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Nach den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in der Türkei

Erdoğans Rezept für den Wahlsieg

Analyse
Türkische Fahne mit Gebäuden im Hintergrund
Foto: Wikimedia Commons

Die AKP-MHP-Koalition verfolgte eine langfristige Strategie der Einschüchterung und Manipulation, die am Tag der Wahlen nichts dem Zufall überlassen sollte. Doch auch der Wandel innerhalb der Gesellschaft legte die Grundlage für Erdoğans Sieg.

Die momentane Wirtschafts- und Finanzkrise hatte der türkischen Opposition Grund zur Hoffnung gegeben: Vielleicht ist die Bevölkerung unzufrieden, vielleicht entscheidet sie sich bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen am 24. Juni für eine Alternative. Und doch zog Recep Tayyip Erdoğan mit einem Vorsprung von 22 Prozent an seinem Herausforderer, Muharrem İnce von der kemalistischen CHP, vorbei.

 

Noch am Wahltag wurden Vorwürfe der Wahlmanipulation laut; in sozialen Netzwerken häuften sich Videos, die Stapel von vor-ausgefüllten Wahlzetteln, bewaffnete Sicherheitskräfte in Wahllokalen und gewalttätige Auseinandersetzungen an den Wahlurnen zeigten.

 

Auch die Ergebnisverkündung gestaltete sich abenteuerlich: Während die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu Ajansı bereits Erdoğans Sieg verkündete, waren die Internetseiten des »Hohen Wahlausschusses« (YSK) und der von oppositionellen Gruppen gegründete Wahlbeobachtungsplattform »Adil Seçim« stundenlang nicht aufrufbar. Diese bestätigten zwar am darauffolgenden Tag das Ergebnis, konstatierten jedoch einen weitaus geringeren Vorsprung vor der Opposition als in den inoffiziellen Hochrechnungen der Anadolu Ajansı.

 

Je nach Region mussten die Wählerinnen und Wähler für den Urnengang große Distanzen zurücklegen

 

Es wäre jedoch zu kurz gegriffen, den Wahlsieg Erdoğans und der AKP-MHP-Allianz allein auf Demoralisierung und Wahlmanipulation am Wahltag zurückzuführen. Tatsächlich verfolgte die Koalition um Präsident Erdoğan eine langfristige Strategie, die durch Beeinflussung und Einschüchterung der Wählerschaft am Wahltag nichts dem Zufall überließ.

 

Im März verabschiedeten AKP und MHP ein neues Wahlgesetz, das – aus Sicherheitsgründen – die kurzfristige Umlagerung von Wahlurnen legitimiert. Die Folge: Je nach Region mussten die Wählerinnen und Wähler für den Urnengang große Distanzen zurücklegen – ein besonderes Problem für weniger mobile Menschen in Regionen mit schwacher Infrastruktur, insbesondere in kurdischen Gebieten im Osten und Südosten der Türkei.

 

Auch der Zugang zu regierungskritischen Medien gestaltet sich schwierig. Seit dem Verkauf der Mediengruppe Doğan Yayın Holding an die regierungsnahe Firmengruppe Demirören Holding im März dieses Jahres befinden sich die türkischen Medien fast komplett in Händen der AKP und ihres Umfelds. Selahattin Demirtaş, der als Präsidentschaftskandidat der HDP auf Platz drei landete, erhielt seit Bekanntgabe des vorgezogenen Wahltermins im April nicht eine Minute Sendezeit in regierungsnahen Nachrichtensendern.

 

»Wir werden euch in die Schranken weisen, eure Existenzberechtigung ist vorbei«

 

Unter diesen Bedingungen ist es schwierig, sich Zugang zu alternativen Informationsquellen und einer differenzierten politischen Meinung zu verschaffen. Unter Studierenden in den großen Städten mag das keine große Hürde darstellen; verlässt man Istanbul oder Izmir und fährt ein paar Kilometer in Richtung Zentralanatolien schnellen die Ergebnisse für das AKP-MHP-Bündnis auf bis zu über 80-Prozent.

