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Interview mit Syrien-Experte Fabrice Balanche über den IS, die Kurden und Syrien

»Der IS rekrutiert eine neue Generation von Kämpfern«

Interview
Interview mit Syrien-Experte Fabrice Balanche über den IS, die Kurden und Syrien
Fabrice Balanche reiste Anfang des Jahres in den Nordosten Syriens. privat

Erlebt der »Islamische Staat« (IS) nach dem Angriff auf das Gefängnis in Hasaka ein Comeback? Der französische Syrien-­Experte Fabrice Balance erklärt, welche Strategie der IS verfolgt und wie die Türkei versucht, daraus Kapital zu schlagen.

zenith: Der Ausbruchsversuch aus dem Gefängnis in Hasaka, in dem viele IS­-Gefangene inhaftiert sind, war der größte IS-­Angriff seit dem Ende des Kalifats. Wie konnte das passieren?

Fabrice Balanche: Dem IS ist es gelungen, das arabische Viertel von Hasaka zu infiltrieren, also Wohnungen anzumieten und unentdeckt zu bleiben. Niemand informierte die Polizei über die neuen Leute, die in die Gegend kamen – dank einer Art Omerta.

 

Genießt der IS in Teilen der lokalen Bevölkerung immer noch Unterstützung?

Ja. Ich habe einen Monat in Nordostsyrien verbracht. Ich war in Raqqa, Deir ez-Zor, Kobane und Qamischli und war sehr überrascht über die IS­-Nostalgie unter der arabischen Bevölkerung. Viele Leute erzählten mir, dass die Versorgung mit Strom und Brennstoff besser war und die wirtschaftliche Lage nicht so katastrophal wie heute. Die Grenzen sind oft geschlossen, so dass der Handel zwischen Syrien und dem Irak brachliegt. Neben diesen ökonomischen Faktoren spielt dabei auch eine Rolle, dass die arabische Bevölkerung die von Kurden dominierte Verwaltung nicht akzeptiert.

 

 

Werden wir weitere Ausbruchsversuche aus den IS-­Gefangenenlagern im Nordosten Syriens erleben?

Sicher. Knapp 10.000 inhaftierte Kämpfer und Tausende von Familienmitgliedern sind in Gefangenenlagern interniert. Und das Ziel des IS ist es, diese Menschen zu befreien, aber auch seinen Anhängern zu zeigen, dass man dazu in der Lage ist, diese Personen herauszuholen.

 

»Die Kurden haben die Nase voll davon, für den Westen auf IS-­Gefangene aufzupassen«

 

Die kurdisch geführten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) und die USA arbeiteten bei der Niederschlagung des Gefängnisausbruchs sehr eng zusammen. Bedeutet das drohende Wiedererstarken des IS, dass US­-Streitkräfte und die SDF auch künftig wieder enger kooperieren?

Ja, durch diesen Gefängnisausbruch sind die USA und der Westen insgesamt aufgewacht. Man dachte, dass die IS­-Mitglieder in Nordostsyrien unter Kontrolle sind, sie also nicht in ihre Herkunftsländer zurückgeführt werden müssen. Man hat den SDF auch nur wenig Unterstützung zukommen lassen, obwohl türkische Angriffe und eine Finanzkrise den Nordosten Syriens destabilisieren. Die Grenze zu Irakisch­-Kurdistan und damit eine wichtige Handelsroute für Nordostsyrien wurde geschlossen.

 

Was hat sich nun geändert?

Als die Kämpfe in Hasaka ausbrachen, drängten die Amerikaner Masrour Barzani, den Premierminister der Autonomen Region Kurdistan, die Grenze wieder zu öffnen, weil es für die SDF andernfalls unmöglich gewesen wäre, gegen den IS zu mobilisieren. Der IS­-Angriff hat also vor Augen geführt, dass man weiterhin eng mit den SDF zusammenarbeiten muss. Die Kurden haben die Nase voll davon, für den Westen auf IS-­Gefangene aufzupassen. Sie riskieren ihr Leben, um unsere Terroristen festzuhalten. Sie brauchen also zumindest Unterstützung. Wenn man die Dschihadisten nicht nach Europa oder in die USA zurückführen will, muss man bereit sein, den Blutzoll zu teilen.

 

Die Minderheiten in Qamischli wehren sich gegen die jüngsten Kurdisierungsprojekte dort. Wie steht es um das Verhältnis zwischen den SDF und etwa der christlichen Gemeinschaft in Nordostsyrien?

