Zehntausende algerische Demonstranten fordern die Aufgabe der Kandidatur von Präsident Abd al-Aziz Bouteflika sowie eine vollständige Reform des Regimes. Wie wird der Staat reagieren? Drei Szenarien vor den anstehenden Präsidentschaftswahlen.
Szenario 1: Bouteflika bleibt im Rennen
Die Unterstützer von Abdelaziz Bouteflika bestehen darauf, ihn trotz wachsender Proteste im Rennen zu halten. Sollte es so kommen, würde das einem Ende des politischen Prozesses gleichkommen und gewissermaßen das Wahlergebnis vorwegnehmen – denn der amtierende Präsident wird von den Behörden, der Armee, Geschäftsleuten, staatlich kontrollierten Medien, dem Sicherheitsapparat, den Verbänden sowie allen Parteien der Regierungskoalition und vielen zivilgesellschaftlichen Organisationen unterstützt.
Dieses Szenario, dass Bouteflika einfach stur für eine weitere Amtszeit kandidiert, ist vor allem dann wahrscheinlich, wenn sich die genannten Kräfte hinter den Kulissen nicht einvernehmlich auf einen anderen Kandidaten einigen können, der verspricht, ihre Interessen zu wahren.
Für dieses Szenario spricht, dass schon vor den Protesten Gegenkandidaten aufgestellt wurden – ein verzweifelter Versuch, den anstehenden Wahlen am 19. April den Anstrich von Legitimation zu verleihen. Außerdem bestünde immer noch die Möglichkeit, durch den gezielten Einsatz bestellter Provokateure die Friedfertigkeit der Proteste zu untergraben. So würden die Demonstranten zu einem legitimen Ziel für die Sicherheitskräfte, was letztlich dazu führen könnte, die Bewegung zu diskreditieren und den Rückzug der Demonstranten zu bewirken.
Doch das Regime sollte es besser wissen, als sich freiwillig in ein solches Chaos zu manövrieren – und könnte stattdessen Bouteflikas fünfte Amtszeit dem eigenen Machterhalt opfern.
Szenario 2: Bouteflika zieht sich zurück
Die Reaktion der Behörden auf die Proteste verblüfft, denn Premierminister Ahmad Ouyahia erinnerte zu Beginn des Wahlkampfes an das verfassungsmäßige Recht der Algerier, friedlich zu demonstrieren – und das, unmittelbar nachdem er zuvor gedroht hatte, Proteste gegen Bouteflikas Kandidatur zu unterdrücken. Mit dieser Rhetorik wird es dem Regime zunehmend schwer fallen, die Menschen davon zu überzeugen, dass Stabilität und nationale Aussöhnung damit verbunden sind, Bouteflika im Amt zu halten. Auch Verweise auf terroristische Bedrohungen oder die Kriege in Libyen und Syrien verlieren so an Glaubwürdigkeit.
Bouteflikas schlechter Gesundheitszustand ist offensichtlicher denn je, seine Amtsunfähigkeit kein Geheimnis mehr. Er ist eine Marionette. Die Günstlinge seiner Präsidentschaft müssen sich also nach einem Ersatz umschauen, um das zu retten, was vom Ansehen des algerischen Staats noch zu retten ist. Würde es ihnen gelingen, Bouteflika aus der Gleichung zu nehmen, müsste sich die Elite vielleicht nicht den anderen Forderungen der Demonstranten stellen. Man könnte den Verzicht auf die Kandidatur etwa mit medizinischen Gutachten begründen und alle Seiten würden ihr Gesicht wahren.
Damit dieses Szenario jedoch eintrifft, müsste ein Ersatz für Bouteflika in den Startlöchern stehen und vorab von allen begünstigten Parteien abgesegnet sein. Darüber hinaus müsste dieser potentielle Ersatzmann durch staatliche und private Medien entsprechend inszeniert werden und seine Kandidatur finanziert werden.
Szenario 3: Alles oder nichts
Die Demonstranten werden nichts anderes akzeptieren, als den Verzicht auf eine fünfte Amtszeit. Doch sie fordern darüber hinaus eine vollständige Reform dessen, was sie ein »mörderisches Regime« nennen. Slogans wie »Wir sind der Staat und fordern den Regimewandel« oder »Nein zur fünften Amtszeit und nieder mit dem Regime« sind Beleg für die umfassende Erschöpfung und Wut der algerischen Bevölkerung. Die Menschen haben es satt, dass sich lediglich das Gesicht des Staates ändert, während dieselben korrupten Leute an der Macht bleiben. Und sie wissen inzwischen, dass Präsident Bouteflika lediglich eine Fassade ist: für opportunistische Geschäftsleute, korrupte Offiziere, für Parteien sowie die von ihnen kontrollierten Medien.
Der steigende öffentliche Druck – mittlerweile haben sich auch Anwälte, Journalisten und Studenten den Protesten anschlossen – könnte nicht nur zum Rückzug von Bouteflikas Kandidatur, sondern sogar zu einer Verschiebung der Wahlen führen. Am Ende könnte eine Übergangsphase stehen, innerhalb derer tiefgreifende Reformen durchgeführt werden: Beginnend mit der Verfassung, um dem Präsidenten endlich die Möglichkeit zu geben, Armee und Sicherheitskräfte, die sich seit der Unabhängigkeit des Landes in die politischen Belange einmischen, in die Schranken zu weisen.
Eine solche Übergangszeit müsste die Auflösung des Parlaments beinhalten, das nicht einmal in der Lage ist, einen offensichtlich nicht amtsfähigen Präsidenten von seinen Aufgaben zu entbinden. Vielleicht müsste man auch über die Auflösung jener Parteien nachdenken, die bislang ohnehin nur eine Aufgabe hatten: die Verherrlichung des Präsidenten. Schließlich wäre die Reform des Justizsystems entscheidend, das es versäumt hat, korruptes Personal zur Verantwortung zu ziehen. Ein Szenario, zu perfekt, um Wirklichkeit zu werden.