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Irak vor den Parlamentswahlen

Neues Wahlrecht, viele Haken und ein Grundstein

Analyse
Irak vor den Parlamentswahlen
Eine Wahlkampfveranstaltung der »Demokratischen Partei Kurdistans« in Erbil dge

Der Urnengang im Irak wird die Kräfteverhältnisse nicht grundlegend verändern. Dennoch wird es eine Richtungswahl – denn schon kleine Erfolge können eine entscheidende Wende der politischen Kultur einleiten.

Am 10. Oktober 2021 finden im Irak die sechsten Parlamentswahlen seit dem Sturz von Diktator Saddam Hussein 2003 statt. Bei den vorgezogenen Neuwahlen sind rund 25 Millionen Iraker und Irakerinnen aufgerufen, die 329 Parlamentssitze neu zu besetzen. Insgesamt bewerben sich 3.249 Kandidatinnen und Kandidaten um ein Mandat.

 

Auch die diesjährige Abstimmung findet in einem äußerst schwierigen Umfeld statt, in dem sich verschiedene Krisen überlagern: Neben der fragilen Sicherheitslage aufgrund zunehmender Aktivitäten der Terrororganisation »Islamischer Staat« (IS) und Anschlägen pro-iranischer Milizen auf US-Ziele befindet das Land in einer schweren Wirtschaftskrise mit hoher Arbeitslosigkeit. Darüber hinaus droht der Gesundheitssektor zu kollabieren – der Irak weist die höchsten absoluten Covid-19-Infektionszahlen und Corona-Todesfälle in der Region auf. Zudem lässt eine Stromkrise weite Teile des Landes in der Dunkelheit versinken.

 

Der vorgezogene Urnengang war eine der zentralen Forderungen der Protestbewegung, die Anfang Oktober 2019 begann und aufgrund der globalen Pandemie, aber auch wegen des brutalen Vorgehens diverser irakischer Sicherheitskräfte und pro-iranischer Milizen an Momentum verlor. Die Hauptforderungen der Protestierenden bleiben bis heute weitgehend unerfüllt. Sie verlangen unter anderem die Verbesserung der staatlichen Dienstleistungen, vor allem eine bessere Wasser-, Gesundheits- und Stromversorgung, sowie Maßnahmen gegen die hohe Arbeitslosigkeit und die Bekämpfung der tiefgreifenden Korruption und Vetternwirtschaft.

 

Das neue Wahlrecht schränkt den Einfluss der Parteien ein

 

Ferner forderte die Protestbewegung eine Reform des Wahlrechts. Nach langem Zögern kam die politische Elite dieser Forderung letztlich zumindest in Teilen nach. Das Wahlrecht wurde dahingehend geändert, dass es dieses Mal keine (Partei)-Listenwahl mehr gibt, sondern jeder Wähler und jede Wählerin eine Stimme hat, mit der er oder sie direkt über Kandidaten und Kandidatinnen aus den entsprechenden Wahlkreisen abstimmt.

 

Das schränkt den Einfluss der Parteien ein und dürfte die Beziehung zwischen den Wählern und den Bewerbern und Bewerberinnen eines Wahlkreises stärken. Darüber hinaus wurde die Anzahl der Wahlbezirke von 18 auf 83 erhöht. Was sich auf den ersten Blick nach mehr Demokratie anhört, hat aber drei signifikante Haken.

 

Erstens: Trotz des neuen Wahlgesetzes zweifeln weiterhin viele Irakerinnen und Iraker daran, dass die Abstimmung demokratischen Grundsätzen gerecht wird – das betrifft nicht nur Vorwürfe der möglichen Wahlfälschung und Manipulation, denen die Europäische Union und die Vereinten Nationen mit der bisher weltweit größten internationalen Wahlbeobachtungsmission ihrer Art entgegentreten möchten.

 

Die enormen finanziellen Kosten erschweren eine Registrierung vor allem für neue Parteien

 

Vor allem könnte eine niedrige Wahlbeteiligung die Legitimität der Abstimmung schmälern. In den letzten Jahren nahm die Teilnahme kontinuierlich ab. Während sie 2005 noch bei fast 80 Prozent lag, sank sie bis 2018 auf 44,5 Prozent. Dieser Trend zeigt die zunehmende Desillusionierung und den Vertrauensverlust vieler Menschen in das politische System des Landes.

 

Zweitens: Die relativ hohen Hürden für neue Kandidaten und Kandidatinnen stellen Fairness und Chancengleichheit des Wahlprozesses in Frage. Zum einen verhindert das recht hohe Mindestalter (28 Jahre) eine Kandidatur für junge Bewerber und Bewerberinnen. Des Weiteren erschweren die enormen finanziellen Kosten eine Registrierung vor allem für neue Parteien und weniger finanzkräftige Kandidaten und Kandidatinnen. Sie müssen umgerechnet rund 6.850 US-Dollar hinterlegen, um antreten zu können, während neue Parteien zusätzlich 20.500 Dollar für die Registrierung zahlen müssen.

 

Drittens: Die Wahl findet in einem Klima der Angst statt. Die Bewerberinnen und Bewerber für politische Ämter werden häufig Opfer von Einschüchterung oder gar Mord, vor allem durch pro-iranische Milizen. Viele zogen ihre Kandidatur daraufhin zurück.

