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Iraks Kommunisten

»Man spürt eine neue Form der Mobilisierung«

Interview
»Man spürt eine neue Form der Mobilisierung«
privat

Im Irak haben die Kommunisten ein unverhofftes Comeback hingelegt. Im Interview erzählt Zentralkomitee-Mitglied Jassem Al-Hilfi, warum er sich ausgerechnet mit einem schiitischen Kleriker zusammengetan hat.

zenith: Während der Sozialproteste und des Wahlkampfs im Irak marschierten säkulare Kommunisten und Vertreter der Zivilgesellschaft 2018 Hand in Hand mit der religiös fundierten Bewegung des Klerikers Muqtada Al-Sadr. Wie bringt man solch unterschiedliche Ideologien unter einen Hut?

Jassem Al-Hilfi: Wir haben uns mit den Sadristen darauf geeinigt, an gemeinsamen Themen zu arbeiten, statt nach ideologischen Überschneidungen zu suchen. Es ging nicht darum, die Gegenseite zu bekehren. Trotzdem haben wir Respekt für die islamische Ideologie der Sadr-Bewegung, und die Sadristen respektieren unsere ideologischen Ansätze. Dabei teilen wir die Ansicht, dass wir einen Staat der Bürger statt eines Staates der Quoten aufbauen müssen. Das haben wir als Grundlage unserer gemeinsamen Arbeit im Wahlprogramm festgehalten. Entsprechend setzen sich unsere Vertreter heute im Parlament für die Themen ein, die die Menschen berühren: Armut, Gesundheit, Bildung, Arbeitslosigkeit und die Notwendigkeit, den politisierten Konfessionalismus loszuwerden.

 

Welche Rolle spielte der Faktor Religion, um Vertrauen zu den Sadristen aufzubauen?

Für Millionen von Menschen im Irak ist Religion ein heiliges Anliegen. Wir respektieren die Religion. Das bedeutet, dass wir die individuellen Entscheidungen der Menschen und ihr Recht anerkennen, ihre Religion frei zu praktizieren. Wir haben Respekt für Rituale und für die Gläubigen. Was wir kritisieren, ist die tagtägliche Politisierung von Religion, die Instrumentalisierung zum Erwerb von Ämtern, Macht und Wohlstand auf Kosten der meist armen, breiten Bevölkerungsschichten.

 

Dennoch führte Sadr nach den Wahlen Verhandlungen über eine Beteiligung der Badr-Organisation an der Regierungskoalition – deren Chef Hadi Al-Ameri gehört zu den prominentesten Kommandeuren der umstrittenen sogenannten Volksmobilisierungseinheiten (Al-Haschd Al-Schabi). Dagegen regte sich in Ihrer Partei Kritik.

Innerhalb der Partei haben wir eine Oase geschaffen, um diese Unterschiede in politischen Angelegenheiten zu diskutieren. Andersdenkende haben auch das Recht, ihre Meinungen in unserem Parteiorgan zu veröffentlichen, selbst wenn diese der offiziellen Parteilinie widersprechen. Diese Diskussion wurde ja auch außerhalb der Partei geführt.

 

»Wir arbeiten mit den Sadristen an gemeinsamen Themen, anstatt nach ideologischen Überschneidungen zu suchen«

 

Trotz der relativ friedlichen Parlamentswahlen und des nominellen Sieges gegen den sogenannten Islamischen Staat steht der Irak noch vielen sicherheitspolitischen Herausforderungen gegenüber. Wie kann der Staat sein Gewaltmonopol wiedererlangen?

Wir haben ein großes Sicherheitsproblem im Irak: die Verbreitung von illegalen Waffen und bewaffneten Gruppen. Und von IS-Schläferzellen geht weiterhin Gefahr aus. Deswegen reicht für den Kampf gegen den IS der militärische Sieg nicht aus. Wir brauchen einen Erfolg auf ideologischer, politischer und wirtschaftlicher Ebene. Wir müssen Armee- und Sicherheitsapparat mit einer nationalen Identität und einer nationalen Doktrin aufbauen – weg vom Quotensystem. Diese Einrichtungen dürfen nicht einzelnen Individuen, Parteien oder den Sicherheitsorganen benachbarter Staaten dienen. Sie sollen in der Lage sein, die Sicherheit der Bürger zu gewährleisten, damit das Vertrauen der Bürger in diese Institutionen wiederhergestellt wird.

