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Parlamentswahlen in Marokko und die Niederlage der PJD

Die Entzauberung der Islamisten

Analyse
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Nach zehn Jahren in der Regierung wurde die islamisch-konservative PJD abgewählt. Der neue marokkanische Premier Aziz Akhannouch ist nach dem König der zweitreichste Mann des Landes und muss jetzt beweisen, dass er es ernst meint mit den Reformen.

Die Marokkanerinnen und Marokkaner haben die moderaten Islamisten der bisherigen Regierungspartei PJD bei den Parlamentswahlen am 8. September 2021 abgestraft – stattdessen wurde der Milliardär Aziz Akhannouch von der königsnahen RNI-Partei zum neuen Premierminister gewählt. Das deutliche Votum der Wählerinnen und Wähler zeigt, dass die einst dominate islamisch-konservative PJD mittlerweile zu einer ganz normalen Partei geworden ist, die man schlicht abwählt, wenn sie nicht liefert. Ob es der neuen Regierung allerdings besser gelingen wird, Reformakzente zu setzen und eine bürgernahe Politik anzubieten, ist offen.

 

Zehn Jahre lang hat die »Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung« (PJD) die marokkanische Politik dominiert: Sie führte die Regierung an, stellte in vielen Städten die Bürgermeister und entschied über den Haushalt. Nach den Demonstrationen des arabischen Frühlings 2011, die in Marokko zur Verabschiedung einer neuen Verfassung führten, war die von islamischen Werten geleitete PJD in den Augen vieler Menschen ein Hoffnungsträger. Eine Art Anti-System-Partei, die für einen neuen Politikstil stand.

 

Den PJD-Politikern wurde zugeschrieben, nicht als verlängerter Arm des Palastes zu agieren und sich im Gegensatz zu vielen anderen Parteifunktionären authentisch und ernsthaft für das Wohl der Bürger und Bürgerinnen einzusetzen. Diese Wahrnehmung bescherte der Partei 2011 und 2016 deutliche Wahlsiege. Gleichzeitig täuschte es lange darüber hinweg, dass die PJD rasch selbst Teil des Establishments wurde und nie wirklich eine echte Anti-System-Partei war.

 

Loyale Erfüllüngsgehilfen

 

Von Anfang an akzeptiere die PJD die Regeln des Spiels und die politischen Vorgaben des Palastes, der in Marokko weitgehende Machtbefugnisse genießt. Während es dem ersten PJD Premierminister Abdelilah Benkirane noch vereinzelt gelang, sich mit thematischen Akzenten von der Linie des Königs abzusetzen, wurde die Partei unter Führung des neuen Vorsitzenden und Premierministers Saadeddine Othmani ab 2016 zunehmend zu einem loyalen Erfüllungsgehilfen des Palastes. Diese Loyalität ging so weit, dass die PJD noch kurz vor den Wahlen 2021 die Anhebung des Renteneintrittsalters, die Legalisierung von Cannabis und die Normalisierung der Beziehungen zu Israel mittrug, obwohl alle drei Entscheidungen innerhalb der Partei und bei der eigenen Basis äußerst unpopulär waren.

 

Gleichzeitig gelang es den Amts- und Mandatstragenden der Partei nicht, den eigenen ethischen Standards und den Erwartungen der Bevölkerung gerecht zu werden. Auch PJD-Funktionäre waren in Korruptionsskandale verwickelt und auch in Städten, die von der PJD regiert wurden, hakte es bei der Bereitstellung von kommunalen Dienstleistungen. Ganz so wie bei anderen Parteien auch. Diese Erkenntnis entzauberte die PJD und ist vermutlich der Hauptgrund für die krachende Niederlage der Islamisten bei den Parlamentswahlen. Während die Partei vormals mit 125 Sitzen stärkste Kraft war, kommt sie im neu gewählten marokkanischen Parlament nur noch auf 13 Sitze und stellt in keiner Stadt des Landes mehr den Bürgermeister.

 

Die Wahlpleite der PJD sagt allerdings wenig über die Zukunft des politischen Islams in Marokko und der Region aus. Sie ist vielmehr auf die spezifische Machtkonstellation des politischen Systems in Marokko zurückzuführen, das den Parteien und der Regierung relativ enge, klar definierte Spielräume setzt und vom König dominiert wird. Von diesem Rahmen konnte sich die PJD nicht emanzipieren – wollte dies aber auch zunehmend weniger. Bisher gibt es keine Anzeichen dafür, dass sich die Niederlage der PJD negativ auf die Popularität anderer islamistischer Gruppierungen auswirkt. Die Mobilisierungsfähigkeit der zweiten großen islamistischen Bewegung in Marokko, der Al-Adl Wal Ihsane, die es bisher aus ideologischen Gründen ablehnt, als Partei am formellen politischen Prozess teilzunehmen, ist ungebrochen. Entsprechend gering muss auch die regionale Ausstrahlung des Wahlergebnisses der PJD eingeschätzt werden.

