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Interview mit Uğur Ümit Üngör über das Tadamon-Massaker in Syrien

»Die Wahrheit muss auf den Tisch«

Interview
Uğur Ümit Üngör
Uğur Ümit Üngör während des Interviews in Berlin

Ende April veröffentlichten Annsar Shahhoud und Uğur Ümit Üngör das Video eines bis dato unbekannten Massakers an Zivilisten in Damaskus. Mit zenith spricht Üngör über die Recherche und das, was nach der Veröffentlichung geschah.

zenith: Herr Üngör, wie sind Sie an die Videoaufnahmen des Massakers von Tadamon gekommen?

Uğur Ümit Üngör: Ich war 2019 auf einer Konferenz in Paris, als ein Freund, ein syrischer Arzt, mich anrief. Er sagte, es sei sehr dringend und er müsse mit mir sprechen. Er bestand so sehr darauf, dass wir uns schließlich in einem Café an der Universität trafen, wo er mir das Video zeigte. Ich hatte mich damals bereits seit acht Jahren mit dem Konflikt beschäftigt und ich hatte nicht erwartet, dass mich ein Gewaltvideo aus Syrien noch immer schockieren könnte. Aber das tat es. Mir war sofort klar, dass dieses Material einzigartig ist.

 

Wie ging es dann weiter?

Annsar Shahhoud, die Co-Autorin, kam an Bord. Zunächst haben wir das Video analysiert. Über einen Zeitstempel und ein Graffiti, das wir zuerst falsch gedeutet hatten, fanden wir schließlich heraus, dass es 2013 in Damaskus aufgenommen wurde.

 

Das scheint noch relativ einfach, aber wie konnten Sie die Täter identifizieren?
Wir haben uns zunächst gefragt, wer am helllichten Tag Zivilisten in Damaskus hinrichten kann. Wer hat die Macht, so etwas zu tun? Und natürlich ist es niemand anderes als der syrische Mukhabarat (Geheimdienst, Anm. d. Rd.), denn nicht einmal eine Miliz könnte so etwas tun, also ohne Haftbefehl und völlig ungestraft auf Zivilisten zu schießen. Und dann haben wir angefangen zu recherchieren, welche Mukhabarat-Einheiten für den Süden von Damaskus verantwortlich sind, was uns zur  Abteilung 227 des gefürchteten Militärischen Geheimdiensts geführt hat. Auf Facebook findet man eine riesige regimetreue Community, darunter Soldaten, manchmal auch Geheimdienstler. Dort suchte Annsar Shahhoud monatelang nach den Gesichtern der Täter. Sie ging unzählige Profile von Personen durch, die dem Regime nahestanden oder mit ihm in Verbindung gebracht wurden. So konnte sie tatsächlich die Identität eines Mannes aus dem Video belegen: Najib Al-Halabi, der 2015 starb.

 

Er war Mitglied einer Miliz, richtig?

Genau. Annsar Shahhoud ging dann seine Kontakte auf Facebook durch und überprüfte jeden einzelnen. So stieß sie auf Amjad Youssef, den Geheimdienstler und Haupttäter in der grünen Uniform, der ebenfalls in dem Video zu sehen ist. Wir waren absolut geschockt und gleichzeitig begeistert, als wir herausfanden, dass er eine Facebook-Seite hat. Wir hatten dieses Fake-Profil namens »Anna« eingerichtet, mit dem Annsar Shahhoud und ich bereits seit 2018 gearbeitet hatten. Ich war mir sicher: Wenn jemand mit diesem Kerl kommunizieren kann, dann ist es Anna.

 

»Anna«, also Annsar Shahhoud, war eng mit den Regimeanhängern und der Geheimdienstcommunity vernetzt. Waren diese Leute denn nicht skeptisch?

Wir gaben ihr eine glaubwürdige Geschichte: ein alawitisches Mädchen aus Homs, aus der Mittelschicht, das in Europa studiert. Davon gibt es viele, auch solche, die dem Regime nahestehen. Von all den Leuten, die wir interviewt haben, war vielleicht eine Person intelligent genug. Sie merkte tatsächlich: Das klingt alles ein bisschen zu gut.

 

Sie haben dann sogar mit Amjad Youssef selbst gesprochen. War er misstrauisch?

Nicht besonders. Er hat ein wenig nachgehakt, weil das seine Aufgabe ist. Ein Geheimdienstler muss paranoid und misstrauisch gegenüber jedem sein. Jeder könnte zur CIA oder zum Mossad zu gehören, jeder kann dieses oder jenes sein. Aber wir haben den Test bestanden und dann hat er sich geöffnet.