 

Haben die Iraker genug vom Konfessionalismus?

Konfessionelle Konflikte, Terrorismus und willkürliche Gewalt hatten auch einen vernichtenden Effekt auf die gemeinsame Identität. Doch nun spürt man eine neue Form der Mobilisierung, es entstehen zivilgesellschaftliche Organisationen und Gewerkschaften, und für eine gewisse Schicht, die gerade zu Wohlstand kommt, bringt das eine Verbesserung ihrer wirtschaftlichen und sozialen Lage. Dadurch wächst allmählich eine nationale bürgerliche Klasse mit einer nationalen Identität heran, die mit der wachsenden Ablehnung von konfessionellen Spaltungen und konfessionellen Subidentitäten einhergeht.

 

Wie sind Sie eigentlich Kommunist geworden?

Ich stamme aus Sadr City, einem Vorort von Bagdad. Die Stadt der Armen, Arbeitermilieu. Schon auf meinem Gymnasium waren Schüler- und Studentenvereinigungen stark vom Kommunismus geprägt. Ihre Denker und Aktivisten beeinflussten uns durch ihre Ethik, ihr Verhalten, ihren kulturellen Diskurs. Sie diskutierten mit uns über Klassenunterschiede und darüber, wie sich die wohlhabenden Teile der Gesellschaft auf Kosten der Armen bereichern. Uns wurde bewusst, dass diese Ungleichheiten nicht einfach so durch die Bemühungen des einzelnen Individuums zu beseitigen sind. Die kommunistische Partei hat den Zweck, den Sozialismus in die Tat umsetzen, damit wir als Menschen gleiche Rechte und gleiche Chancen wahrnehmen können.

 

»Wir lasen über den historischen und den dialektischen Materialismus – und Gorkis ›Die Mutter‹«

 

Welche Lektüre hinterließ damals einen bleibenden Eindruck?

Ich las die Zeitung Der Weg des Volkes – das Sprachrohr der Kommunistischen Partei im Irak. Besonders Intellektuelle und Jugendliche fühlten sich durch diese Zeitung angezogen, weil sie ihre Diversität und den Gedankenreichtum zu schätzen wussten. Man hat uns noch die Liebe zum Kino und Theater, zu Musik und Gesang beigebracht. Wir wurden ermutigt, sowohl marxistische Literatur als auch Belletristik zu lesen, wie zum Beispiel den Roman »Die Mutter« von Maxim Gorki. Wir lasen über die Gesetze der Dialektik, den historischen und den dialektischen Materialismus, auch über die Oktoberrevolution und über das sozialistische System.

 

Glauben Sie noch an den wissenschaftlichen Kommunismus?

Ich verstehe, dass Ihre Frage darauf hinauswill, dass das sozialistische System im Endeffekt in der Sowjetunion und den anderen osteuropäischen Staaten versagt hat. Aber das menschliche Streben nach sozialer Gerechtigkeit ist dessen ungeachtet nicht gescheitert. Nur soziale Gerechtigkeit kann das Recht auf ein würdiges Leben garantieren. Das beinhaltet das menschliche Recht auf Gesundheitsversorgung, auf eine angemessene Unterkunft, den Anspruch auf einen Arbeitsplatz und die Möglichkeiten der Eigenverwirklichung, das Recht, in Sicherheit und Stabilität zu leben.


Jassem Al-Hilfi, Jahrgang 1960, ist studierter Politikwissenschaftler. Seit September 1997 ist er Mitglied des Zentralkomitees der Irakischen Kommunistischen Partei. Seit 2015 gehört er zu den prominentesten Aktivisten der Protestbewegung im Irak, die Korruption, Umweltverschmutzung und Stromausfälle anprangert. Bei den Parlamentswahlen 2018 gewannen die Kommunisten zwei Mandate. Die Sa’irun-Allianz, in der die Kommunisten an der Seite des Klerikers Muqtada Al-Sadr stand, wurde zum Königsmacher und brachte im Rahmen eines Kompromisses mit dem Block des Haschd-Kommandeurs Hadi Al-Ameri den neuen Premier Adil Abdul-Mahdi ins Amt.

Von: 
Inna Rudolf

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