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Kurz Erklärt: Zwangsräumungen in Jerusalem

Was Sheikh Jarrah für Palästina bedeutet

Analyse
Kurz Erklärt: Zwangsumsiedlungen in Jerusalem
Andrew Shiva / Wikipedia / CC BY-SA 4.0

Zwangsräumung, Provokationen und massive Polizeigewalt. Was hinter den Protesten im Ostjerusalemer Viertel Sheikh Jarrah steckt und was das mit der Al-Aqsa-Moschee und Gaza zu tun hat.

Was ist geschehen?

 

Anfang Mai kamen die Bewohner von Sheikh Jarrah zusammen, um gegen die angeordneten Zwangsumsiedlungen ihrer Mitbürger aus dem palästinensischen Viertel in Ostjerusalem zu protestieren. Israelische Gerichte hatten beschlossen, die Häuser von sechs palästinensischen Familien zu räumen; sieben weitere sollten im August folgen. Insgesamt handelte es sich um 58 Menschen, unter ihnen 17 Kinder, die aus Sheikh Jarrah vertrieben werden sollten, um Platz für jüdische Siedler zu schaffen.

 

Es war der Ausgangspunkt für die folgende Gewalt, die, dokumentiert durch zahlreiche Bilder und Videos, unter dem Hashtag #SaveSheikhJarrah globale Aufmerksamkeit erlangte. Polizei und Siedler gingen gegen die Palästinenser vor, die sich weigerten, ihre Häuser zu verlassen.

 

Neben Sheikh Jarrah stürmten Polizeieinheiten nun auch die im Ramadan besonders gut besuchte Al-Aqsa-Moschee und das muslimische Viertel in Jerusalems Altstadt. Der Einsatz von Blendgranaten und Gummigeschossen – auch innerhalb der drittwichtigsten Moschee des Islams – führte zu hunderten verletzten Palästinensern.

 

Den vorläufigen Höhepunkt der Eskalation markierte der Raketenbeschuss aus dem abgeriegelten Gazastreifen, den Israel mit wiederholten Bombardierungen erwiderte. Mehrere Menschen in Israel wurden verletzt; in Gaza waren Dutzende Tote zu beklagen, darunter neun Kinder.

 

Worum geht es eigentlich?

 

Bei Sheikh Jarrah handelt es sich um einen Stadtteil inmitten des von Israel besetzten Ostjerusalems. In Folge der Staatsgründung Israels siedelten sich 1956 die ersten palästinensischen Geflüchteten in Sheikh Jarrah an, das sich zu dem Zeitpunkt noch unter jordanischer Verwaltung befand. Das änderte sich 1967, als Israel Ostjerusalem und große Teile des Westjordanlands besetzte – so auch Sheikh Jarrah.

 

Die aktuellen Zwangsumsiedlungen haben eine jahrzehntelange Vorgeschichte: Während mehrere UN-Resolutionen Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre die israelische Annexion verurteilten, erließ Israel auf Druck von Siedler-Organisationen 1972 ein spezifisches Verwaltungsrecht. Es erlaubte jüdischen Israelis, exklusive Ansprüche auf Land zu stellen, das bereits vor der Gründung Israels jüdisch besiedelt gewesen sein soll.

 

Unter anderem beriefen sich Kläger auf jüdische Stiftungen, die bereits 1876, als das Gebiet unter osmanischer Verwaltung stand, Land erworben haben sollen. Auf dieser Grundlage übertrugen israelische Gerichte die Besitzrechte in Sheikh Jarrah an zwei jüdische Komitees, die das Land wiederum an die Siedler-Organisation »Nahalat Shimon International« weiterverkauften.

 

Seit den 1990er Jahren versucht diese Organisation, Familien in Sheikh Jarrah umzusiedeln – oft mit Zwang der israelischen Polizei. Selbsterklärtes Ziel ist es, das gesamte Viertel für den Siedlungsbau zu räumen. Die unzähligen Versuche palästinensischer Familien, mit Dokumenten den Besitzanspruch auf ihre Häuser zu untermauern, werden regelmäßig abgelehnt.

 

In den vergangenen Jahrzehnten mussten hunderte Menschen in Ostjerusalem ihre Häuser verlassen. Diese Praxis bewegte vor einer Woche Rupert Colville, Sprecher des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte, die Zwangsräumungen als mögliche Kriegsverbrechen einzustufen. Aktuell sind insgesamt 200 Palästinenser mit einer Zwangsräumung aus Sheikh Jarrah konfrontiert.

 

Wie geht es nun weiter?

 

Seine Geschichte hat Sheikh Jarrah zu einem Zentrum des palästinensischen Aktivismus gegen jüdische Siedler werden lassen. Israels resolutes und aggressives Vorgehen hat viele Palästinenser in ihrer Wahrnehmung bestätigt, die Besatzungsmacht nutze die Al-Aqsa-Moschee und auch den Gazastreifen als Druckmittel, um den Protestierenden eine rote Linie zu signalisieren.

 

Die jüngsten Eskalationen an eben jenen Orten verstärken diesen Eindruck. Schon jetzt ist klar, dass Gaza, knapp 70 Kilometer von Sheikh Jarrah entfernt, am Ende dieser Gewaltspirale die meisten Opfer zu beklagen haben wird. Die Hamas, die nichts mit den Protesten in Sheikh Jarrah zu tun gehabt hatte, nutzt die Eskalation in Jerusalem, um sich selbst wieder nach vorne zu drängen und als Verteidiger palästinensischer Rechte zu inszenieren.

 

Parallelen zur Ausgangslage vor dem Ausbruch der Zweiten Intifada sind nicht von der Hand zu weisen: Im Jahr 2000 hatte Israels Regierung mit einem Besuch Ariel Scharons auf dem Haram Al-Scharif, dem Gelände um die Al-Aqsa-Moschee, die Spannungen endgültig eskalieren lassen.

 

Eine neue Qualität im Vergleich zu früheren Eskalationen rund um Zwangsräumung in Ostjerusalem ist die internationale Aufmerksamkeit, die insbesondere der Hashtag #SaveSheikhJarrah in den sozialen Medien generierte.

Von: 
Darius Hofmann

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