 

»Das Massaker war außerordentlich gut vorbereitet.«

 

Amjad Youssef arbeitet damals für ein offizielles Organ des syrischen Staates. Der verstorbene Najib Al-Halabi hingegen war in einer shabiha, einer Freiwilligenmiliz. In welchem Verhältnis stehen die beiden Institutionen?

Als die beiden zusammen dieses Massaker begangen, handelte es sich nicht nur um zwei Einzelpersonen, sondern um zwei Organisationen, die zusammenarbeiteten. Gerade am Anfang hat sich das Regime von den Milizen distanziert und so getan, als seien es nur loyale Anhänger, die den Präsidenten einfach so sehr lieben, dass sie die Proteste niederschlagen. Sowohl Amjad Youssef als auch Milizionäre haben »Anna« gegenüber zwar schon zugegeben, dass die Milizen eigentlich der verlängerte Arm des Staates sind. Aber hier haben wir visuelle Beweise dafür, wie der syrische Staat und Milizen gemeinsam Zivilisten exekutieren.

 

Und dieser visuelle Beweis wurde nicht heimlich aufgenommen, sondern die Täter haben sich selbst dabei gefilmt. Wie erklären Sie sich das?

Dafür gibt es vier Erklärungsansätze. Erstens könnte es sich um eine Art Trophäe handeln, ähnlich wie bei Schlägern, die sich dabei filmen. Die zweite Erklärung: Für diese Art von Mörder ist ihre Arbeit äußerst wichtig für den Verteidigung und den Erhalt des Regimes. Sie sehen ihre eigene Rolle als episch an, sehen sich als Helden, die Syrien von den »Verrätern« säubern. Die dritte Erklärung: zu Dokumentationszwecken. Najib Al-Halabi dreht die Kamera an einer Stelle um und sagt: »Grüße an den Chef«. Das bedeutet, dass der Befehlshaber sich das Ganze ansehen wird.

 

Warum sollten sie ihre Verbrechen dokumentieren?

Der Chef will Beweise, um sicher zu sein, dass der Job erledigt ist, dass Amjad Youssef keine Bestechungsgelder von den Opfern angenommen und sie freigelassen hat.

 

Und die vierte Erklärung?

Das ist ziemlich verrückt, aber wer weiß: Bei diesem Regime kann man alles glauben. Es geht darum, dass diese Videos den jungen Rekruten in der Geheimdienstakademie als Lehrvideos gezeigt werden. Sie müssen eine neue Generation von Amjad Youssefs heranziehen. Das geht nur, indem man sie brutalisiert und ihnen zeigt, wie man es macht. Indem man zuerst das Loch gräbt, die Opfer dann auf diese Weise tötet und anschließend die Leichen verbrennt und die Grube zuschüttet, um die Beweise zu vernichten. Die Täter waren außergewöhnlich gut vorbereitet. Deshalb haben sie den Leuten auch die Augen verbunden. Denn wenn die etwas gesehen hätten, hätten sie gewusst, dass sie gleich massakriert werden.

 

Denken Sie, dass noch mehr solcher Videos existieren?

Ich bin fest davon überzeugt. Hinter dem Zeitstempel war eine Nummer: 356. Ich möchte wissen, was in den anderen 355 Videos zu sehen ist. Zeigen sie weitere Massaker? Wir haben insgesamt 27 Videos, von denen die Hälfte dieser Art sind. Die andere Hälfte sind Feldoperationen, Ausheben und Abdecken von Massengräbern sowie Foltervideos. Es entstand ein Trend des »töten, um zu filmen«. Da jeder über Kameras verfügt, reicht es nicht mehr aus, jemanden einfach nur zu töten. Man muss Beweise dafür haben. Dafür suchen sich diese Leute jemanden, der vor der Kamera getötet wird: für die Trophäe, das Epos. Das ist zutiefst unmoralisch, aber das ist das Wesen dieses Konflikts.

 

»Es ist ein großes Tabu, über Konfessionalismus zu sprechen«

 

Hat Amjad Youssef nach dem Massaker Karriere gemacht?

Er ist im Dienstgrad aufgestiegen. Allmählich, nicht sprunghaft. Zu Beginn des Konflikts war er ein Feldoffizier. Als wir mit ihm sprachen, war er mehr mit Schreibtischarbeit beschäftigt und ging nicht mehr ins Feld.

 

Eine gewöhnliche Karriere also?