 

Die Marokkanerinnen und Marokkaner haben die Islamisten der PJD auf demokratische Art und Weise abgewählt und nun andere Parteien mit der Regierungsarbeit beauftragt. Das heißt allerdings nicht, dass tatsächlich eine absolute Mehrheit der marokkanischen Bevölkerung für die neue Koalitionsregierung der Parteien RNI, PAM und Istiqlal gestimmt hat. Gut 50 Prozent der Wahlberechtigten haben an den Parlamentswahlen teilgenommen. Das ist mehr als jemals zuvor bei einer nationalen Wahl, entspricht aber dennoch nur circa 35 Prozent der marokkanischen Bevölkerung im wahlberechtigten Alter.

 

Das liegt daran, dass sich alle volljährigen Marokkanerinnen und Marokkaner erst selbstständig ins Wählerverzeichnis eintragen lassen müssen, um tatsächlich wählen zu dürfen. Knapp ein Drittel hat das aber nicht getan, darunter viele junge Menschen, die sich nicht ausreichend von den politischen Parteien repräsentiert fühlen. Dies deckt sich auch mit den jüngsten Ergebnissen des Trust-Index, der jährlich vom Moroccan Institute for Policy Analysis erhoben wird. Demnach haben 74 Prozent der Menschen kein Vertrauen in die politischen Parteien. Hieraus leitet sich ein klarer Auftrag für die Zukunft ab: Die neue Regierung unter Premierminister Aziz Akhannouch muss das Vertrauen der Bevölkerung zurückgewinnen und ihre Handlungs- und Reformfähigkeit unter Beweis stellen. Die Rahmenbedingungen hierfür sind gut.

 

Es gibt keine Islamisten mehr, auf die man die Schuld abwälzen kann

 

Mit dem Bericht der nationalen Sonderkommission für die Erarbeitung eines neuen Entwicklungsmodells, der dem marokkanischen König im Mai 2021 vorgelegt wurde, verfügt die neue Regierung bereits über einen umfassenden Katalog an Handlungsempfehlungen, der in vielen Bereichen bereits den politischen Fahrplan der nächsten fünf Jahre vorgibt. Im Parlament stützt sich die neue Regierung auf eine komfortable Zweidrittelmehrheit – zudem gibt es nur wenige inhaltliche Differenzen zwischen den drei Koalitionspartnern. Außerdem unterhält die »Unabhängige Nationalversammlung« (RNI) gute Beziehungen zum Palast, sie wurde einst von einem Schwager des alten Königs Hassan II. gegründet. Premier Akhannouch gilt als Vertrauter von König Mohammed VI. und hat nun die Möglichkeit im positiven Sinne durchzuregieren.

 

Für eine glaubhafte Erneuerung und eine bürgernahe Politik braucht es jetzt in erster Linie politischen Willen. Ebenfalls wichtig wird aber auch der transparente Umgang mit Interessenkonflikten sein. Der designierte Premierminister gilt nach dem König als reichster Mann Marokkos und ist über sein Konzernimperium an zahlreichen Unternehmen aus der Öl- und Gas-Industrie aber auch aus dem Immobilien- und Mediensektor beteiligt. Gleichzeitig führt Akhannouch seit 2007 das Landwirtschaftsministerium des Königreichs. Diese Verquickung von wirtschaftlicher und politischer Macht rückte ihn bereits 2018 in den Fokus einer nationalen Boykottkampagne, die sich unter anderem gegen die Afriquia-Tankstellen der Familie Akhannouch richtete.

 

Nach der Wahl hat sich Akhannouch komplett aus der Führung seiner Akwa-Gruppe zurückgezogen. Bisher gibt es aber keinen allgemeinen gesetzlichen Rahmen, der Funktionären und Angestellten des öffentlichen Dienstes Vorgaben für den Umgang mit Interessenkonflikten macht. Nizar Baraka, der Chef der Istiqlal-Partei, hatte bereits Ende 2020 – damals noch als Oppositionspolitiker – einen ersten Gesetzentwurf für die Prävention von Interessenkonflikten in öffentlichen Ämtern vorgelegt. Nun hätte er die Chance, diesen gemeinsam mit der RNI und der PAM in der Regierung umzusetzen.

 

Die kommenden fünf Jahre werden zeigen, ob es der Regierung von Akhannouch gelingen wird, nachhaltige Reformen anzustoßen und das neue Entwicklungsmodell mit Leben zu füllen. Bereits jetzt hat der Ausgang der Parlamentswahlen die Rolle des marokkanischen Palastes gestärkt, der ohne die PJD keinen Gegenspieler in der Regierung mehr hat. Dies wird den Palast zukünftig vermutlich aber auch zwingen, stärker selbst mit in die Verantwortung zu gehen, wenn die Dinge nicht so laufen wie sie sollten. Denn es gibt keine Islamisten mehr, auf die man die Schuld abwälzen kann.

Von: 
Bauke Baumann

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