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Interview mit palästinensischem Politiker Mustafa Barghuthi

»Das Westjordanland sieht für mich aus wie 224 Ghettos«

Interview
Interview mit palästinensischem Politiker Mustafa Barghuthi
Foto: Hannes Alpen

2005 war er der einzige ernsthafte Herausforderer von Mahmud Abbas. Im Interview erklärt Mustafa Barghuthi, warum der ständige Aufschub von Wahlen Ramallahs Position schwächt – und warum er Israels Palästinenser-Politik als Apartheid bezeichnet.

zenith: Halten Sie es für wahrscheinlich, dass in Palästina in naher Zukunft Wahlen abgehalten werden?

Mustafa Barghuthi: Wir drängen schon seit langer Zeit auf Wahlen. Es ist völlig inakzeptabel, dass die Bevölkerung seit nunmehr fast zehn Jahren ihres Wahlrechts beraubt wird. Die interne Spaltung wurde lange Zeit als Ausrede dafür benutzt, keine Wahlen abzuhalten. Doch nicht nur innerhalb Palästinas, sondern auch weltweit wird gefordert, dass die Palästinenser ihr demokratisches System wieder einführen. Wir als »Palästinensische Nationale Initiative« (PNI) haben versucht, die Frage der internen Spaltung zu lösen, indem wir mit der Zentralen Wahlkommission (ZWK) zusammengearbeitet und Vorschläge erarbeitet haben, um die Differenzen beizulegen. Es ist ein 11-Punkte-Plan, der von den meisten politischen Parteien beinahe akzeptiert wurde. Und er ebnet den Weg für die Lösung von Problemen wie die Einführung eines vollständig proportionalen Systems, das die Hamas ursprünglich abgelehnt hatte. Wir haben dafür auch separat abgehaltene Legislativrats- und Präsidentschaftswahlen akzeptiert – selbst wenn das nicht dem Gesetzestext entspricht.

 

Wer hat die Trennung zwischen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen gefordert?

Präsident Abbas und die Fatah. Wir hätten es vorgezogen, dem Gesetz zu folgen, das besagt, dass sie am selben Tag stattfinden sollten. Wir akzeptierten schließlich diese Trennung unter der Bedingung, dass zwischen den beiden Wahlterminen ein Zeitraum von drei Monaten liegt.

 

Was steht dann der Abhaltung von Wahlen noch im Weg?

Ich sehe drei große Hindernisse. Erstens, dass Israel versuchen könnte, uns daran zu hindern, freie Wahlen in Jerusalem und in einigen anderen Teilen des Westjordanlandes abzuhalten. In diesem Fall lautet unsere Antwort als PNI, dass wir der israelischen Besatzung dieses Recht nicht einräumen und trotzdem Wahlen auf die Beine stellen sollten.

 

Warum sollte Israel versuchen, Wahlen in Palästina zu verhindern?

Weil Ostjerusalem als annektierter Teil Israels betrachtet wird. In den Jahren 2005 und 2006 erlaubte Israel den Menschen, nur in Postämtern zu wählen, hinderte uns aber daran, Wahlkampagnen durchzuführen. Ich bestand darauf, mich mit den Menschen zu treffen. Dafür wurde ich während des Wahlkampfs fünf Mal von der israelischen Armee verhaftet. Wenn die Israelis Wahlen ablehnen, sollten wir darauf bestehen und sie als Forum für gewaltlosen, friedlichen Widerstand nutzen.

 

»Wir sagen den jungen Menschen immer: Entweder ihr tretet einer bestehenden Partei bei und macht sie besser, oder ihr gründet eure eigene neue Partei.«

 

Und das zweite Hindernis?

