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Kurz erklärt: Muslime im Nordosten von Indien und das neue Staatsbürgerregister

Nach Kaschmir kommt Assam

Analyse
von Leo Wigger
Kurz erklärt: Muslime im Nordosten von Indien
Teeplantage in Assa. Die Aussicht auf Arbeit in den Teeplantagen der Provinz lockte schon zu Zeiten der britischen Herrschaft Migranten aus benachbarten Regionen nach Assam, darunter auch viele bengalische Muslime. Foto: Rita Willaert lizensiert gemäß CC BY-NC 2.0

Vor wenigen Wochen verloren fast zwei Millionen Menschen in Assam vorläufig ihre Bürgerrechte. Nun baut die Regierung hochbewachte Internierungslager. Was geht im Nordosten Indiens vor?

Was ist passiert?

Ende August veröffentlichte die Regierung des nordindischen Bundestaates Assam ein aktualisiertes Bevölkerungsregister, das »National Registry of Citizens« (NRC). Das NRC gibt es seit 1951 in ganz Indien, es wurde seitdem aber nie aktualisiert.

 

Nur: Fast 2 Millionen Einwohner Assams tauchten nicht in dem neuen Register auf. Die Betroffenen, viele Muslime, aber auch bengalische Hindus und Angehörige von alteingesessenen Stämmen (so genannten Scheduled Castes and Tribes), haben seitdem 120 Tage Zeit, die Entscheidung vor Ausländertribunalen anzufechten.

 

Die Betroffenen müssen ihre indische Staatsbürgerschaft zum Beispiel über eine Geburtsurkunde oder Grundeigentum nachweisen. Das Problem: Viele Assamesen besitzen keine Papiere. Ein Viertel der Bevölkerung kann nicht lesen. Der Rechtsweg ist daher für viele Betroffene ohne Hilfe praktisch versperrt. Der Registrierungsprozess diskriminierte zudem Frauen und »Hijras«, also Transgender.

 

Den Betroffenen droht nun der Verlust der indischen Bürgerrechte, oder, schlimmstenfalls, die Ausweisung. Die Registrierung ist nur für Menschen möglich, deren Vorfahren nachweislich bereits vor der Gründung des benachbarten mehrheitlich muslimischen Landes Bangladesch im Jahr 1971 in Indien gelebt haben. Die indische Regierung wirft vielen Betroffenen nämlich vor, ursprünglich aus Bangladesch zu stammen. Die Aktualisierung des NRC sei daher nötig, um illegale Einwanderer zu identifizieren. Bangladesch weist das zurück und weigert sich, Flüchtlinge aufzunehmen. Ein Ausweiseabkommen gibt es zwischen den beiden Ländern nicht.

 

Mehrere tausend angebliche Ausländer wurden bereits verhaftet. Zugleich nahm die religiös motivierte Gewalt gegen Muslime zum Beispiel in der Region Bodoland, an der Grenze zu Bhutan, zu. Dass es illegale Einwanderung aus Bangladesch nach Assam gibt, gilt dabei als weitgehend unstrittig. Kritiker bemängeln aber, dass das neue NRC neben zahlreichen Bengalen, die bereits seit Jahrzehnten in Assam leben, auch Minderheiten ausschließe, die schon vor 1971 in den Staat gekommen seien. Die Aussicht auf Arbeit in den Teeplantagen der Provinz lockte schon zu Zeiten der britischen Herrschaft Migranten aus benachbarten Regionen nach Assam, darunter auch viele bengalische Muslime.

 

Die Regierung des mit 32 Millionen Einwohnern bevölkerungsreichsten Bundestaates der so genannten Sieben Schwesterstaaten im äußersten Nordosten Indiens hatte den Bürgern die Möglichkeit gegeben, sich zu registrieren. Ein erster Entwurf wurde bereits im Sommer 2018 veröffentlicht. Damals fehlten sogar noch rund vier Millionen Bürger auf der Liste.

 

Die indische Regierung plant nun den Bau von mindestens zehn hochgesicherten dauerhaften Ausweiselagern für mehrere tausend Insassen und hat in der Stadt Goalpara bereits mit der Errichtung eines ersten Lagers begonnen. Nach Medienberichten sind viele Bauarbeiter selbst von einer möglichen Ausweisung betroffen.

 

Worum geht es eigentlich?

Die Regierung des indischen Ministerpräsidenten Narendra Modi verfolgt seit dem erneuten Wahlsieg in diesem Jahr offensiver als bisher eine hindunationalistische Politik. Neben Kaschmir zweiter Hauptschauplatz: Assam. Die Provinz hat mit 34 Prozent den zweithöchsten Anteil an Muslimen in Indien.

 

In der Vergangenheit brachen in Assam fremdenfeindliche Strömungen mit teils antimuslimischer Komponente immer wieder in gewaltsame Ausschreitungen aus. Im Jahr 1983 kamen bei Pogromen vor allem gegen bengalische Muslime über 2.000 Menschen ums Leben. Die Situation beruhigte sich damals durch ein Friedensabkommen, das damals die Aktualisierung des NRC und die Ausweisung illegaler Einwanderer vorsah. Die damals noch regierende Kongresspartei hatte an der Umsetzung allerdings wenig Interesse.

 

Der Grundkonflikt ist also keineswegs neu. In der Provinzpolitik spielte der Topos einer angeblichen »Überfremdung« seit Jahrzehnten eine wichtige Rolle. Nun bricht der Konflikt von damals nach 46 Jahren aber wieder offen auf.

