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Kurz erklärt: Sturm auf das georgische Parlament in Tiflis

Das steckt hinter den Protesten in Georgien

Analyse
Sturm auf das georgische Parlament in Tiflis
Protest gegen den Auftritt des russischen Politikers Sergey Gavrilov im georgischen Parlament am 21. Juni in Tiflis Foto: Nikoloz Urushadze

Über zehn Jahre nach dem Krieg gegen Russland bricht sich in Georgien die Wut über Moskaus Einfluss in der Region Bahn. Im Fokus der Kritik steht eine Regierung, die als Hoffnungsträger ausgedient hat – und die Orthodoxe Kirche.

Was ist passiert?

Der Besuch des russischen Politikers Sergey Gavrilov im georgischen Parlament führte zu schweren Protesten in Tiflis. Tausende Menschen gingen in der georgischen Hauptstadt auf die Straße. Wütende Demonstranten versuchten, das Parlamentsgebäude zu stürmen. Die Polizei reagierte mit Tränengas und Gummigeschossen. Insgesamt wurden mindestens 240 Menschen verletzt, einige davon schwer, darunter auch 34 Journalisten und 80 Polizisten.

 

Der Auslöser: Der russische Politiker hatte eine interparlamentarische Sitzung anlässlich eines in diesem Jahr in Georgien stattfindenden orthodoxen Kirchentreffens geleitet. Gavrilov nahm dabei auf dem Stuhl des Parlamentspräsidenten Platz und führte die Sitzung auf Russisch – in Georgien ein schwerer Affront.

 

Hintergrund: Die Beziehungen zwischen Moskau und der ehemaligen Sowjetrepublik Georgien sind seit Jahren wegen schwelender Territorialkonflikte angespannt. Russland erkennt die Unabhängigkeit von Abchasien und Südossetien an. Beide sogenannte De-facto-Staaten gehören völkerrechtlich zu Georgien. Zuletzt brach 2008 ein Krieg zwischen Russland und Georgien aus. Gavrilov wird zudem nachgesagt, im Abchasien-Krieg Anfang der 1990er Jahre auf Seiten der Separatisten gegen Georgien gekämpft zu haben.

 

Die Oppositionspartei Vereinigte Nationale Bewegung (VNB) rief zu Protesten gegen den Auftritt Gavrilovs auf. Die Parlamentssitzung wurde vorzeitig beendet. Die Protestierenden verfolgten den Duma-Abgeordneten der Kommunistischen Partei bis zum Hotel und forderten die Abreise der russischen Delegation und den Rücktritt des georgischen Parlamentspräsidenten Irakli Kobaschidze. Kobaschidze wird vorgeworfen, den Auftritt Gavrilovs ermöglicht zu haben. Die russische Delegation reiste vorzeitig ab und Kobaschidze trat als Parlamentspräsident zurück. Am 21. Juni verbot der russische Präsident Wladimir Putin daraufhin russischen Fluggesellschaften, Flüge nach Georgien anzubieten und bat russische Bürger, nach Russland zurückzukehren. Russische Politiker riefen zu einem Boykott georgischer Waren auf.

 

Worum geht es eigentlich?

Wirtschaftlich zahlt Georgien einen hohen Preis für die Eskalation. Russland ist einer der wichtigsten Importeure georgischer Waren. Auch in der Tourismusindustrie ist Georgien auf russische Besucher angewiesen. Nach Angaben der georgischen Tourismusverwaltung waren von 8.669.544 ausländischen Besuchern im Jahr 2018 1.404.757 Russen. Nach Besuchern aus Aserbaidschanern stellten die Russen damit die zweitgrößte Gruppe. Die Ereignisse haben nun verdeutlicht, wie angespannt die georgisch-russischen Beziehungen noch immer sind. Und dass in weiten Teilen der georgischen Bevölkerung kein Interesse an einer Normalisierung der Beziehungen besteht, solange die Konflikte um Abchasien und Südossetien ungelöst bleiben. Für Georgien sind russische Wirtschaftssanktionen nichts Neues: Bereits 2006 und 2008 hatte Russland ein Einfuhrverbot für georgischen Wein verhängt.

 

Auch innenpolitisch haben die Proteste Konsequenzen. Zu Zeiten der VNB-Regierung unter Mikhael Saakaschwili wurden immer wieder Fälle exzessiver Polizeigewalt publik. Es war sein autoritärer Führungsstil, der letztlich zur Bildung der breiten Oppositionsbewegung »Georgischer Traum« (GT) führte, die den bis heute umstrittenen Ex-Präsidenten dem Amt gejagt und sich insbesondere eine transparentere Regierungsführung auf die Fahnen geschrieben hatte. Nun zeigt sich: Auch nach sieben Jahren GT-Regierung bleibt Polizeigewalt ein eklatantes Problem in Georgien.

 

Ein weiteres Ziel der Kritik und des Protestes ist die Georgische Orthodoxe Kirche. Obwohl Georgien formell ein säkularer Staat ist, übt die Kirche einen starken Einfluss auf Politik und Öffentlichkeit aus und tritt als Bewahrer sozialkonservativer Werte auf. Doch die Tatsache, dass der Gavrilov-Auftritt vom Patriarchat organisiert wurde und sie nach den Ereignissen keine antirussische Haltung eingenommen hat, könnte den Ruf der Kirche beschädigen.

 

Wie geht es nun weiter?

Wirtschaftlich wird Georgien seine Außenhandelsbeziehungen weiter diversifizieren und Investoren und Touristen aus anderen Ländern, insbesondere aus Europa und den USA, anlocken müssen, um die Abhängigkeit von Russland zu verringern. Bisher taten sich die letzten Regierungen damit, trotz einiger Anstrengungen, schwer. Zumindest kurzfristig wird es also kaum gelingen, die Einbußen im Handel mit Russland anderweitig auszugleichen.

 

Moskau zeigt derzeit keinen Willen, seine Politik in Bezug auf Abchasien und Südossetien zu ändern, sodass eine Entspannung zwischen beiden Ländern kaum wahrscheinlich ist. Strategisch hilft die neuerliche Eskalation zwischen Russland und Georgien vor allem den USA, die in der Ex-Sowjetrepublik Georgien einen verlässlichen Verbündeten gefunden haben.

 

Innenpolitisch könnte der neuerliche Fall von Polizeigewalt gerade im Hinblick auf die Parlamentswahlen 2020 wieder zu einem zentralen Wahlkampfthema werden. Trotz sieben Jahren in Regierungsverantwortung ist es dem »Georgischen Traum« nicht gelungen, die Gewaltkultur in der georgischen Polizei nachhaltig zu verändern. Die VNB präsentiert sich unter neuer Führung dagegen geläutert. Wer auch immer die Wahlen gewinnen wird: Klar ist, dass die neue Regierung in Bezug auf Russland äußerst vorsichtig agieren muss. Eine scheinbar pro-russische Einstellung bleibt politischer Selbstmord.

Von: 
Elisabed Abralava

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