Wir müssen eine Atmosphäre schaffen, in der die Wahlen völlig frei und fair ablaufen können. Das ist eine große Herausforderung, denn im Westjordanland sind alle Befugnisse in den Händen der Exekutive konzentriert. Und in Gaza ist die Situation ähnlich. Deshalb haben wir auf spezifischen Bedingungen für Wahlen bestanden, einschließlich der Redefreiheit, des Verbots jeder Art von politischem Druck und jeder Art von politisch motivierten Verhaftungen. Es sollte auch Zusicherungen geben, dass die Sicherheitsapparate sich nicht in den Wahlprozess einmischen und dass alle Parteien die gleichen Chancen haben, sowohl was die Nutzung der Medien, als auch was die Finanzierung des Wahlkampfes betrifft.

 

Und das dritte?

Wie können wir eine Garantie dafür bekommen, dass nach den Wahlen die Ergebnisse respektiert werden? Wir haben einen von allen unterschriebenen »Ehrenvertrag« vorgeschlagen, der besagt, dass wir alle den Ausgang der Wahlen akzeptieren werden. Wir können nicht hinnehmen, dass Wahlergebnisse nur dann respektiert werden, wenn sie einigen Leuten gefallen.

 

Haben Sie selbst die Absicht, bei den Präsidentschaftswahlen zu kandidieren?

Das habe ich schon einmal getan. Das war ein sehr wichtiger Akt, um das demokratische System des Pluralismus und des Wettbewerbs zu festigen. Ich kann Ihnen darauf keine Antwort geben, entscheidend ist nicht meine persönliche Meinung, sondern die Bedingungen, unter denen Wahlen stattfinden. Solch eine Entscheidung muss von unserer Bewegung getroffen werden. Ich sage aber nicht, dass meine Kandidatur nicht in Frage kommt.

 

Wie zuversichtlich sind Sie in Bezug auf eine breite Beteiligung an den bevorstehenden Wahlen im Gazastreifen, im Westjordanland und in Jerusalem?

Bei den letzten Wahlen nahmen zwischen 60 und 70 Prozenten der Palästinenser an den Wahlen teil. Wenn wir den gleichen Wert erreichen könnten, wäre das fantastisch. Allerdings fühlen sich heute viele Menschen politisch entfremdet, vor allem die Jugend. Sie sind Teil einer ganzen Generation, der Mehrheit der heutigen Wahlberechtigten, die noch nie an Wahlen teilgenommen hat. Es wird darauf ankommen, wie man sie davon überzeugen kann, dass sie ihre Lage nur verbessern kann, wenn sie am politischen Leben teilnimmt. Und wir sagen den jungen Menschen immer: Entweder ihr tretet einer bestehenden Partei bei und macht sie besser, oder ihr gründet eure eigene neue Partei. Genau das habe ich 2002 getan, als ich eine neue Bewegung gründete, die jüngste politische Bewegung in Palästina.

 

Wie realistisch ist es, dass aus dieser demografischen Gruppe heraus neue Initiativen entstehen?

Das ist schwierig. Eine Option, die wir unterstützen werden, ist die Bildung einer demokratischen Koalition, die mehrere Bewegungen, insbesondere Jugend- und Fraueninitiativen umfassen könnte. Sie wäre sowohl von der Fatah als auch von der Hamas unabhängig.

 

»Jetzt haben wir eine Regierung ohne Rechenschaftspflicht.«

 

Warum steigt der Druck, die Wahlen endlich anzuhalten, erst jetzt und nicht schon früher?

Das hätte früher geschehen sollen. Es ist ein großer Fehler, dass zehn Jahre lang nichts passiert ist. Wir hätten 2010, 2014 und 2018 Wahlen abhalten sollen. Heute ist die Situation noch dringlicher, vor allem nach der Auflösung des Palästinensischen Legislativrates (PLC), denn jetzt haben wir eine Regierung ohne Rechenschaftspflicht.

 

Warum hat Präsident Abbas solange gezögert, Wahlen auszurufen?

Er hat die interne Spaltung als Grund angeführt. Zwei rote Linien sollten nicht überschritten werden. Erstens, dürfen wir nie akzeptieren, dass in Jerusalem nicht abgestimmt werden kann. Aber die Antwort auf Israels Weigerungshaltung in dem Punkt kann nicht lauten, keine Wahlen abzuhalten. Die zweite rote Linie ist, Gaza außen vor zu lassen. Das wäre eine Katastrophe, denn dann würden die internen Spaltungen eher gefestigt denn überwunden. Wie lösen andere Länder ihre politischen Probleme? Sie lassen wählen und bilden Regierungen auf der Grundlage der Wahlergebnisse. Es gibt keinen anderen Weg.