 

»Wir werden euch in die Schranken weisen, eure Existenzberechtigung ist vorbei,« drohte der türkische Innenminister Suleyman Soylu am Wahltag der HDP-Co-Vorsitzenden Pervin Buldan per Telefon. Doch die Einschüchterung der Opposition seitens AKP und MHP beschränkte sich nicht nur auf den 24. Juni.

 

Der Druck auf die Opposition nahm seit den Wahlen 2015, dem Putschversuch und dem darauf verhängten Ausnahmezustand im Juli 2016 stetig zu. Besonders die HDP lernte, was es heißt, Wahlkampf unter Extrembedingung zu führen: Ihr Präsidentschaftskandidat Selahattin Demirtaş sitzt seit November 2016 wegen angeblicher »Terrorpropaganda und Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation« im Gefängnis. Bis zuletzt fürchtete er, nicht zur Wahl zugelassen zu werden.

 

Seit dem gescheiterten Putschversuch 2016 haben sich viele AKP-Anhänger bewaffnet

 

Anfang 2016 unterzeichneten über 1.000 Akademiker hochrangiger Universitäten den Aufruf »Akademiker für den Frieden«. Ein Großteil der türkischen Unterzeichner verlor seinen Arbeitsplatz und musste das Land verlassen. Auch Studierende, die gegen den Angriff des türkischen Militärs auf die nordsyrische Provinz Afrin protestierten, wurden von der Polizei misshandelt und wochenlang in Untersuchungshaft festgehalten. Die momentane Auslastung der türkischen Gefängnisse beträgt 110 Prozent; es sollen weitere 100.000 Plätze geschaffen werden, ein Großteil ist bereits für politische Gefangene reserviert.

 

Seit dem gescheiterten Putschversuch vom 15. Juli 2016 haben sich viele AKP-Anhänger bewaffnet. Laut Melih Gökçek – Ankaras Bürgermeister bis 2017 – stünden die selbsternannten »AK-Milizen« im Falle eines erneuten Putschversuches umgehend bereit. Auch Emin Canpolat, Vorsitzender des »Vereins der Osmanen 1453« (Osmanlı ocakları 1453) und fanatischer Erdoğan-Anhänger, ruft fast täglich auf Twitter dazu auf, sich für »Vaterland, Fahne und Erdoğan« zu rüsten. Wie schlagkräftig ausgerüstet die Erdoğan-treuen Milizen tatsächlich sind, ist schwer zu sagen: Die AKP hatte den Antrag der CHP abgelehnt, der eine landesweite Erfassung des privaten Waffenbesitzes forderte.

 

Auch der Koalitionspartner der AKP, die rechtsnationalistische MHP, weist eine lange Geschichte des bewaffneten Kampfes auf. Die MHP entstand Ende der 1960er Jahre als politischer Arm der Grauen Wölfe – eine türkisch-nationalistische, paramilitärische Organisation, die besonders in den 1970er Jahren zahlreiche Morde beging. Damals sahen sie ihre Hauptaufgabe darin, linke Studentenvereine und die aufkommende kurdische Unabhängigkeitsbewegung zu zerschlagen.

 

»Ihr müsst besondere Maßnahmen ergreifen, ihr habt die Wahllisten«

 

Auch heute ist die MHP Anlaufpunkt für radikale türkische Nationalisten, die einen harten Kurs gegen nationale und religiöse Minderheiten fordern. Eine Radikalisierung vor allem der jugendlichen AKP-Anhänger ist ganz ihrem Sinne – nicht zuletzt, um diejenigen Wähler zur AKP-MHP-Allianz zurückzuholen, die mit der Abspaltung der İYİ-Partei verloren gegangen waren, als sich ein Teil der MHP-Anhängerschaft gegen das Verfassungsreferendum 2017 gestellt hatte.

