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Kurz Erklärt: Parlamentswahlen in Kirgistan

Wohin blickt Bischkek?

Analyse
Kurz Erklärt: Parlamentswahlen in Kirgistan
Reiterstatue des mythischen Nationalhelden Manas auf dem Ala-Too-Platz in der kirgisischen Haptstadt Bischkek Dan Lundberg / Flickr

Kirgistan galt lange als demokratische Insel in Zentralasien. Welchen Kurs wird das Land nach den Parlamentswahlen vom November einschlagen und welche Rolle spielen Russland und China dabei?

Was ist passiert?

Am 28. November 2021 haben die Kirgisinnen und Kirgisen ein neues Parlament gewählt. Bei den Parlamentswahlen im November 2021 standen insgesamt 21 Parteien und 1.036 Kandidatinnen und Kandidaten zur Wahl, viele von ihnen politische Neulinge. Nur vier der 21 Parteien waren bereits im Oktober 2020 angetreten. Von diesen zur Wahl stehenden Parteien zogen insgesamt sechs ins Parlament ein. Drei Parteien gelten als regierungsnah, die drei anderen Parteien sind wohl als System-Opposition einzuschätzen. Damit konnte der bislang durchaus umstrittene Präsident Sadyr Japarov seine Machtbasis konsolidieren.

 

Ein Novum ist der Einzug der Partei Yiman Nuru mit 5,98 Prozent der Stimmen. Mit ihr ist zum ersten Mal in der Geschichte Kirgistans eine islamische Partei im Parlament vertreten. Progressive Oppositionsparteien und Politiker konnten dagegen nur wenig Stimmen auf sich vereinen. Prominente Ausnahme ist Dastan Bekeshev, der eines der vier Direktmandate in Bischkek mit 47,58 Prozent der Stimmen gewann. Er zieht damit als einer der wenigen bekannten Oppositionellen ins Parlament ein.

 

Die Mehrheit der Kandidaten, die eines der 36 Direktmandate erringen konnten, gehören dagegen dem Machtzirkel der regierenden Elite um Präsident Japarov (Norden) und den Vorsitzenden des Nationalen Sicherheitsrates Kamtschibek Tashiyev (Süden) an. Beide begannen ihre politische Karriere unter dem Präsidenten Kurmanbek Bakiyev (2005-2010), der aus dem südlichen Teil Kirgistans stammte. Der Machtkampf zwischen dem Norden und Süden des Landes, mit den Zentren Bischkek und Osch, ist ein wiederkehrendes Motiv der kirgisischen Politik.

 

Die Parlamentswahl im November 2021 war bereits die vierte innerhalb von 14 Monaten. Die Wahlergebnisse vom Oktober 2020 waren aufgrund von Protesten wegen massiver Wahlfälschung annulliert worden. Daraufhin musste Präsident Sooronbay Jeenbekov zurücktreten, an seine Stelle trat Sadyr Japarov als Ministerpräsident und Interimspräsident. Japarovs Anhänger hatten ihn während der Proteste aus dem Gefängnis befreit.

 

Japarov initiierte nach der Machtübernahme eine umfangreiche Verfassungsreform, unter anderem wurde das Parlament von 120 auf 90 Sitze geschrumpft. Zudem setzte er einen umfassenden Revisionsprozess der kirgisischen Legislative in Gang, die insgesamt 400 Gesetze auf den Prüfstand stellt. Dieses Vorgehen rief sowohl national als auch international Kritik hervor.

 

Worum geht es eigentlich?

Kirgistan galt lange als demokratischer Sonderfall in Zentralasien. Nach der Unabhängigkeit 1991 schlug die kleine Republik einen Liberalisierungskurs und eine Annäherung an den Westen ein. Auch wenn diese Periode nur kurz währte, half sie, eine lebhafte Zivilgesellschaft hervorzubringen – ein Alleinstellungsmerkmal in Zentralasien. In dieses Bild passten auch die letzten drei Machtwechsel. Die Machtverteilung und der Zugang zu Ressourcen wurden bisher immer entlang der Nord-Süd-Aufteilung organisiert. Der Norden Kirgistans, meist Hochgebirge, ökonomisch besser entwickelt als der Süden und von einem säkularen Islam geprägt, steht im Kontrast zu dem eher landwirtschaftlichen und traditionell islamisch geprägten Süden des Landes.

