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Jesidische Flüchtlinge in der Türkei

Die Getriebenen

Analyse
Zwei in die Jahre gekommene jesidische Herren
Foto: Wikimedia Commons

Etwa 3.000 Jesiden leben nach ihrer Flucht aus dem Nordirak in Camps im Südosten der Türkei. Dort wollen die meisten der schwer traumatisierten Flüchtlinge jedoch nicht bleiben.

Lebten anfänglich 4.700 Jesiden im Camp Fidanlik, einem von der Kommune betriebenen Zeltlager 20 Kilometer südlich der Stadt Diyarbakir, wohnen hier derzeit noch 1.500 Menschen. Hier sind vor allem die gestrandet, denen das Geld für die gefährliche Weiterreise nach Europa fehlt. Die, die auch im Irak schon arm waren, meint Bişar, der im Camp als Koordinator arbeitet. Er schätzt, dass rund 20 Prozent in den Irak zurückgekehrt sind und der Rest sich nach Europa aufgemacht hat.

 

Sie flohen im August 2014 vor den Kämpfern des »Islamischen Staates« (IS), die mit unerbittlicher Gewalt gegen die kurdischsprachige Religionsgemeinschaft vorgingen, deren jahrtausendealte Ursprünge Wissenschaftler im Mithras-Kult und Zoroastrismus vermuten. Hunderte Jesiden wurden in der irakischen Gebirgsregion Sindschar, einem ihrer Hauptsiedlungsgebiete, von den IS-Schergen getötet, Mädchen und Frauen missbraucht und versklavt. Viele Jesiden retteten ihr nacktes Leben in die Türkei. 

 

Jesiden in der Türkei wird kein Flüchtlingsstatus zugesprochen

 

Dass sich die Jesiden in der Region nicht (mehr) sicher fühlen, hat verschiedene Gründe: 73 Massaker zählt die Geschichtsschreibung der Jesiden, die bereits seit Jahrhunderten verfolgt und als »Teufelsanbeter« denunziert wurden. Auch in der Türkei haben die Jesiden massive Verfolgung erlebt. Die Kämpfe zwischen PKK und türkischer Armee in den 1990er Jahren, die viele Jesiden zwangen, aus der Türkei in den Irak und nach Europa zu fliehen, sind noch frisch in ihrem Gedächtnis. Es ist eine Ironie der bitteren Geschichte, dass heute eine kleinere Zahl irakischer Jesiden in den Dörfern lebt, die einst von türkischen Jesiden zurückgelassen wurden.

  

Das Gefühl der Unsicherheit sitzt bei den Jesiden tief: »Das Volk sehnt sich nach Sicherheit«, meint Bişar. In keiner sunnitisch geprägten Gesellschaft mehr leben zu wollen, ist ein Satz, den man unter jesidischen Flüchtlingen häufig hört. Auch deshalb möchten viele nicht in die staatlichen Flüchtlingsunterkünfte, wie etwa jene in Midyat, die von der staatlichen Nothilfe- und Katastrophenschutzorganisation ADAF betrieben wird. Die Jesiden trauen dem staatlichen Schutz nicht: Vier syrische Journalisten wurden innerhalb des letzten Jahres in der Türkei von IS-Terroristen ermordet. Die Sicherheitslage für Flüchtlinge bleibt also auch jenseits der Grenzen prekär.

 

Aber auch in dem von den mehrheitlich sunnitischen Kurden betriebenen Camp Fidanlik berichten die ehrenamtlichen Helfer vom schwer zu gewinnenden Vertrauen der Bewohner: »Viele Familien schicken ihre Kinder nur zögerlich in den Kindergarten, bleiben verschlossen gegenüber Hilfsangeboten«, meint Fatma, die im Camp Aktivitäten für die Jüngsten organisiert.

 

Hinzu kommt, dass den Jesiden in der Türkei kein Flüchtlingsstatus zugesprochen wird. Der gilt aufgrund einer unvollständigen Ratifizierung der Genfer Flüchtlingskonvention nur für europäische Flüchtlinge. Auch das temporäre Schutzsystem gilt nur Syrer – nicht aber die irakischen Jesiden. Die Menschen kommen dennoch und schlagen sich auf eigene Faust mit Schwarzarbeit durch. Der Zugang zu Bildung und ärztlicher Versorgung ist ihnen nur eingeschränkt möglich.

 

Die neu aufgeflammte Gewalt in den Kurdengebieten, die seit 2015 Regionen wie Diyarbakir, Sirnak und Mardin heimsucht, scheint nur ein weiterer Grund dafür zu sein, dass es für die meisten Jesiden nur ein Ziel gibt: Europa.

  

»Ein Andauern oder sogar eine Ausweitung der Gewalt wird in der Türkei lebende Flüchtlinge dazu bewegen, ihre Zukunftsperspektive neu zu bewerten. Am stärksten betroffen von dieser Unsicherheit sind die Jesiden, die sich vor allem in kurdischen Gebieten niedergelassen haben oder in den dortigen Camps leben«, sagt auch der Autor Tayfun Guttstadt, der für sein Buch zur Lage von Flüchtlingen in der Türkei die Region bereist. »Aber auch arabische Syrer, die in anderen Teilen der Türkei leben, fühlen sich von Erdoğans Machtgier und der Kriegspolitik bedroht und mitunter an die Anfänge der syrischen Krise erinnert. Hinzu kommt die zunehmende wirtschaftliche Instabilität der Türkei, die Flüchtlinge umso härter trifft und ihnen oft die Hoffnung auf ein Leben in Würde raubt.«

 

»Wann immer ich mich mit Menschen aus dem Camp unterhalten habe, haben sie mir gesagt, dass sie für die Zukunft ihrer Kinder ein Leben in Europa aufbauen wollen. Sie haben Verwandte dort, die ihnen behilflich sein würden. Einige kehren in den Nordirak zurück, weil sie ihr Land nicht aufgeben wollen. Doch wenn sie genug Geld für die Schmuggler haben, ziehen sie weiter nach Europa«, meint Semra Güler, die im Camp die psychologische Betreuung koordiniert.

 

Nichts gehört mir hier.

 

In Deutschland, Schweden und den Niederlanden existieren bereits größere jesidische Gemeinden, die nun endgültig zum Sehnsuchtsziel der Jesiden von Diyarbakir geworden sind. Nur dort könne es Sicherheit, Stabilität und eine Zukunft für die Kinder geben, meint der 32-jährige Rizgan, der sich mit Englisch und Türkisch im Selbststudium auf die Weiterreise vorbereitet. Er wird in dem Camp versorgt, aber angekommen ist er nicht. »Nichts gehört mir hier.« Trotz der Dankbarkeit und vielbeschworenen kurdischen Bruderschaft fühlen er und seine Frau sich in Diyarbakir so wie inzwischen viele Jesiden in der Region überhaupt: als Fremde.

Von: 
Sonja Galler
Fotografien von: 
Wikimedia Commons

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