 

Die Wochen und Monate vor den Wahlen waren von gewaltsamen Angriffen auf Oppositionelle gekennzeichnet. Anfang Juni 2018 machte in sozialen Netzwerken ein Handyvideo die Runde, das einen Auftritt Erdoğans vor AKP-Bezirksvorstehern zeigt: »Draußen würde ich nicht darüber reden, aber euch will ich Folgendes sagen: Wenn die HDP es nicht über die 10-Prozent-Hürde ins Parlament schafft, dann bringt uns das in eine bessere Lage. Ihr müsst besondere Maßnahmen ergreifen, ihr habt die Wahllisten und ihr kennt die Leute in eurem Bezirk«, instruiert der Präsident seine Parteigenossen.

 

Bei den Wahlen im Juni 2015 hatte die HDP mit ihrem Einzug ins Parlament die AKP um ihre alleinige Mehrheit gebracht. In den darauffolgenden Tagen häuften sich die Angriffe auf Wahlstände der HDP. Insbesondere in den Provinzen Kocaeli und Malatya, in denen Anhänger der MHP mit Eisenstangen umherzogen, landeten freiwillige HDP-Unterstützer im Krankenhaus.

 

Spekulationen über das überdurchschnittlich gute Abschneiden der MHP in Ostanatolien

 

Manch ein AKP-Gegner bezahlte gar mit seinem Leben: In der südostanatolischen Stadt Urfa hatte der Händler Hacı Esvet Şenyaşar verkündet, er werde den örtlichen AKP-Kandidaten İbrahim Halil Yıldız nicht wählen. Yıldız’ Begleiter eröffnete daraufhin mit einer Kalaschnikow das Feuer. Şenyaşars Sohn und ein Bruder starben sofort, er selbst und ein weiterer Sohn wurden später im Krankhaus von AKP-Anhängern mit Sauerstoffflaschen erschlagen.

 

Entgegen vieler Erwartungen gelang es der MHP, ihr Ergebnis der Wahlen im November 2015 mit rund 11 Prozent stabil zu halten. Anhänger der Opposition sahen im unerwartet guten Abschneiden den Beweis, dass Erdoğan den Wahlbetrug geschickt über seinen Koalitionspartner abgewickelt habe – und das ausgerechnet in den kurdischen Regionen im Osten und Südosten des Landes.

 

Viele Ortschaften dort wurden durch die schweren Angriffe des türkischen Militärs in Mitleidenschaft gezogen oder wurden wie Nusaybin, eine Kleinstadt in der südtürkischen Provinz Mardin, nahezu dem Erdboden gleichgemacht. Ab 2016 mussten kurdische Bürgermeister und große Teile der Lokalverwaltung ihre Posten räumen; die Leerstellen wurden durch regierungstreue Beamten ersetzt. Al-Monitor-Kolumnistin Pinar Tremblay schlussfolgert, dass es die Stimmen dieser Beamten sowie deren Familien und Kollegen waren, die der MHP ein besseres Wahlergebnis bescherten.

 

Der Rechtsruck der türkischen Wählerschaft darf nicht außer Acht gelassen werden

 

Im April dieses Jahres hatte Präsident Erdoğan verkündet, die Wahlen von Ende 2019 auf Juni 2018 vorzuziehen. So würde nicht nur auf scheinbar demokratischem Weg die neuen Vollmachten der Exekutive schneller in Kraft treten, die das Verfassungsreferendum 2017 beschlossen hatte. Gleichzeitig blieb der Opposition so kaum Zeit, um eine aussichtsreiche Wahlkampagne auf die Beine zu stellen. Dennoch: Repressionen und Wahlbetrug seitens AKP und MHP sind nicht allein für die Niederlage der Oppositionsparteien verantwortlich.