 

Die Tulpenrevolution, die 2005 durch ein umstrittenes Ergebnis bei den Präsidentschaftswahlen ausgelöst worden war und im Süden Kirgistans ihren Ursprung hatte, endete mit der Absetzung von Präsident Askar Akayev (1991-2005, Norden). Präsident Bakiyev (Süden) wiederum wurde nach gewaltsamen Protesten im April 2010 gestürzt. Daraufhin leitete eine provisorische Regierung unter der Führung von Rosa Otunbayeva eine konstitutionelle Reform ein. Die im Juni 2010 verabschiedete neue Verfassung stärkte die Macht des Parlaments und begrenzte die Amtszeit des Präsidenten auf eine Amtsperiode.

 

Es folgten die beiden nächsten Präsidenten, Atambayev (Norden) und Jeenbekov (Süden). Der dritte politische Umbruch fand nach den Parlamentswahlen im Oktober 2020 statt. Seitdem befindet sich die Republik Kirgistan in einem Reformprozess. Unter anderem wurde das Präsidialsystem wieder eingeführt. Zugleich gewinnen autokratische Tendenzen, wie auch in anderen Teilen der Welt, an Schwung.

 

Wie geht es weiter?

Sozioökonomisch konnte sich das Land seit der Unabhängigkeit nicht weiterentwickeln. Die politische Liberalisierungswelle seit 2010 und die Einführung des parlamentarischen Systems hat daran nichts geändert. Kirgistan steht gemessen am Bruttoinlandprodukt (BIP) weltweit an 154. Stelle. Die kirgisische Wirtschaft ist aufgrund ihrer starken Abhängigkeit von Rücküberweisungen vor allem aus Russland (25 Prozent des BIP), und der Goldproduktion (etwa zehn Prozent des BIP und 40 Prozent der Exporte) nicht sehr breit aufgestellt. Auf den ersten Blick könnte man nun eine Rückkehr zum Präsidialsystem und ein Ende der Liberalisierung erwarten.

 

Allerdings haben die kirgisischen Machteliten gelernt und orientieren sich in systemischen Fragen zunehmend an der Türkei, Russland und China. Die Errichtung eines reinen Rentenstaates wie in der Vergangenheit ist daher nicht zu erwarten. Vielmehr dagegen eine Mischung aus verschiedenen Systemen und Instrumenten.

 

Seit seinem Amtsantritt hat Japarov gezielt die Nähe zu Recep Tayyip Erdoğan gesucht. Die bisher vorherrschende russische Sprache wird zunehmend durch die Turksprache Kirgisisch verdrängt. Eine Entwicklung, die dazu geführt hat, dass Russland die Regierung Japarov nicht als populistisch, sondern als nationalistisch einstuft.

 

Trotz der daraus resultierenden Distanz orientiert sich die Regierung Japarov insbesondere normativ an Putins Russland. Beispiele sind die Stellung des Präsidenten, die NGO-Gesetzgebung, aber auch der Einzug von Systemparteien als alleinige Opposition ins neue Parlament. Als Reaktion auf den Rückzug der NATO aus Afghanistan und den Unruhen in Kasachstan wird Russland zukünftig wohl auch wieder in sicherheitspolitischen Aspekten eine Rolle in Kirgistan spielen.

 

China wiederum dient der Regierung Japarov als Geldgeber und Lieferant für Technologie. 2019 belief sich die Hälfte des kirgisischen Schuldenbergs auf Verbindlichkeiten gegenüber China. Man kann davon ausgehen, dass dieser Anteil steigen wird. Gleichzeitig ist die kirgisische Hauptstadt Bischkek mittlerweile von einem Netz von Überwachungskameras überzogen und folgt damit dem Konzept der sogenannten Smart Cities in China.

Von: 
Rebecca Wagner und Philipp C. Jahn

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