Ausgerechnet der Chef einer rechten Siedlerpartei führt die bunteste Koalition in der Geschichte Israels an.
Ein zottelbärtiger Hipster schlurft in Turnschuhen durch Tel Aviv, im Schlepptau einen dicken Mops. Laufend geschehen Missgeschicke: Eine Kellnerin kippt ihm Kaffee übers Knie, eine Frau schnappt ihm ein Leihrad weg. »Ich entschuldige mich!«, ruft der Bärtige, »ich entschuldige mich wirklich!«
Diese Szenen spielen sich in einem Videospot aus dem Jahr 2014 ab, an dessen Schluss der Mann ohne Bart und Baseballcap erscheint. Es ist Naftali Bennett, damals Vorsitzender der rechts-religiösen Partei HaBayit HaYehudi (»Jüdisches Haus«).
»Ab heute hören wir auf, uns zu entschuldigen«, verkündet er. Sofern ihr meine Partei wählt, lautet der Subtext, die nicht wie die weichgekochte Linke zu überzogener Selbstkritik neigt, sondern ihr Land stolz in der Welt vertritt – egal, was die von uns denkt.
Bennett, der mit seinen 49 Jahren noch ähnlich jugendlich wirkt wie in dem Wahlkampfclip, ist seit Juni Israels Ministerpräsident. Ayelet Shaked, politische Weggefährtin und ideologische Verbündete, sagte 2013 dem Chefredakteur des Magazins New Yorker, Bennett werde in zehn bis fünfzehn Jahren Premierminister werden. »Er hat das Zeug dazu.« Sie hat ihn unterschätzt: Er war schneller.
Bennett wurde in Haifa geboren, er ist Sohn US-amerikanischer Einwanderer. Seine Eltern hängen der modern-orthodoxen Ausrichtung des Judentums an, was unter anderem heißt: kein Handy am Schabbat. Bennett soll sich bis heute daran halten, was manche politischen Gegner ausnutzen: Sein Vorgänger Benyamin Netanyahu etwa verkündete kontroverse Beschlüsse gern so knapp vor Schabbatbeginn, dass Bennett keine Zeit für eine öffentliche Antwort blieb.
Als junger Soldat arbeitete Bennett sich zum Kompanieführer der »Sayeret Matkal« hoch, jener Eliteeinheit, in der auch Netanyahu gedient hatte. Nach einem Jura- und Betriebswirtschaftsstudium zog er, inzwischen verheiratet, nach New York, gründete dort das Start-up Cyota mit, das sich auf die Erkennung von Onlinebetrug spezialisierte. Fünf Jahre später verkaufte er das Unternehmen für 145 Millionen US-Dollar. Bennett verstand wenig vom Programmieren, war aber schon damals ein gewandter Redner: Sein Auftritt soll den Käufern imponiert haben.
Zurück in Israel wechselte er 2005 in die Politik. Zunächst diente er als Stabschef des damaligen Oppositionsführers Netanyahu, mit dem er sich jedoch überwarf. 2012 wurde er zum Vorsitzenden von HaBayit HaYehudi berufen, ein Jahr später von Netanyahu zum Wirtschaftsminister ernannt. 2019 folgte der Fall: Bennetts kurz zuvor gegründete Partei »Neue Rechte« verfehlte den Sprung über die 3,25-Prozent-Hürde und damit den Einzug in die Knesset.
Die Zusammenarbeit mit der arabischen Ra’am-Partei läuft geschmeidiger, als die tiefen ideologischen Gräben nahelegen
Doch ihm gelang ein Comeback. Gemeinsam mit Ayelet Shaked gründete er eine weitere Partei, Yamina (»Nach rechts«), die bei den Wahlen im März 2021 sieben Mandate holte. Zwischen den rivalisierenden Parteienblöcken positionierte Bennett sich als Königsmacher und trieb den Preis für seine Unterstützung in die Höhe, bis Yair Lapid, Chef der viel größeren Yesh-Atid-Partei, ihm für die ersten zwei Jahre das Amt des Premiers anbot.
Die Koalition, die er seitdem anführt, ist abenteuerlich: Drei sehr rechte Kräfte zählen dazu, zwei linke und eine arabisch-islamistische. Das verlangt ideologische Wendigkeit von Bennett. Zu seinen Stammwählern zählen religiöse Nationalisten, die Israels Siedlungsprojekt im Westjordanland vorantreiben. Die Gründung eines Palästinenserstaates wäre ein »Desaster«, sagte er einmal. Manche, die ihn kennen, behaupten, viele seiner radikalen Äußerungen hätten Wahlkampfzwecken gedient. In jedem Fall ist von seiner Regierung kein Kurswechsel gegenüber den Palästinensern zu erwarten.
Im Verhältnis zwischen dem Staat und seinen arabischen Bürgern dagegen will Bennett »ein neues Kapitel aufschlagen«, etwa die vernachlässigte Infrastruktur arabischer Städte verbessern. Als erster Ministerpräsident Israels führt er eine Koalition, der eine unabhängige arabische Partei angehört: Ra’am. Nach allem, was bisher zu hören ist, läuft die Zusammenarbeit geschmeidiger, als die tiefen ideologischen Gräben nahelegen: Im persönlichen Gespräch soll Bennett sich sanfter und aufgeschlossener geben, als sein markiges Auftreten vor Anhängern und Kameras vermuten lassen.
Innenpolitisch zeigt er eine Bereitschaft zur Nuancierung, die rar ist in Israels Politlandschaft. Er ist Verfechter der freien Marktwirtschaft nach US-Vorbild, will jedoch benachteiligte Minderheiten fördern. Er hängt der modern-orthodoxen Strömung des Judentums an und will zugleich den Einfluss liberaler Gemeinden ausbauen, die in Israel ein Schattendasein fristen. Ultraorthodoxe Politiker greifen ihn dafür hart an. Er solle seine Kippa ablegen, schäumte einer von ihnen kürzlich.
Bennett reagiert darauf betont gelassen. Der einstige Hipster-Verspotter ist erwachsen geworden. Meinungsunterschiede, wiederholt er stoisch, gehörten zur Demokratie. Dass dies nicht mehr als selbstverständlich gilt, hat viel mit der zwölfjährigen Amtszeit Netanyahus zu tun, der politische Gegner als Lügner und Verräter verunglimpfte. Dass Bennett sich so deutlich von seinem Vorgänger absetzt, gibt Grund zu vorsichtiger Hoffnung – nicht auf einen grundsätzlichen Kurswechsel, aber zumindest auf einen neuen Respekt vor demokratischen Sitten und Institutionen. In Israels politischem Klima dieser Tage wäre allein das ein Verdienst.