 

Und was, wenn die Wahlen wieder auf unbestimmte Zeit auf Eis gelegt werden?

Das wäre eine Katastrophe für die gesamte politische Struktur. Besonders hart träfe das jede Form der politischen Organisation, einschließlich der Parteien, denn dann werden die Menschen sich fragen: Warum soll ich einer politischen Partei beitreten? Ohne Wahlen werden wir auch den gewaltigen Herausforderungen, die die israelische Besatzung mit sich bringt, viel schwächer gegenüberstehen.

 

Im April 2016 rief Präsident Abbas ein Oberstes Verfassungsgericht ins Leben. Dagegen richtete sich heftige Kritik – auch von Ihnen. Warum?

Das Prozedere zur Gründung dieses Gremiums verlief nicht korrekt. Zudem sind wir nicht mit der Entscheidung des Verfassungsgerichts einverstanden, die Auflösung des Palästinensischen Konsultativrat (PLC) zu bestätigen. Das gesamte Justizsystem hat seine Unabhängigkeit vollständig verloren. Wir fordern einen neuen Legislativrat, der alle Gesetze, die vom Präsidenten und von der Hamas erlassen wurden, revidieren kann. Wir sind heute in einer Situation, in der das Parlament selbst in seiner gesamten Existenz seit 1996 ungefähr 100 Gesetze erlassen hat, der Präsident dagegen 150. Die Hamas hat allein Dutzende weiterer Gesetze beschlossen. Das ist nicht normal, denn jetzt haben wir zwei Rechtsräume, in Gaza und im Westjordanland.

 

»Diese Resolution war falsch und ungerecht. BDS ist weder antisemitisch noch antijüdisch.«

 

Welche Rolle sollte die internationale Gemeinschaft in Bezug auf die Wahlen spielen?

Sie sollte Druck auf Israel ausüben, unsere Wahlen nicht zu be- und verhindern. Und sie sollte garantieren, dass die Ergebnisse der Wahlen respektiert werden.

 

Deutschland hat der Palästinensischen Autonomiebehörde im Jahr 2018 rund 110 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Wissen Sie, wohin diese Gelder geflossen sind?

Ich bin nicht mit allen Einzelheiten vertraut. Ich weiß, dass ein Teil davon der Unterstützung der Regierung diente. Und ein Teil davon ging an die Zivilgesellschaft, was für das Überleben der Palästinenser sehr wichtig ist. Dieser Teil ist gut ausgegebenes Geld. Ich weiß, dass ein Teil dieser Unterstützung an die UNWRA geht, um den palästinensischen Flüchtlingen zu helfen, die 1948 aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Alles in allem denke ich, dass Deutschland eine sehr sorgfältige Kontrolle der Finanzen betreibt.

 

Würden Sie sich wünschen, dass Deutschland mehr tut? Zudem hat der deutsche Bundestag die Boykott-Vertriebenen- und Sanktionsbewegung (BDS) im vergangenen Jahr mit Antisemitismus gleichgesetzt.

Diese Resolution war falsch und ungerecht. Sie war das Ergebnis einer sehr starken israelischen Lobby. Wir alle wissen, dass diese Entscheidung nicht bindend ist. Und ich hoffe, sie bleibt unverbindlich. Dieser Angriff auf die Meinungsfreiheit und das Recht auf freie Meinungsäußerung ist inakzeptabel, besonders von einem Land wie Deutschland, das an die Demokratie glaubt. BDS ist weder antisemitisch noch antijüdisch. Eine Beeinträchtigung des Rechts der Menschen auf Wahlfreiheit ist meiner Meinung nach nicht demokratisch. Ich respektiere voll und ganz das Leiden des jüdischen Volkes, während des Holocaust, der Inquisition, der Pogrome in Russland. Aber die Palästinenser waren nie Teil davon, und das Leiden des jüdischen Volkes sollte meiner Meinung nach Israel sensibler für die Menschenrechte und die demokratischen Rechte anderer Menschen machen. Nicht das Gegenteil.

