkerung sind AKP-treu, egal was passiert. Auf diesen Block könne Erdoğan sich verlassen - und das wiederum erlaube es ihm, hier und da Freiheit und Offenheit zu inszenieren, um auch jenseits seines verlässlichen Unterstützer-Blocks Sympathien zurückzugewinnen.

 

Auf einigermaßen freie, demokratische Wahlen kann Erdoğan also nicht verzichten – auch wenn er das inzwischen vielleicht gerne wollte – wenn er nicht Verluste innerhalb seiner Anhängerschaft riskieren will. Denn insbesondere junge AKP-Wähler, bei denen sich in letzter Zeit ohnehin eine zunehmende Erdoğan-Müdigkeit beobachten lässt, könnten sich durch Wahlbetrug und Manipulation abgestoßen fühlen. Für seinen Machterhalt aber braucht er den Nachwuchs – eines von vielen Dilemmas, die zu Erdoğans oftmals widersprüchlichem Verhalten führen könnten.

Von: 
Yasemin Ergin

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