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Parteien in Kurdistan ein Jahr nach dem Referendum

Der Mythos welkt

Analyse
Der Mythos welkt
Präsident Masud Barzani (4.v.l.) bei der Trauerfeier für seinen alten Rivalen und späteren Verbündeten Jalal Talabani im Oktober 2017. Iraqi Presidency

Das Referendum zur Unabhängigkeit war ein Eigentor – doch die Führung der Kurdischen Autonomieverwaltung hat die Krise überstanden. So weitergehen kann es dennoch nicht.

Im September 2017 war Erbil übersät mit kurdischen Flaggen. Rot-Weiß-Grün mit Sonnenkranz und Partystimmung allerorten. Präsident Masud Barzani war es gelungen, fast die gesamte kurdische Bevölkerung hinter sich zu scharen und seinen Gegnern ein Schnippchen geschlagen. Alles dank des Referendums zur Unabhängigkeit der kurdischen Autonomiegebiete im Irak, das der Ansatzpunkt für eine »geordnete« Sezession der Kurden sein sollte, um den ersten lebensfähigen kurdischen Staat der Neuzeit zu gründen. So die Propaganda.

 

Barzani sorgte sich wenig um die Reaktion aus Bagdad und noch weniger um Widerstand aus den eigenen Reihen, schließlich hatte seine Strategie, die kurdischen Oppositionskräfte in die Enge zu drängen, gefruchtet. Die hatten vor allem den Alleingang des Präsidenten der Kurdischen Autonomieverwaltung kritisiert und auf die Vollmachten der Volksvertreter gepocht.

 

»Barzani hatte keine Autorität und Legitimität, um das Referendum einzuberufen. Nur eine demokratisch legitimierte Institution wie das Parlament darf die notwendigen Maßnahmen ergreifen, um die kurdische Unabhängigkeit sicherzustellen«, bilanzierte im Oktober 2017 – kurz nach der Intervention aus Bagdad – der damalige Sprecher des kurdischen Parlaments, Youssuf Mohammed Sadiq von der Gorran-Partei gegenüber zenith.

 

Die Reaktion auf das Referendum riss die kurdische Regierung aus allen Illusionen

 

Für die Opposition standen die Beweggründe des Präsidenten außer Frage: Denn eigentlich war Bazanis Mandat abgelaufen – die Mobilisierung für das Referendum verschaffte ihm und seiner Partei KDP (Demokratische Partei Kurdistans) die Möglichkeit, den Wahltermin hinauszuzögern und sicherzustellen, selber die sehr langen Verhandlungen mit Bagdad nach dem Referendum anzuführen.

 

So der Plan der kurdischen Regierung, die zudem in einem umfassenden Dokument sämtliche Verfassungsbrüche seitens der Zentralregierung veröffentlicht hat. Demzufolge war die konstitutionelle Union von 2005 lediglich ein »reversibler« Pakt. 2005 hätte die Verfassung nach kurdischer Auffassung nämlich keinen föderalen Staat begründen sollen, sondern einen Staatenbund zweier souveräner politischer Entitäten, aus dem die Kurden zurecht hätten austreten dürfen, wenn die Zentralregierung ihren Verpflichtungen nicht nachkommen sollte.

 

Was sich dann aber nach dem Referendum abspielte, riss Barzani und seine Partei aus allen Illusionen. Sämtliche Regionalmächte lehnten die einseitige Ausrufung des Referendums ab, Bagdad ließ umgehend sämtliche kurdischen Flughäfen blockieren. Noch schwerer wog die Besetzung der »umstrittenen Gebiete«, insbesondere der Stadt Kirkuk, die auch mit Hilfe der schiitischen Volksmobilisierungseinheiten (»Al-Haschd Al-Schabi«) durchgesetzt worden war.

 

 

Das Leben der kurdischen Bevölkerung hat sich in den Monaten der Blockade maßgeblich verschlechtert: Die Wirtschaft, die schon seit Jahren unter einer tiefen Krise durch den Kampf gegen den IS, wachsende Flüchtlingszahlen und Korruption gelitten hatte, ist noch weiter eingebrochen. Anfang des Jahres befand sich die Region im Stillstand.

 

Die wirtschaftlichen Auswirkungen der Blockade ließen auch bei den Großmächten die Alarmglocken läuten, insbesondere bei Russland, das mit Rosneft zu den Investoren der ersten Stunde in der Branche in Kurdistan zählt. Moskau drängte beide Seiten an den Verhandlungstisch – mit Erfolg: Im Februar einigten sich die Regierungen in Erbil und Bagdad, die Öllieferungen wieder fortzusetzen. Auch der Erdgasriese Gazprom will nun in Kurdistan Fuß fassen und befindet sich in Verhandlungen mit der Regierung in Erbil.

 

Das schwerwiegendste strukturelle Problem bleibt aber weiter bestehen: Irak hat das föderale System nie konsequent umgesetzt: Kurdistan ist zurzeit die einzige föderale Region Iraks, obwohl die Verfassung die Möglichkeit einräumt, andere Regionen aus verschiedenen Gouvernements zu bilden – ungeachtet deren ethnischer oder konfessioneller Zusammensetzung. Stattdessen mündete das föderale System in einen andauernden Konflikt zwischen der Regierung in Bagdad und der Verwaltung in Erbil. Die deutlichste Konsequenz dieses konstitutionellen Scheiterns zeigte sich in der Entstehung und der Verfestigung des sogenannten Islamischen Staates.