 

Wünschen Sie sich größeren Druck der internationalen Gemeinschaft auf Israel?

Andererseits sind wir besorgt über das Fehlen einer europäischen Reaktion auf Israels Verstöße gegen das Völkerrecht. Zum Beispiel die Annexion von Ost-Jerusalem, das zu den besetzten Gebieten gehört. Die Resolution des Internationalen Gerichtshofs (ICJ) ist absolut eindeutig. Sie besagt, dass eine Besatzungsmacht das Gebiet anderer Menschen nicht gewaltsam annektieren darf. Sie besagt auch, dass sie ihre Bevölkerung nicht umsiedeln und Territorium besetzen darf. Und genau darum geht es bei den Siedlungen. Es gibt keinerlei Rechtfertigung für die mangelnde Reaktion auf die israelischen Verstöße gegen das Völkerrecht, insbesondere wenn israelische Bulldozer in das Gebiet C kommen, das 62 Prozent des Westjordanlandes ausmacht, und von Europa und Deutschland finanzierte Projekte zerstören. Das ist ein ganz entscheidender Zeitpunkt, denn heute zerstören die rechten israelischen Regierungen unter Führung von Benyamin Netanyahu systematisch die allerletzten Möglichkeiten, eine Zwei-Staaten-Lösung umzusetzen.

 

»Wir erhalten keine finanziellen Mittel aus dem Topf der PLO – im Gegensatz zu einigen Parteien, die monatliche Zuwendungen bekommen.«

 

Welche Chancen rechnet sich Ihre Partei aus, sollten tatsächlich wieder Wahlen abgehalten werden?

Viele Umfragen zeigen, dass keine Partei eine absolute Mehrheit bekommen kann. Sollte sich ein starkes demokratisches Lager außerhalb von Hamas und Fatah formen, das es schafft, verschiedene Gruppen zu vereinen, könnte es bei diesen Wahlen eine echte Alternative geben. Wir akzeptieren keine externen Zuwendungen, daher wissen wir, dass wir aus finanzieller Sicht keinen guten Wahlkampf führen werden können. Das macht uns nicht weniger optimistisch. Im Gegenteil. Zumindest, wenn die Menschen verstehen, dass wir gegen das System von Klientelismus und Vetternwirtschaft ankämpfen. Wir sind vollständig auf persönliche Spenden palästinensischer Bürger und Mitgliedsbeiträge angewiesen. Natürlich erhalten wir keine finanziellen Mittel aus dem Topf der PLO – im Gegensatz zu einigen Parteien, die monatliche Zuwendungen bekommen.

 

Sie haben zuletzt gesagt, dass Sie eine Ein-Staaten-Lösung für die einzig verbliebene realistische Option halten. Warum glauben Sie das?

Wir waren nie gegen eine Zwei-Staaten-Lösung und wir waren nie gegen einen unabhängigen und wirklich souveränen palästinensischen Staat auf palästinensischen Gebieten, einschließlich Ost-Jerusalem als Hauptstadt. Aber die israelischen Maßnahmen machen die Zwei-Staaten-Lösung zunichte. In Wirklichkeit gibt es drei mögliche Optionen. Die Zweistaatenlösung oder das, was wir heute haben, nämlich ein echtes Apartheidsystem.

 

Wie würden Sie Apartheid definieren?