 

Europäische Medien hatten Muharrem İnce, Präsidentschaftskandidat der CHP und Erdoğans stärkster Herausforderer, als Hoffnungsträger für einen demokratischen Wandel und eine angeblich neu gewonnene Einigkeit der Opposition zelebriert. Für einen zweiten Wahlgang war ihm bereits die Unterstützung eines Großteils der Oppositionsparteien sicher. Kurz vor Mitternacht – es waren noch nicht alle Wahlurnen geöffnet – rief sich Erdoğan bereits zum Sieger aus. Alle Hoffnungen lagen auf Muharrem İnce; doch noch bevor der »Hohe Wahlausschuss« am darauffolgenden Tag das offizielle Wahlergebnis bekanntgab, gratulierte der CHP-Kandidat dem Amtsinhaber zum Wahlsieg und legte diesem auf einer Pressekonferenz nahe, gemäß İnces Wahlmotto »ein Präsident für uns alle zu sein und die Nation zu umarmen«.

 

Das sorgte für Ärger in den eigenen Reihen: Der CHP-Vorsitzende Kemal Kılıçdaroğlu weigerte sich, Erdoğan als Sieger anzuerkennen und bezeichnete ihn stattdessen als »Diktator«; die CHP-Basis hatte bereits in der Wahlnacht auf den Straßen des Istanbuler Stadtteils Şişli lautstark den selbsterklärten Wahlsieg Erdoğans angefochten. Interne Fraktionskämpfe und die fehlende Bereitschaft für ein Bündnis mit der HDP zeigen, dass die größte Oppositionspartei CHP nach wie vor keine ernsthafte Alternative zur AKP-MHP-Regierung ist.

 

Es darf schließlich nicht der Rechtsruck der türkischen Wählerschaft außer Acht gelassen werden. Selbst wenn sich alle Vorwürfe des Wahlbetrugs als wahr herausstellen sollten – der Vorsprung der AKP-MHP-Koalition auf ihre Kontrahenten zeigt, dass ein großer Teil der Bevölkerung Erdoğan für einen kompetenten Präsidenten hält. Es wäre somit fahrlässig, das Wahlergebnis auf bloße Manipulation zurückzuführen.

 

Es liegt an der Opposition, eine lückenlose Aufklärung der Unregelmäßigkeiten am Wahltag einzufordern

 

Für viele Türkinnen und Türken sprach wohl allein das Motto »Wer kämpft, kann verlieren, doch wer nicht kämpft, der hat schon verloren« gegen einen Wahlboykott. Nun fragen sich viele Oppositionsanhänger, ob die Anstrengungen der letzten Monate umsonst waren.

 

Eine Aufklärung der Betrugsvorwürfe scheint nicht in Sicht. Es wird sich zeigen, ob die Oppositionsparteien mit Resignation, radikaleren Organisationsformen oder Boykottaufrufen reagieren– sollten die für 2022 angesetzten Präsidentschafts- und Parlamentswahlen überhaupt stattfinden. Dabei liegt es an der Opposition, eine lückenlose Aufklärung der Unregelmäßigkeiten am Wahltag einzufordern.

 

Um längerfristig gegen die tiefgehende Manipulation seitens der AKP-MHP-Koalition vorzugehen, bedarf es einer politischen Kraft, die Alternativen zur bisherigen Wirtschaftspolitik aufzeigt und der türkischen Bevölkerung reale Verbesserungen in Aussicht stellt. Die kemalistische CHP müsste interne Grabenkämpfe überwinden und ihre Feindschaft gegenüber den Kurden aufgeben, die sie mit ihrer Unterstützung der Militäroffensive im nordsyrischen Afrin abermals zur Schau gestellt hatte. Es ist einfach, Erdoğans Wahlsieg lediglich auf Wahlmanipulation zurückzuführen. Das ist aber zu wenig, um beim nächsten Mal einen demokratischen Wandel zu erreichen.

Von: 
Svenja Huck

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