Die christliche Gemeinschaft in Qamischli stand eher auf der Seite des Regimes und unterstützte den syrischen Nationalismus, weshalb sie die Idee des kurdischen Separatismus ablehnte. Sie wehrte sich auch gegen kurdische Schulprogramme. Im Jahr 2017 wollte die kurdische Verwaltung einen neuen Lehrplan in kurdischer Sprache durchsetzen und verhindern, dass nichtchristliche Kinder in christliche Privatschulen gehen, in denen auf Arabisch der syrische Lehrplan unterrichtet wird. Christliche Araber konnten auf eine arabischsprachige Schule gehen, muslimische Araber jedoch nicht – sie mussten in der Schule Kurdisch lernen. Der Nordosten Syriens verfügt nur über sehr wenige weiterführende Schulen, so dass viele Menschen auf den vom Regime kontrollierten Teil Syriens ausweichen. Allerdings werden die kurdischen Abschlüsse dort nicht anerkannt, die der christlichen Privatschulen hingegen schon. Den Menschen geht es um die Zukunft ihrer Kinder.

 

»Wer sich als Beschützer der syrischen Christen präsentiert, kann mehr Unterstützung aus dem Westen erwarten«

 

Hat sich das Verhältnis zwischen der SDF und den syrischen Christen inzwischen verbessert?

Die christliche Gemeinschaft und die Autonomieverwaltung haben sich wieder etwas angenähert. Die Kurden haben ihre Schulpläne recht schnell fallen gelassen, als sie auf Widerstand stieß. Auch die Beziehungen zwischen den arabischen Stämmen und der kurdischen Verwaltung haben sich verbessert. Denn die versucht zum Beispiel nicht mehr, Polygamie zu verbieten. Anfang 2017 wollten die Kurden dieser Praxis noch ein Ende setzen. Inzwischen ist den Kurden bewusst, dass sie flexibler mit den lokalen Gemeinschaften umgehen müssen.

 

Welche Rolle spielen die christlichen Milizen innerhalb der SDF?

Eine verschwindend geringe. Über 90 Prozent der Mitglieder in der christlichen Miliz Sutoro sind zum Beispiel muslimische Araber und Kurden. Viele Christen sind geflohen, die jungen Leute meist nach Schweden oder Deutschland. In der Provinz Hasaka betrug der christliche Bevölkerungsanteil früher 10 Prozent, heute sind es vielleicht 2 Prozent. Die christlichen Milizen haben vor allem symbolischen Charakter, aber kaum militärische Bedeutung.

 

Wenn in den christlichen Milizen nur so wenige Christen dienen, worin besteht ihr Zweck?

In Nordostsyrien werden drei Sprachen offiziell anerkannt: Kurdisch, Arabisch und Surayt, eine neuostaramäische Sprache. Die kurdische Regierung will der Welt und insbesondere Europa zeigen, dass sie die Christen schützt und in den politischen Prozess, in die Regierung und in die SDF einbindet. Das ist aber hauptsächlich Symbolpolitik: Wer sich als Beschützer der syrischen Christen präsentiert, kann mehr Unterstützung aus dem Westen erwarten.

 

Was haben Sie in Nordostsyrien von den türkischen Angriffen mitbekommen?

Von Tal Abyad und Ras Al­-Ayn aus hält der Beschuss kurdischer Stellungen an, ebenso die Angriffe im äußersten Nordosten der von den SDF gehaltenen Gebiete, nahe der Grenze zum Irak. Die Türkei will das Vertrauen in die Autonomieverwaltung in Nordostsyrien zerstören. Die Offensive fordert bislang zwar nur wenige Todesopfer. Aber es geht den Türken darum, Angst zu schüren, Menschen zur Flucht zu drängen und Investitionen zu blockieren. Ich habe vor vier Jahren Kobane besucht – damals eine dynamische Stadt. Der Wiederaufbau lief, die Menschen kamen aus Irakisch­-Kurdistan zurück, weil es Arbeitsplätze gab. Jetzt ist Kobane eine sterbende Stadt. Wegen des türkischen Beschusses haben die Menschen Angst und fliehen. Die Türkei profitiert auch von der Destabilisierung durch IS-­Angriffe.

 

»Haben die USA der Türkei grünes Licht für einen Angriff auf die Kurden gegeben«

 

Am 3. Februar wurde der IS­-Anführer Abu Ibrahim al­-Haschimi al-­Quraischi von US­ amerikanischen Spezialkräften getötet. Welche Rolle spielte er innerhalb der Organisation?