Apartheid ist die Herrschaft einer Nation über die andere. Von einem Volk über ein anderes. Ein System, in dem zwei Rechtssysteme für zwei Menschen gelten, die am selben Ort leben. Israelis folgen israelischem Recht, während wir dem Militärrecht unterliegen. Wir werden im Hinblick auf die Kontrolle des Landes diskriminiert. Israel nimmt uns 85 Prozent unseres Wassers weg. Es erlaubt jedem Palästinenser, nicht mehr als 50 Kubikmeter Wasser pro Jahr zu verbrauchen, während israelische Siedler 2.400 Kubikmeter Wasser aus dem Westjordanland nutzen können. Innerhalb des Westjordanlandes existieren getrennte Verkehrssysteme. Nur wenige Politiker wissen das. Autobahnen, die das Westjordanland im Osten, Westen, Norden und Süden durchschneiden, sind separat und dürfen nur von Israelis genutzt werden. Wenn wir sie zu Fuß oder mit dem Auto befahren, können wir für sechs Monate ins Gefängnis gesteckt werden. So etwas gab es nicht einmal während der Apartheid in Südafrika.

 

Vergleichen Sie die Situation in Palästina heute mit Südafrika während der Apartheid?

Es ist viel schlimmer als in Südafrika während der Apartheid. Das ist nicht meine Meinung, sondern die Einschätzung vieler Politiker aus Südafrika selbst, einschließlich eines meiner Freunde, Ronnie Kasrils, der als Führer des ANC und als weißer Jude gegen die Apartheid gekämpft hat. Als er nach Palästina kam, hielt ich mit ihm gemeinsam eine Pressekonferenz ab, ich war damals Informationsminister der Einheitsregierung. Und als ich sagte, die Zustände in Palästina seien wie zu Zeiten der Apartheid, unterbrach er mich und sagte, es sei noch viel schlimmer.

 

»Wenn ich mir das Westjordanland anschaue, wie es in 224 kleine Inseln, Enklaven, geteilt ist, in denen Menschen ihrer Grundrechte beraubt werden, sieht das für mich aus wie Ghettos.«

 

Wie sieht die dritte Option aus, die Sie anrissen?

Die dritte Option wäre eine Ein-Staaten-Lösung mit vollständigen demokratischen Rechte für alle. Hundert Prozent volle Gleichheit. Wir sagen, die Alternative zu einer Zwei-Staaten-Lösung kann nicht Apartheid lauten. Sie kann nicht darin bestehen, den Palästinensern eine Art Selbstverwaltung in kleinen Bantustans zuzuweisen. Ich nenne diese Gebiete Ghetto-Stans. Sie sind sogar viel kleiner als Bantustans und sehen aus wie Ghettos.

 

Warum haben Sie beschlossen, den Begriff Ghetto-Stans zu verwenden? Ist das nicht besonders provokativ?

Nein, das ist nicht provokativ. Es ähnelt weitgehend demselben Leiden, das das jüdische Volk zuvor durchmachen musste und das wir verurteilen. Das jüdische Volk in Ghettos zu halten, war einer der schrecklichsten Fehler einiger europäischer Länder. Aber wenn ich mir das Westjordanland anschaue, wie es in 224 kleine Inseln, Enklaven, geteilt ist, in denen Menschen ihrer Grundrechte beraubt werden, sieht das für mich aus wie Ghettos.

 

Wie sehen Sie die politische Rolle der Palästinenser innerhalb Israels?

Wir sollten gemeinsam mit unseren Brüdern innerhalb Israels für den Sturz des Apartheidsystems kämpfen. Das sollte nicht nur ein Kampf der Palästinenser sein, sondern auch einer des jüdischen Volkes. Denn es gibt nichts Schändlicheres als ein Apartheidsystem im 21. Jahrhundert. Politisch gesehen sollten die Palästinenser in Israel das tun, was sie bisher getan haben: sich in einer Wahlliste vereinigen, die Rechte der Palästinenser auf vollständige und uneingeschränkte demokratische Gleichheit verteidigen und unseren Kampf zur Beendigung der Besatzung unterstützen.

 

Bietet das israelische Parteienspektrum einen tragfähigen Partner für die PNI?