Ja, im Grunde schon. Amjad Youssef stammt zwar aus einer alawitischen Familie und sein Vater war Geheimdienstoffizier, aber er stammt nicht von der Küste. Er ist kein Mitglied der Assad-Familie, also keiner, der ganz leicht Karriere machen kann. Er muss für seine Beförderungen arbeiten und das hat er natürlich getan. Er ist ein Karrierist.

 

Das könnte darauf hindeuten, dass die Morde nichts Außergewöhnliches waren. Weder wurde er bestraft, noch ist er wirklich aufgestiegen, weil er seine Loyalität bewiesen hat.

In gewisser Weise ist das normal. Zwar wird berichtet, dass er vor ein paar Tagen verhaftet wurde, allerdings habe ich da meine Zweifel. Vielleicht wird er zurück in sein Dorf geschickt oder er hat bald einen Autounfall, wer weiß. Ich bin sicher, dass nicht seine Verbrechen, nicht einmal die Videos das Problem sind, sondern dass er mit uns gesprochen hat.

 

Glauben Sie, dass das Massaker einen konfessionellen Hintergrund hatte? Wurden die Opfer getötet, weil sie Sunniten sind?

Das ist eine wichtige Frage, die uns ziemlich Kopfzerbrechen bereitet. Einerseits sind die beiden Mörder in dem Video keine Sunniten. Einer ist Druse, der andere Alawit. Also zwei Nicht-Sunniten, die fast 300 Menschen umbringen, von denen wiederum wahrscheinlich fast alle Sunniten sind, zumindest alle bisher identifizierten Opfer. Höchstwahrscheinlich stammen alle auch aus mehrheitlich sunnitischen Gebieten. Andererseits verwendet Amjad Youssef zu keinem Zeitpunkt irgendeine Art von konfessioneller Sprache. Vielleicht ist das normal, aber in Bosnien zum Beispiel gab es das im Moment des Tötens, im Moment der Gewalt. Da kam der Hass durch.

 

Als Sie mit Amjad Youssef sprachen, machte er da den Eindruck, als sei er durch konfessionellen Hass motiviert?

Interessant ist, dass er sich sicher fühlte, weil »Anna« Alawitin war. Wenn man glaubt, dass man sich nur bei Menschen mit dem eigenen religiösen oder ethnischen Hintergrund wohlfühlen kann und dass nur die eigene Gruppe gut und vertrauenswürdig ist, dann ist das natürlich ziemlich problematisch. Amjad Youssef ist ein gläubiger Alawit, der die alawitischen Schreine besucht und Respekt vor den Scheichs hat. Natürlich ist es in Ordnung, Alawit zu sein, sich für die eigene Kultur zu interessieren. Die Frage ist, ob er andere Gruppen wie etwa Sunniten hasst. Um ehrlich zu sein, konnten wir in unseren Gesprächen nicht allzu viele Hinweise darauf finden. Aber andererseits ist es ein großes Tabu, öffentlich darüber zu sprechen. Der Hass mag in seinem Kopf und in seinem Herzen sein, aber nicht auf seiner Zunge. Er spricht nicht darüber.

 

Was ist mit den Opfern? Finden sich Anzeichen dafür, dass sie dachten, es handele sich um eine konfessionell motivierte Tat?

Ein alter Mann bettelt beispielsweise um sein Leben und sagt: »Bitte, um Imam Alis willen«, weil er weiß, dass diese Leute Alawiten sind, und versucht, ihren Sinn für Religiosität anzusprechen. Zu diesem Zeitpunkt ist es aber bereits zu spät. Wer in dem Minibus sitzt, der kann nichts mehr tun, um sich zu retten. Einige von ihnen betteln, einige flehen, jedoch behauptet keiner von ihnen zum Beispiel, Alawit zu sein.

 

»Die Opfer waren im Regime-Territorium geblieben, weil sie sich dort sicher fühlten«

 

Viele arabische Medien haben in der Berichterstattung über das Massaker einen sehr konfessionellen Ton angeschlagen.

Ja, aber das geht an der Sache vorbei. Es existiert eigentlich nur eine Gruppe, die die Macht hat, und das ist der Mukhabarat. Auch viele Alawiten sind verschwunden, wurden gefoltert oder getötet von Leuten wie Amjad Youssef. Es ist also nicht so, dass die Gewalt eindeutig konfessionell motiviert ist, aber der überproportional hohe Anteil von Alawiten vor allem im Geheimdienst schlägt sich auch in der Gewalt nieder. Wenn das Regime irgendwann fällt und wir in die Archive gehen, werden wir niemals einen expliziten Befehl zum Töten von Sunniten finden. Das ist absolut undenkbar. Aber in Syrien existieren zwei Arten von Gewalt: Direkte Befehle von oben und willkürliche Gewalt, bei der es gewisse Erwartungen, aber auch einen Spielraum bei der Durchführung gibt. Diese konfessionelle Gewalt kommt vor, weil Leute wie Amjad Youssef die Gewalt so gestalten können, wie sie wollen.