Nach dem Tod von Abu Bakr Al­-Baghdadi im Oktober 2019 wurde er der Anführer des IS, und war für die Reorganisation der Terrormiliz verantwortlich. Er plante Operationen wie den Angriff auf das Gefängnis in Hasaka­. Da die neue Strategie des IS nicht mehr darin besteht, ein Gebiet zu kontrollieren, wie es zwischen 2013 und 2018 der Fall war, musste er auch das Finanznetzwerk des IS neu organisieren.

 

Ist das nur eine Phase oder plant der IS nicht mehr damit, ein Gebiet zu halten?

Nach dem Zusammenbruch des sogenannten Kalifats hat der IS verstanden, dass die Zeit dafür nicht reif ist. Denn die militärische Vormachtstellung der USA und Russlands macht das unmöglich. Kalaschnikows haben keine Chance gegen Luftangriffe. Also ist es besser, im Untergrund zu bleiben und auf einen besseren Zeitpunkt zu warten, während man den Feind mit Guerilla­-Angriffen ins Visier nimmt. Das erleichtert auch den Wiederaufbau der Organisation. Der IS verfolgt also eine ähnliche Strategie wie Al­-Qaida.

 

Waren außer den USA noch andere Länder an der Jagd auf Quraischi beteiligt?

Er hatte sich nur wenige Kilometer von der türkischen Grenze entfernt in Idlib versteckt. Dort sind 9.000 türkische Soldaten stationiert, und auch der Geheimdienst MIT ist stark vertreten. Daher denke ich, dass der MIT, wie bei der Tötung Baghdadis, Informationen an die USA über den Aufenthaltsort von ­Quraischi weitergab.

 

Was versprach man sich in Ankara im Gegenzug?

Im Jahr 2019 zog Trump die US-amerikanischen Truppen aus Tal Abyad und Ras Al­-Ayn ab, zwei Tage später griff die Türkei das Gebiet an und drei Wochen später wurde Baghdadi getötet. Wenn wir an dieses Szenario denken, müssen wir uns heute fragen: Haben die USA der Türkei grünes Licht für einen Angriff auf die Kurden gegeben, im Austausch für Informationen über Quraischis Aufenthaltsort?

 

»Der IS zieht es vor, im Regimegebiet zu agieren, weil es dort für die Organisation weniger gefährlich ist«

 

Dient Idlib als Zufluchtsort für IS­-Kämpfer?

Sie sind dort nicht zu hundert Prozent in Sicherheit. Aber wir wissen, dass viele IS­-Kämpfer nach Idlib übersiedelten, nachdem Raqqa 2017 gefallen war. Das waren zum großen Teil Ausländer, die für den Dschihad nach Syrien gekommen waren, und nun beschlossen, sich anderen islamistischen Gruppen wie der Nusra­-Front anzuschließen, heute als Hayat Tahrir Al­-Scham bekannt. Meistens geschah das über persönliche Kontakte.

 

Wie leicht ist es, von Nordostsyrien nach Idlib zu gelangen?

Wer genug hat, bezahlt die richtigen Leute und die bringen einen rüber. An der Grenze ist für Geld alles möglich.

 

Geht der IS auch in den vom Assad­-Regime kontrollierten Gebieten in die Offensive?

Ich habe es nicht mit eigenen Augen gesehen, aber nach dem, was mir die Leute erzählt haben, scheint es dort noch dramatischer zu sein. Insgesamt ist die wirtschaftliche Lage in den Regimegebieten schlechter, das gilt auch für die Sicherheitslage. Als ich in der Nähe der Grenze in Deir ez-­Zor war, zog starker Nebel auf. Das nutzte der IS als Deckung, um gegen die syrische Armee in die Offensive zu gehen. Der IS ist im Regimegebiet stärker, weil die syrische Armee weniger kompetent bei Anti-­Terror­-Operationen auftritt als die SDF. Deshalb zieht es der IS vor, im Regimegebiet zu agieren, weil es dort für die Organisation weniger gefährlich ist.

 

Steht der IS auch im Irak vor einem Comeback?

Mosul steht unter schiitischer Besatzung, und das ist für arabische Sunniten inakzeptabel. Das »Institute for the Study of War« schätzt, dass der IS über bis zu 15.000 Kämpfer in Syrien und dem Irak verfügt. Der Organisation gelingt es, eine neue Generation zu rekrutieren, die frustriert ist, ohne Hoffnung, ohne Zukunft, ohne Arbeit. Und diese Menschen schließen sich dem IS an.


Fabrice Balanche ist Geograf und Politikwissenschaftler und lehrt als Dozent an der Universität Lyon. Er ist zudem Fellow am Washington Institute for Near East Policy.

Von: 
Raphael Bossniak

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