Tunesien als politisches Labor. Der neue Präsident Kais Saied könnte mit seinen radikalen Ideen das politische System auf den Kopf stellen.
Ist Zuneigung eine Frage der Gewohnheit? Zumindest für die tunesische Demokratie scheint das nicht zuzutreffen. Seit Zine El-Abidine Ben Ali 2011 vom Hof gejagt wurde, hatten die Tunesier reichlich Gelegenheit, sich an die parlamentarische Demokratie zu gewöhnen. Sechs faire und freie Wahlen auf nationaler und lokaler Ebene – Tunesien gilt heute zurecht als konsolidierte, funktionierende Demokratie.
Echte Zuneigung für die hart erkämpfte Parteiendemokratie mag sich aber noch nicht einstellen. Im Gegenteil: Die Zustimmung zu Parteien und Parlamentarismus sinkt. In Umfragen geben nur noch neun Prozent der Befragten an, Parteien zu vertrauen – beim Parlament sind es 15 Prozent. Besonders junge Menschen tragen ihre Ablehnung offen zur Schau. Dabei waren nicht wenige von ihnen 2010 auf den Straßen, um für Demokratie zu demonstrieren.
Wie konnte es so schnell zur Entfremdung kommen? Einerseits ist es offensichtlich, dass die tunesische Demokratie wichtige Kernforderungen der Revolution bis heute nicht erfüllt hat. Ob Arbeits- und Perspektivlosigkeit oder soziale und regionale Disparität: Viele bewerten ihre sozioökonomische Lage heute schlechter als vor der Revolution. Jedes politische System, das solche Ergebnisse produziert, hätte mit Legitimitätsproblemen zu kämpfen.
Kais Saied schwebt ein Modell direkter Volksdemokratie vor, das gerade unter Jugendlichen auf große Zustimmung stößt.
Hinzu kommt aber noch etwas, das sich am ehesten als generelles Unwohlsein mit dem politischen Prozess bezeichnen lässt. Nach Jahren des politischen Stillstands ist der demokratische Entscheidungsfindungsprozess weitgehend entzaubert. Statt als Vertreter des Volkswillens werden Parteien als selbstreferentielle Machtapparate wahrgenommen, für viele ein Inbegriff von Korruption und Vetternwirtschaft. Auf diesem Boden gedeihen Ideen, deren Umsetzung nicht weniger revolutionäre Folgen hätte als der Umsturz von 2011.
Verkörpert werden sie vor allem von Kais Saied, seit Oktober 2019 Präsident Tunesiens. Der Verfassungsrechtler gewann als unabhängiger Kandidat für viele Beobachter unerwartet deutlich die Wahlen und ist heute der mit großem Abstand populärste Politiker des Landes. Saied verdankt seinen Wahlerfolg zwei ineinandergreifenden Botschaften. Erstens: bedingungsloser und durch persönlichen Habitus vorgelebter Kampf gegen Korruption; zweitens: radikale Reform des politischen Systems und Abschaffung der Parteiendemokratie.
In unterschiedlicher Tiefenschärfe spricht Saied seit Jahren davon, dass Parteien ein Relikt der Vergangenheit und längst »dem Tode geweiht« seien. Ihm schwebt ein Modell direkter Volksdemokratie vor, das gerade unter Jugendlichen auf große Zustimmung stößt. Nicht mehr Parteien, sondern Einzelpersonen sollten auf allen Ebenen direkt gewählt werden und persönlich und unmittelbar ihre Wähler vertreten. Basisdemokratie, Volksentscheide und an der Spitze des Staates der Präsident.
Tunesiens Parteien haben noch immer nicht begriffen, dass sie in existentieller Gefahr schweben.
Gänzlich neu sind solche Gedanken in der Region nicht – sie erinnern stark an die libysche Volksdschamahiriya von Muammar Al-Gaddafi, wenngleich Saied der religiös-mystische Impetus fehlt. Nun wäre es ein Leichtes, dieses Modell mit einem müden Lächeln als unpraktikabel abzutun und auf die zweifellos vorhandene Gefahr des Populismus zu verweisen. Zu unterschätzen ist die Tragweite von Saieds Ideen aber nicht.
Zum einen verweist Saieds Erfolg auf eine tiefe, weltweite Legitimationskrise der repräsentativen Demokratie. Zum anderen sollte niemand die Augen vor der erstaunlichen Tatsache verschließen, dass ein emeritierter Juraprofessor heute mehr junge Leute mobilisieren kann als alle 226 in Tunesien registrierte Parteien zusammen. Die Diskussion über ein Referendum zur Verfassungsreform wird kommen, zumal Saied für dieses Vorhaben den mächtigen Gewerkschaftsverband UGTT an seiner Seite weiß.
Ein solches Plebiszit würde für Saied sicher positiv ausfallen. Tunesiens Parteien haben noch immer nicht begriffen, dass sie in existentieller Gefahr schweben. Gelingt es ihnen nicht bald, spürbare Erfolge zu verzeichnen, wird ihr Ansehen weiter sinken. Um den radikalen Ideen Saieds den Wind aus den Segeln zu nehmen, bedarf es ebenso radikaler Maßnahmen. Der regelmäßige Gang zur Wahlurne reicht offensichtlich nicht, um ein angemessenes Niveau an Teilhabe zu gewährleisten. Insbesondere sozioökonomische Partizipation durch Umverteilung und das Aufbrechen von Kartellstrukturen sind notwendig, um der parlamentarischen Demokratie eine Zukunftschance zu bieten.
Henrik Meyer ist Politik- und Islamwissenschaftler. Seit 2015 leitet er das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) in Tunis.