 

Was dachten die Familien der Opfer? Dass ihre Angehörigen verschwunden sind, vielleicht in geheimen Gefängnissen?

Nach Veröffentlichung des Videos stellte sich heraus, dass fast alle Personen, die ihre Familienmitglieder identifiziert hatten, davon ausgingen, dass ihre Angehörigen mit Gewalt verschleppt wurden. Es sieht so aus, als ob die meisten Opfer aus Yarmouk stammen, dem Palästinenser-Camp nebenan. Eine palästinensische Mutter identifizierte ihren Sohn nach Veröffentlichung des Videos und erzählte, dass sie eine Bäckerei hatten. Ihr Sohn ging los, um Gaskanister zum Brotbacken zu holen und sagte seinen Töchtern noch, dass er in einer halben Stunde wieder zurück sei. Dabei musste er wohl den Kontrollpunkt passieren, wo er verhaftet und mitgenommen wurde. Nach Angaben der Mutter geschah dies einen Tag vor dem Massaker. Er könnte also einen Tag lang in einem Ad-hoc-Gefängnis in einer Wohnung festgehalten worden sein, bevor er am nächsten Tag hingerichtet wurde. Wahrscheinlich haben fast alle Opfer ähnliche Geschichten.

 

Schockierend ist auch, dass sie in vom Regime kontrollierten Gebieten lebten.

Und nicht einmal an der Front, wo Zivilisten automatisch verdächtigt wurden, weil sie unter den Rebellen gelebt hatten. Diese Menschen sind am Anfang des Kriegs nicht in die von den Rebellen gehaltenen Gebiete gezogen, auch nicht in andere Länder wie etwa den Libanon. Sie sind die ganzen zwei Jahre im Regime-Gebiet geblieben, weil sie sich dort sicher fühlten.

 

Was haben die Enthüllungen bewirkt?

Die juristischen Bemühungen schreiten voran. Carla Del Ponte zum Beispiel, die früher Anklägerin im Jugoslawien-Tribunal war, war sehr dankbar, denn es handelt sich um wertvolles Beweismaterial. Ich bin sicher, dass noch mehr in diese Richtung passieren wird, zum Beispiel durch das BKA hier in Deutschland.

 

Welche Reaktionen erhielten Sie etwa aus der syrischen Diaspora?

Nach der Veröffentlichung hatte ich etwa 500 neue Facebook-Anfragen von Menschen, die sich bei mir meldeten. So deutlich vor der Kamera zu sehen, wie die beiden Täter Spaß dabei hatten, diese wehrlosen Zivilisten zu töten. Das war ein wirklich großer Schock. Ich habe einen syrischen Freund, der in Kassel lebt. Er sagte, er habe einen Fehler gemacht, als er das Video anschaute. Er bekam eine Panikattacke. Die Mitbewohner in seiner WG mussten sogar einen Krankenwagen rufen, weil er unkontrolliert zitterte. Ich habe von Menschen gehört, die einen Herzinfarkt erlitten haben, von Menschen, die einen Tag lang nicht schlafen konnten, von Menschen, die aufgehört haben zu essen. Viele haben es auch vorgezogen, sich das Video gar nicht erst anzuschauen. Das zeigt das Gefühl der Retraumatisierung. Natürlich wollen wir den syrischen Communities diesen Schmerz nicht zumuten. Aber das Video wurde geleakt und schlussendlich muss die nackte Wahrheit auf den Tisch, so hässlich sie auch ist.

 

In der Türkei wird die Stimmung gegen Flüchtlinge aggressiver. Zudem stehen im kommenden Jahr Parlaments- und Präsidentschaftswahlen an. Haben regierungsnahe Medien das Massaker aufgegriffen, um die öffentliche Debatte zur Frage der syrischen Flüchtlinge und deren drohender Ausweisung zu ändern?

Das würde man erwarten. Wir hatten vielleicht auch ein bisschen die Hoffnung, dass dies die türkische Bevölkerung, aber auch die handelnden Personen in der Regierung aufrütteln würde, damit sie wirklich erkennen, wie kriminell dieses Regime ist und dass man niemanden dorthin zurückschicken kann. Allerdings war die Berichterstattung sehr verhalten, sowohl bei oppositionellen als auch bei regierungsnahen Medien. Sie haben es entweder nicht aufgegriffen oder es damit abgetan, dass es lediglich ein einzelnes Video sei. Es sind aber 27 Videos und diese zeigen den Mikrokosmos eines umfassenderen Genozids.

