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Joris van Bladel im Interview zur russischen Rolle in Syrien

»Russland will alle Karten in der Hand behalten«

Interview
»Russland will alle Karten in der Hand behalten«
Russlands Präsident Wladimir Putin und Verteidigungsminister Sergej Schoigu Kreml

Syrische Streitkräfte schießen ein russisches Flugzeug ab, iranische Milizen verharren an der israelischen Grenze. Hat Russland seinen Einsatz in Syrien noch im Griff? Militärforscher Joris van Bladel im Interview.

zenith: In Syrien mischen mittlerweile viele Staaten mit. Hat Russland dabei die Nase vorn?

Joris van Bladel: Zum aktuellen Zeitpunkt, ja. Russland konnte seine Macht nicht nur durch militärische Stärke, sondern auch in den Verhandlungen zu verschiedenen lokalen Friedensabkommen demonstrieren. Das bedeutet jedoch nicht, dass das auch so bleibt. Syrien ist längst ein fragiler Staat, in dem die Verhältnisse jederzeit durcheinander geworfen werden können. Idlib könnte ein Auslöser dafür sein.

 

Wird Russland das Momentum nutzen, um auch in Zukunft in Syrien mitzumischen?

Es gibt durchaus Anzeichen, die darauf schließen lassen, dass Russland eine langjährige Präsenz in Syrien, besonders an der Küste, anstrebt und diese auch schon vorbereitet. Ein Beispiel sind die russischen Kasernen. Ihre Größe sowie ihre Befestigung sind darauf ausgelegt, dass neben den Soldaten auch deren Familien dort leben können. Außerdem unterstützt Russland Syrien etwa bei der Reform der syrischen Armee und ist wesentlich an der Etablierung langfristiger staatlicher Strukturen beteiligt.

 

Ist dieses Vorgehen neu? Sehen wir in Syrien aktuell eine komplett andere russische Strategie, militärisch mit solchen Krisen umzugehen?

Langfristig betrachtet nicht. Moskau setzte schon immer auf Machdemonstration, um seinen Status als Supermacht zu betonen. In Syrien ist das vor allem möglich, weil sich das Militär durch Reformen enorm weiterentwickelt hat. Dennoch haben die Russen bei ihren Operationen in Syrien auch immer eine gewisse Zurückhaltung an den Tag gelegt, die auf den ersten Blick untypisch wirkt. Die Sorge vor einem militärischen Desaster und vor hohen personellen Verlusten ist groß – man könnte von einer Art »Afghanistan-Syndrom« sprechen. Man darf nicht außer Acht lassen, dass die Streitkräfte in den 1990er Jahren tief in der Krise steckten. Seit 2008 geht es bergauf. Ich denke, dass wir seit 2015 die ersten Ergebnisse der Armeereform sehen.

 

Woran machen Sie das fest?

Die Russen sind in der Lage, mit modernem Equipment umzugehen und es im Kampf einzusetzen. Sie nutzen die Erkenntnisse ihrer Nachrichtendienste sinnvoll für ihre Einsätze. Vor allem geht es aber darum, dass Moskau es in Syrien geschafft hat, eine Balance zwischen der militärischen Stärke und einer politisch-strategischen Zurückhaltung zu schaffen.

 

Mit Sicherheit achten die Russen weniger auf den Schutz der Zivilisten als der Westen

 

Aus Westeuropa wird den Russen oft unterstellt, sie würden sich nicht um zivile Opfer scheren.

Ich denke diese Behauptung ist – in gewissem Maße – durchaus gerechtfertigt. Das liegt vor allem an den Waffen, die Russland in Syrien einsetzt. Die russischen Streitkräfte verfolgen eine Strategie, die sich sehr darauf konzentriert, den Feind auszulöschen. Dabei sind nur fünf Prozent der eingesetzten Waffen Lenkgeschosse. Die restlichen Waffen sind dementsprechend deutlich unpräziser und führen somit auch schneller und öfter zu Kollateralschäden. Andererseits sollte man auch nicht vergessen, dass die Verbreitung von Angst und Brutalität in Kriegen oftmals als Mittel zum Zweck genutzt wird. Man kann also durchaus sagen, dass die Russen mit Sicherheit weniger auf den Schutz der Zivilisten achten als der Westen.

 

Sind Themen wie zivile Opfer überhaupt Teil der Sicherheitsdebatte oder der öffentlichen Debatte in Russland?