 

Die Beisetzung von Jalal Talabani markierte symbolisch das Ende einer Ära

 

Die Abkommen etwa mit Russland haben der KDP etwas Luft verschafft – und die notwendigen Gelder gesichert, um beispielsweise die Löhne im öffentlichen Dienst auszuzahlen. So gelang es der Partei, aus den irakischen Parlamentswahlen im März als stärkste kurdische Kraft hervorzugehen, wenngleich die Opposition Unregelmäßigkeiten und Manipulationen anprangerte, die in einigen Fällen auch vom Obersten Gericht bestätigt wurden.

 

Nach dem Wahlerfolg auf nationaler Ebene legten Barzani und die KDP umgehend den Wahltermin für das das kurdische Parlament fest. Die Vorbereitungen für den Urnengang am 30. September 2018 laufen bereits. Gegen eine mögliche Verschiebung, die zunächst im Raum gestanden hatte, sprach sich vor allem die PUK (Patriotische Union Kurdistans) aus – wohl auch, um in der Zwischenzeit nicht noch mehr an Boden zu verlieren. Der langjährige Widersacher (und spätere Partner) der KDP steckt seit dem Tod des ehemaligen irakischen Staatspräsidenten Jalal Talabani (1933-2017) in einer tiefen Krise.

 

Davon profitieren andere kurdischen Parteien – allen voran die KDP. Das zeigte sich etwa bei Talabanis Beisetzung im Oktober 2017 in Sulaimaniyeh, der langjährigen PUK-Bastion im Osten der Kurdischen Autonomieregion. Symbolisch markierte die Beerdigung das Ende einer politischen Ära und einer Generation – die der legendären Peschmerga, die aus den Bergen die irakische Armee bekämpft hatten und aus denen die beiden dominanten Parteien KDP und PUK hervorgingen.

 

 

Spricht man mit Oppositionellen, erkennt man rasch, wie sich der Generationenwechsel bereits gesellschaftlich manifestiert. Jahrelang war die nationale Frage der Mythos der kurdischen Politik. Seit fast 30 Jahren jedoch dürfen die Kurden sich eine eigene Regierung geben und zweifelsohne haben sie es geschafft, eine sehr stabile und sichere Region in einem unruhigen Land zu errichten. Der jüngeren Generation aber reicht das nicht mehr aus. Arbeit, faire Löhne, Infrastruktur, Wohlstand, aber auch Umweltschutz und Minderheitenrechte sind für die Jugend heute die wichtigsten Themen.

 

Das erklärt, weshalb die nationale Frage von der Agenda vieler Oppositionskräfte nahezu verschwunden ist. Gorran hat bereits einen klaren Plan für die Wahl sowie für die nächsten Jahre. »Das Referendum war ein Trick sei, um die Misserfolge der kurdischen Regierung zu verschleiern«, meint etwa Omar Ali Hoswar, Leiter der Abteilung Diplomatie der Partei Gorran (»Wandel«), die sich 2009 als Alternative zur Zweiparteienherrschaft in Kurdistan gegründet und prompt den Einzug ins Parlament geschafft hatte.

 

Noch offensichtlicher tritt der Bruch mit den konventionellen Koordinaten des kurdischen Politspektrums bei »Newey Nwe – Neue Generation« zutage. Die vom Medienunternehmer Shaswar Abdulwahid gegründete Partei hatte als einzige politische Kraft von Bedeutung eine Kampagne gegen die Annahme des Referendums organisiert.

 

Der rapide Absturz der PUK sollte Barzani und seiner Partei eine Warnung sein

 

Von der Notwendigkeit der Reformen sind aber auch gestandene Politgrößen überzeugt. So etwa Barham Salih, 2009 bis 2012 Premierminister der Kurdischen Autonomieregion. Salih trat Ende 2017 aus der PUK aus und gründete die »Koalition für Demokratie und Gerechtigkeit«.

 

Salih legt den Fokus auf die Zusammenarbeit mit Bagdad – als Voraussetzung, um eine gemeinsame Lösung in der Gas- und Erdölfrage zu finden. Erst dann werde es möglich sein, finanzielle Ressourcen zu sammeln, um die Wirtschaft vom Erdöl unabhängig zu machen, sowie den Ausbau von Infrastruktur für Verkehr, Wasserversorgung und Landwirtschaft zu anzugehen. Salih sieht eine Annäherung zwischen Erbil und Bagdad auch als Gelegenheit, das föderale System des Iraks insgesamt zu rehabilitieren.

 

Trotz der Öffnung des Parteienspektrums ist eine Veränderung der Kräfteverhältnisse zunächst nicht in Sicht. Noch versteht es insbesondere die KDP, Krisen zu überbrücken, Gelder aufzutreiben und den Unmut der Bevölkerung kurzfristig den Wind aus den Segeln zu nehmen. Doch der rapide Absturz des langjährigen Partners und Rivalen PUK sollte Barzani und seiner Partei Warnung genug sein, den unausweichlichen Generationenwechsel nicht ewig hinauszuzögern und grundlegende Strukturreformen endlich anzugehen.

Von: 
Fernando D'Aniello

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