 

Weite Teile der Protestbewegung rufen aus diesen Gründen zu einem Wahlboykott auf. Sollte eine Mehrheit der Iraker und Irakerinnen der Wahl tatsächlich fernbleiben, zementierte das allerdings lediglich die Herrschaft der alten Eliten, die somit weiterhin konkurrenzlos blieben. Umgekehrt wären Parteien, die der Protestbewegung nahestehen, für mindestens weitere vier Jahre weitgehend von der parlamentarischen Willensbildung ausgeschlossen.

 

Die amtierende Regierung unter Mustafa Al-Kadhimi tariert westliche und iranische Interessen derzeit geschickt aus

 

Der Urnengang ist zweifellos eine Art Richtungswahl. Entweder werden pro-iranische Parteien, wie Fatah-Koalition, die sich um die schiitische Badr-Bewegung gebildet hatte, und die »Rechtsstaat«-Koalition des ehemaligen Premiers Nuri Al-Maliki, gestärkt aus den Wahlen hervorgehen, oder aber politische Parteien und Blöcke die Oberhand gewinnen, die dem Einfluss Teherans ablehnend oder zumindest kritisch gegenüberstehen. Dazu gehören beispielsweise die Sa’irun-Allianz des schiitischen Klerikers Muqtada Al-Sadr sowie das Wahlbündnis »Allianz der Nationalstaatskräfte«, in dem sich Ex-Premier Haidar Al-Abadi sowie Ammar Al-Hakim und dessen Partei Al-Hikma (»Weisheit«) zusammengeschlossen haben.

 

Es geht folglich auch darum, ob Iran seinen Einfluss im Zweistromland ausbauen kann, oder der Irak eine eigenständigere Rolle in der Region spielen wird. Die amtierende Regierung unter Mustafa Al-Kadhimi tariert westliche und iranische Interessen derzeit geschickt aus. Wer in den kommenden Jahren das Sagen in Bagdad hat, ist für Europa und die USA unter anderem von Relevanz, wenn es in naher Zukunft um eine Aufstockung der NATO-Mission auf bis zu 4.000 Soldaten und Soldatinnen geht. Bisweilen unterstützen 500 NATO-Angehörige die irakischen Streitkräfte im Kampf gegen den IS. Eine pro-iranische Regierung dürfte ein stärkeres Engagement ablehnen.

 

Eine unmittelbare Veränderung der politischen Landschaft Iraks nach der Wahl ist unwahrscheinlich. Ersten Prognosen zufolge dürften die traditionellen Parteien und Blöcke zwar weniger Sitze erhalten, sie werden aber dennoch weiterhin die Regierungsbildung und das irakische Machtgefüge kontrollieren. Denn sie verfügen über wichtige politische Netzwerke und Loyalitäten. Nicht zuletzt besitzen allein sie wichtige Kanäle der Wählermobilisierung und -bindung, wie etwa eigene Medienanstalten.

 

Somit werden diese Kräfte die Politik des Irak noch viele Jahre entscheidend prägen. Die Parteien, die aus der Protestbewegung hervorgegangen sind, dürften bei der Wahl hingegen nur eine geringe Anzahl an Sitzen erhalten, da sie aufgrund unzureichender finanzieller Mittel und Einschüchterungen entweder sich nicht zur Abstimmung stellen können oder sich auf keine gemeinsame Position einigen konnten, die es ihnen möglich machen würde, die traditionellen politischen Blöcke herauszufordern.

 

Die Proteste haben seit 2019 zweifellos zur Entwicklung eines irakischen Selbstverständnisses jenseits von ethnisch-konfessionellen Trennlinien beigetragen

 

Obwohl Kandidaten und Kandidatinnen aus der Protestbewegung bei der Abstimmung überwiegend chancenlos sind, könnte ein Einzug bereits weniger unabhängiger und säkularer Kräfte ins Parlament der Grundstein für einen Politikwandel sein und den Fokus weg von einer Identitätspolitik, die auf Konfession und Ethnie basiert, hin zu einer programmbasierten Politik verschieben.

 

Die Proteste haben seit 2019 zweifellos zur Entwicklung eines irakischen Selbstverständnisses jenseits von ethnisch-konfessionellen Trennlinien beigetragen. Ein Aufbrechen der alten Strukturen und die Nominierung von jungen, reformorientieren Abgeordneten dürfte neue Impulse setzen. Langfristig könnte dies auch den Glauben an die irakische Demokratie stärken und einen wichtigen Beitrag leisten, das verlorengegangene Vertrauen ins Parlament, die Regierung und andere staatliche Institutionen wiederherzustellen.

 

Nicht zuletzt dürfte der demografische Faktor an Bedeutung gewinnen. Fast 50 Prozent der Bevölkerung ist unter 18 Jahre alt und zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht wahlberechtigt. Zahlreiche irakische Jugendliche identifizieren sich mit der Protestbewegung und werden deren Ziele vermutlich zukünftig einfordern. Der Einfluss der älteren Generation und Eliten dürfte mit ihrem Heranwachsen graduell abnehmen.

 

Diese Prozesse werden sicherlich ihre Zeit brauchen und mit weiteren Protesten vor allem junger Iraker und Irakerinnen einhergehen, die sich eine rasche, aber zugleich nachhaltige Verbesserung ihrer schwierigen Lebensumstände erhoffen.


Gregor Jaecke ist seit Januar 2019 Leiter des Auslandsbüros Syrien/Irak der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) in Beirut, Libanon. Zuvor war er für die Stiftung in Kenia und in der Demokratischen Republik Kongo tätig.

Von: 
Gregor Jaecke

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