Ich habe nicht das Gefühl. Dafür gibt es verschiedene Gründe. Zum einen spielt Propaganda eine Rolle. Oftmals wird der Fokus auf den Aspekt der humanitären Hilfe gelegt, um dem schlechten Ruf des russischen Einsatzes in Syrien etwas entgegenzusetzen. Man ist sich in Moskau durchaus der Bedeutung der öffentlichen Meinung, sowohl im Innern als auch auf globaler Ebene, für den Erfolg der Operation in Syrien bewusst. Andererseits dürfen wir aber auch nicht vergessen, dass wir den Einsatz aus einer sehr westlichen Perspektive sehen. Viele Klientel- und ehemalige Klientelstaaten Russlands, aber auch enttäuschte Klientelstaaten des Westens beurteilen Russlands Vorgehen in Syrien als durchaus positiv. Sie sehen Russland als Staat, der Verantwortung übernimmt.

 

Wie ist dabei das Verhältnis zwischen russischen und syrischen Streitkräften? Kann man von einer Beziehung auf Augenhöhe sprechen oder gibt es eine klare Hierarchie?

Das kann man so generell nicht sagen. Es gibt Situationen, in denen die Russen die absolute Befehlsgewalt innehaben. Wenn die russische Armee direkt beteiligt ist, akzeptieren sie keinerlei syrische Befehle oder Kontrolle. Es gibt aber auch Situationen, in denen sie den syrischen Streitkräften nur beratend zu Seite stehen.

 

Wäre es denkbar, dass ein russischer Leutnant einem syrischen General Befehle erteilt?

Nicht direkt, aber es gibt durchaus eine gewisse Hierarchie, in der die Syrer den Russen untergeordnet sind. Besonders bei den Einsätzen, an denen die Russen unmittelbar beteiligt sind.

 

 

Ein weiterer zentraler Akteur ist Iran. Eigentlich sollen iranischen und russischen Truppen in Syrien zusammenarbeiten, trotzdem tauchen immer wieder Berichte über Rivalitäten zwischen den Verbündeten auf.

Bisher haben beide Seiten es zwar geschafft, diese Spannungen auszugleichen, aber das kann sich jederzeit ändern. Wie angespannt die Beziehungen sind, war mehrmals zu beobachten. Die Russen waren beispielsweise nicht in der Lage, Iran zum Rückzug seiner Milizen nahe der israelischen Grenze zu bewegen.

 

Neben regionalen Verbündeten setzt Russland immer mehr auf lokale Milizen. Andererseits legen die Russen ihren Fokus auf einen starken Zentralstaat. Wie passt das zusammen?

Natürlich zieht Russland das Regime als Machthaber vor. Die Personalie Baschar Al-Assad ist zwar eine andere Frage, aber generell soll der Staat als Institution erhalten bleiben. Staatliche Stabilität in Syrien ist ein unglaublich wichtiges Element – es ist die Grundlage für die offizielle Legitimation des russischen Einsatzes: ein Anti-Terror Einsatz. Nichtsdestotrotz möchte Russland natürlich alle Karten in der Hand behalten. Dazu gehört auch die Einsicht, dass man sich mit Milizen arrangieren muss, die sich in einigen Landesteilen eingenistet haben. Deswegen geht Russland sehr pragmatisch auch Kooperationen mit Milizen ein, die Moskau für vertrauenswürdig hält.

 

Die Russen sind sich durchaus bewusst, dass sie ein positives Verhältnis zu Israel bewahren sollten

 

Der Vorfall am 17. September 2018, als die syrische Flugabwehr versehentlich einen russischen Jet abschoss, führte zu erheblichen diplomatischen Spannungen zwischen Moskau und Jerusalem.

Zunächst sollte man betonen, wie riskant und dreist der israelische Einsatz in der entmilitarisierten Provinz Latakia war. Aber klar, es war ein riesiger Fehler der syrischen Streitkräfte, für den sie jetzt nicht die Verantwortung übernehmen wollen. Die erste Reaktion Russlands auf den Abschuss war zunächst sehr emotional. Immerhin kamen bei dem Vorfall 15 Menschen ums Leben. In ähnlichen Fällen, etwa als mit der Türkei verbündete Milizen ein russisches Flugzeug abschossen, zeigten, das internationale Krisen schon durch zwei Tote ausgelöst werden können. Dass Putin nun versuchte, die Beziehungen zu Israel wieder zu entspannen, zeigt, welche Bedeutung die israelischen Streitkräfte mittlerweile in Syrien erlangt haben. Die Russen sind sich durchaus bewusst, dass sie ein positives Verhältnis zu Israel bewahren sollten.