 

Die Regierungspartei Bharatiya Janata Party (BJP) von Ministerpräsident Modi steht nämlich für die Ideologie des »Hindutva«. Sie sieht sich primär als Vertreterin hinduistischer Interessen und macht immer wieder mit anti-muslimisch konnotierten Forderungen Stimmung bei ihrer Kernwählerschaft rechter Hindunationalisten. Die Durchsetzung nach einer Aktualisierung des NRC und die Ausschaffung angeblich illegaler Einwanderer war bereits im Wahlkampf dieses Jahr eine ihrer Hauptforderungen.

 

Der indische Innenminister Amit Shah möchte das NRC nun sogar im ganzen Land aktualisieren. Der Präsident der Regierungspartei BJP gilt als Hardliner. Bereits im letzten Jahr sorgte Shah bei Menschenrechtsgruppen für Empörung, als er angebliche bangladeschische Migranten im Wahlkampf wiederholt als »Termiten« beschimpfte.

 

»Der Präsident der indischen Regierungspartei überschreitet eine beunruhigende und leider wohlbekannte Grenze. Der Weg zum Völkermord und anderen Massenverbrechen wird immer zuerst von mächtigen Politikern geebnet, die dehumanisierende Sprache verwenden und von ›Termiten‹, ›Schaben‹ oder ›Ungeziefer‹ reden«, warnte Andrew Stroehlein von Human Rights Watch damals auf Twitter.

 

Neben der Aktualisierung des NRC plant die Regierung zudem die Verabschiedung des sogenannten »Citizenship Amendment Bills«, welches illegalen Einwanderern aus Afghanistan, Pakistan und Bangladesch ein Recht auf die indische Staatsbürgerschaft einräumt. Der Clou: Das Gesetz gilt nur für Nicht-Muslime.

 

Wie auch die jüngsten Entwicklungen in Kaschmir dienen diese Initiativen der BJP vor allem einem Zweck: das hinduistisches Wesen Indiens auf Kosten von Minderheiten zu stärken.

 

Das Verhältnis zwischen Hindus und Muslimen ist dabei die wichtigste politische Trennlinie. Immer schwingt die Erinnerung an die dramatischen Umstände der indischen Teilung in einen muslimischen Staat, Pakistan, und das mehrheitlich hinduistische Indien im Jahr 1947 mit. Auf beiden Seiten gingen die Opferzahlen damals bis in die Hundertausende. Bis zu 14 Millionen Menschen wurden vertrieben.

 

Beobachter aus Assam legen allerdings Wert darauf, dass sich die Situation vor Ort signifikant von anderen Schauplätzen anti-muslimischer Agitation in Indien unterscheide. Anders als in Kaschmir oder Uttar Pradesh seien in Assam bisher ethnische Trennlinien wichtiger gewesen als religiöse. Der Nordosten Indiens unterscheidet sich kulturell stark vom indischen Kernland.

 

Wie geht es weiter?

Informationen über die Lage in Assam dringen zurzeit kaum nach außen. Zum einen, weil unter ausländischen Journalisten zuletzt Meldungen kursierten, dass der Bundestaat für sie gesperrt sei. Dies stellte sich zwar als Falschmeldung heraus. Nur waren da schon viele Korrespondenten in Delhi geblieben. Zum anderen, weil einheimische Journalisten in der nationalistisch aufgeheizten Stimmung aus Angst, als anti-indisch zu gelten, immer häufiger vor einer kritischen Berichterstattung zurückschrecken. Für viele Beobachter das größte Problem: Selbstzensur.

 

Die Vorgänge bedeuten erst einmal, dass fast 2 Millionen Menschen droht, ihrer grundsätzlichen Bürgerrechte beraubt zu werden. Neben dem Wahlrecht garantiert die indische Staatsbürgerschaft auch den Zugang zu Sozialleistungen.

 

Zudem kann sich das chronisch überlastete indische Justizsystem auf eine Welle langwieriger Verfahren einstellen, die es auf Jahre beschäftigen könnte. Neben den zahlreichen Betroffenen die vor den Ausländertribunalen in Assam in Berufung gegangen sind, haben übrigens auch Hindunationalisten Klagen angekündigt. Sie werfen der Provinzregierung vor, dass durch das aktualisierte NRC viele illegal eingewanderte Muslime rechtswidrig als indische Staatsbürger registriert wurden.

 

Eine gewaltsam forcierte Flüchtlingsbewegung hunderttausender assamesischer Bengalen in Richtung bangladeschischer Grenze, wie im historisch ähnlich gelagerten Fall der Rohingya, ist zwar nicht auszuschließen, aber unwahrscheinlich. Es gibt keine Rechtsgrundlage für eine Aufnahme der Ausgebürgerten durch Bangladesch. Und eine derartige Eskalation der bilateralen Beziehungen zwischen Delhi und Dhaka kann kaum im indischen Interesse liegen.

 

Wahrscheinlicher ist dagegen, dass die indische Regierung tatsächlich planen könnte, die ihren Bürgerrechten entzogenen Bewohner Assams massenhaft in den neuen Ausweiselagern zu internieren. Dieses Szenario würde an die Situation in China erinnern, wo Peking Hunderttausende Uiguren – und Angehörige anderer muslimischer Minderheiten – in so genannten Umerziehungslagern eingesperrt hat.

 

Unklar ist zudem, ob Assam erst den Auftakt für weitergehende Ausbürgerungskampagnen setzt. Wenn Innenminister Shah seine Drohung wahr macht, die Aktualisierung des NRC auf weitere Teile des Landes auszuweiten, könnte sich die drohende humanitäre Notlage schnell vervielfachen – zum Beispiel in der Provinz Westbengalen, wo ähnlich gelagerte soziale Spannungen bestehen. Sicher sagen lässt sich hingegen, dass sich die Situation für Muslime in Indien zuletzt deutlich verschlechtert hat.

Von: 
Leo Wigger

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