 

Wie sieht es denn mit Reaktionen aus der türkischen Bevölkerung aus?

Ähnlich. Zum Beispiel ging ein Videoteam auf die Straßen von Istanbul, stoppte Menschen, zeigte ihnen das Video und filmte die Reaktionen. Sie waren schockiert, aber es ist lediglich ein kurzer Clip von drei Minuten – das war's. Keine weitere Analyse, keine politischen Implikationen. Interessant sind die Kommentare auf YouTube und Twitter. Eine der Damen in dem Video sagt sogar, wie schrecklich das ist, aber dass sie trotzdem will, dass die Syrer gehen. Das ist ein bizarrer Widerspruch. Wie kann man sagen, dass sie furchtbar leiden, wir sie aber trotzdem zurückschicken sollten? Der Rassismus gegen Syrer ist mittlerweile so tief verwurzelt und weit verbreitet, dass selbst das Tadamon-Video nicht in der Lage war, ihnen gegenüber ein Gefühl von Menschlichkeit oder Empathie zu vermitteln. Das hat mich sehr enttäuscht. Die Situation in der Türkei ist wirklich besorgniserregend. Leider hat das Video keinen grundlegenden Wandel im türkischen Diskurs bewirkt.

 

»Wir sind stolz auf unsere Arbeit«

 

Obwohl Sie Akademiker sind, haben Sie sich dafür entschieden, Ihre Recherchen in journalistischen Publikationen zu veröffentlichen und nicht etwa als Artikel in einem wissenschaftlichen Journal. Warum?

Wir waren der Meinung, dass diese Story ein größeres Publikum braucht, denn wenn man daraus einen langweiligen akademischen Artikel macht und ihn in irgendeinem wissenschaftlichen Journal vergräbt, wird ihn niemand lesen.

 

Zumal eine akademische Veröffentlichung auch eine peer review beinhaltet. Methodisch haben Sie einen sehr innovativen Ansatz gewählt, der im akademischen Umfeld möglicherweise zu Diskussionen geführt hätte.

Vielleicht würde man unser Vorgehen nicht akzeptieren. Es ist sehr gut, dass wir an Universitäten Ethikkommissionen haben, man sollte nicht alles machen können. Aber wenn wir es mit einer Diktatur zu tun haben, müssen wir besonders vorsichtig sein, wenn es um ethische Fragen geht. In Diktaturen und bei so mächtigen Tätern wie Amjad Youssef glaube ich nicht, dass diese Standards per se für sie gelten. Deshalb haben wir uns bewusst dafür entschieden, die Sache nicht vor die Ethikkommission zu bringen, sondern die Forschung auf der Grundlage unserer eigenen ethischen Grundsätze durchzuführen. Ich habe zum Beispiel aus eigener Tasche dafür bezahlt, die Quelle aus Syrien, von der das Video stammt, herauszubekommen.

 

Obwohl man als Forscher seinen Gesprächspartnern kein Geld geben soll.

Das ist richtig, aber die Quelle musste da raus. Im Grunde geht es um das geringere Übel. Ein paar Leute haben kritisiert, dass wir nicht offen zu Amjad Youssef waren und ihm nicht ehrlich gesagt haben, was wir machen. Aber das ist doch naiv. Wir hätten diese Ergebnisse anders niemals erreicht. Sie beschuldigen uns im Grunde, den Mörder zu belügen. Aber Töten und Lügen sind zwei verschiedene Dinge. Lügen ist das geringere Übel und ist hier sogar notwendig für die Sicherheit aller. Deshalb glaube ich, dass wir eine neue Forschungsmethodik zur Untersuchung von Tätern entwickeln, die wir Undercover-Ethnographie nennen. Genauso wie es Undercover-Journalismus gibt. Wir denken, wenn man es mit Diktaturen zu tun hat, ist das der richtige Weg. Wir haben das geringere Übel gewählt. Wir sind stolz auf das, was wir getan haben.


Uğur Ümit Üngör ist Professor für Holocaust- und Genozidstudien an der Universität von Amsterdam. Er veröffentlichte unter anderem Bücher zum Völkermord an den Armeniern und Paramilitärs in Syrien. Sein neustes Buch über syrische Gulags erscheint demnächst in englischer Übersetzung.

Von: 
Marc Imperatori

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