 

Also hat die politische Führung mehr zu sagen als die militärische?

Ja, definitiv. Politisch-strategische Themen genießen Vorrang vor den taktischen.

 

Die Wagner-Gruppe? Sie haben kein hohes Ansehen und sind deswegen entbehrlich

 

In Deir ez-Zor ereignete sich Anfang des Jahres ein ähnlich komplexer Vorfall. Er kostete einer nicht unbedeutenden Anzahl von russischen Söldnern, vermutlich der Wagner-Gruppe, das Leben. Wie eng ihre Beziehung zum Kreml war, bietet Platz für Diskussionen.

Die Informationen über die Wagner-Gruppe werden von Geheimhaltung und Intransparenz überschattet. Man weiß, dass es sie gibt. Man weiß, dass sie nicht nur in Syrien, sondern auch in der Zentralafrikanischen Republik und Libyen agiert. Und es spricht viel dafür, dass sie in direkter Verbindung zum Kreml stehen. Aber die ganze Geheimhaltung um die Wagner-Gruppe macht es auch für Experten schwer, eine Einschätzung abzugeben. Viele ihrer Mitglieder sind ehemalige Soldaten, gesellschaftliche Außenseiter oder einfach Abenteurer. Sie genießen kein hohes Ansehen und sind deswegen entbehrlich.

 

Aber warum sollte Russland ihnen dann erlauben, in Syrien zu operieren?

Im Hinblick auf die russische Innenpolitik ist ihr Einsatz für die Führung sehr günstig. Sie muss es nicht rechtfertigen, wenn Söldner der Gruppe getötet werden. Bei dem Vorfall in Deir ez-Zour kamen ja mindestens 80 Söldner ums Leben, andere sprechen von 150 Toten. Russische Bürger, die von Amerikanern getötet wurden.

 

Und Moskau spielt den Vorfall herunter.

Ganz genau. Die zurückhaltende Reaktion macht deutlich, dass Moskau daran interessiert ist, dass der Vorfall keine großen Auswirkungen hat.

 

Putin ist im März wiedergewählt worden. Doch es kursieren Gerüchte, dass der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu in Stellung gebracht werden soll, um als Kriegsheld Putin im Amt zu folgen.

Dazu wird viel spekuliert. In der Vergangenheit haben wir gesehen, dass die Auswahl des Kandidaten, der von Putin unterstützt wird, sehr überraschend sein kann. Zurzeit ist es noch zu früh, sich darüber Gedanken zu machen.

 

Aber es ist durchaus so, dass der russische Verteidigungsminister in Russland einen höheren politischen Einfluss genießt als Verteidigungsminister in anderen Staaten.

Ja, das stimmt. Der außenpolitische Aspekt hat nicht nur in tatsächlichen Einsätzen, sondern auch in der Propaganda an Wichtigkeit gewonnen. Damit einhergehend sind auch der Status des Verteidigungsministeriums und dessen politischer Einfluss gestiegen. Daraus zu schlussfolgern, dass der Verteidigungsminister Putins Nachfolger wird, halte ich aber für falsch. Man könnte zum Beispiel auch auf den langjährigen Vizepremier Dmitri Rogosin tippen. Er war für die Modernisierung der russischen Rüstungsindustrie zuständig und spielt deswegen ebenfalls eine wichtige Rolle innerhalb der russischen Streitkräfte. Aber es könnte auch jemand werden, der uns bisher absolut unbekannt ist.


Joris Van Bladel hat Sozial- und Militärwissenschaften an der Königlichen Militärakademie in Brüssel studiert sowie Slawische Sprachen und Osteuropäische Kulturen an der staatlichen Universität in Gent. Aktuell ist er ein Mitglied der Wissenschaftskommission des Österreichischen Bundesheers. Er ist regelmäßiger Gast-Kommentator für Sicherheits- und Verteidigungsproblematiken sowie auch für russische Angelegenheiten im öffentlichen Radio und Fernsehen in den Niederlanden.

Von: 
Daniel Gerlach

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