Leider nicht bei den wichtigsten Parteien. Es gibt keinen großen Unterschied zwischen Netanyahu und Gantz, wenn es um die Palästinenserfrage geht. Meretz mag die Partei sein, die einem wirklichen Frieden am nächsten steht, aber es ist leider eine kleine Partei. Die beiden großen Lager unterscheiden sich nicht wirklich. Netanyahu sagt: »Ich will das Jordantal annektieren.« Ganz sagt: »Ich will das Jordantal behalten.« Netanyahu und Gantz sagen beide, es gebe keinen Platz für einen palästinensischen Staat. Mosche Ya'alon fordert, die Zahl der Siedler auf eine Million zu erhöhen. Yair Lapid, ebenfalls Teil des Bündnisses von Benny Gantz, sagt, wir Palästinenser seien krank und bedürften psychologischer Behandlung.

 

»Netanyahu war persönlich dafür verantwortlich, die israelische Öffentlichkeit soweit aufzuhetzen, bis einige jüdische Extremisten schließlich Jitzhak Rabin ermordeten.«

 

Wir wirkt sich der Prozess gegen Premier Netanyahu auf die palästinensische Politik aus?

Die Anklage gegen ihn festigt die Überzeugung, dass jedes Land ein demokratisches System haben sollte, das alle, einschließlich des Premierministers, zur Rechenschaft zieht. Die Palästinenser sind wütend auf Netanyahu wegen seines Rassismus. Dieser Mann hat im Alleingang mit seiner Likud-Partei so viele Friedensträume durch die Kampagne zunichte gemacht, die er seit der Unterzeichnung des Oslo-Abkommens gegen den Frieden geführt hat. Er war persönlich dafür verantwortlich, die israelische Öffentlichkeit soweit aufzuhetzen, bis einige jüdische Extremisten schließlich Jitzhak Rabin ermordeten.

 

Sie sagten kürzlich, dass Palästina eine weitere Intifada bevorstehen könnte. Wie sehen Sie die Aussichten dafür?

Dieses System der Unterdrückung und Diskriminierung könnte zu einer neuen Intifada führen. Aber der Aufstand, von dem ich spreche, ist gewaltlos und nimmt die Form des zivilen Ungehorsams gegen die Ungerechtigkeit an, die gegen uns praktiziert wird. Ich hoffe, dass wir nicht bis zu diesem Punkt kommen, wenn genügend Druck auf die israelische Regierung ausgeübt wird. Aber wir haben keine andere Möglichkeit, als für unsere Freiheit, für Gerechtigkeit und auch für unsere demokratischen Rechte zu kämpfen.

 

Die Palästinensische Autonomiebehörde ist in letzter Zeit wegen des Missbrauchs von Hamas-Häftlingen in ihren Gefängnissen in die Kritik geraten.

Jegliche Verletzung der Menschenrechte, ob im Westjordanland oder im Gazastreifen, ist inakzeptabel und sollte unverzüglich unterbunden werden. Wir sollten keine Form der Folter an Gefangenen zulassen. Jedem sollte ein ordentliches Gerichtsverfahren zugestanden werden. Alle Sicherheitsstrukturen sollten der Kontrolle der gewählten politischen Struktur unterworfen werden.

 

Glauben Sie, dass eine friedliche Lösung angesichts des Standpunkts der gegenwärtigen US-Regierung, die Siedlungen zu legalisieren, möglich ist?

Nein, nicht mit den Amerikanern. Die Trump-Administration hat ihre Fähigkeit, als Vermittler zu agieren, aufgebeben. Sie hat sich nicht nur völlig auf die Seite Israels geschlagen, was sich von anderen Regierungen nicht unterscheidet, sondern sie geht Bündnisse mit den extremsten Elementen des israelischen Establishments ein. Europa könnte in die Bresche springen, falls es den Mut dazu aufbringen kann.


Mustafa Barghuthi, 66, ist Generalsekretär der »Palästinensischen Nationalen Initiative« (PNI), auch bekannt unter ihrer arabischen Bezeichnung Al-Mubadara. Im Jahr 2002 verließ er die Palästinensische Volkspartei (die frühere Kommunistische Partei Palästinas), um seine eigene Partei zu gründen. 2005 trat Barghuthi bei den Präsidentschaftswahlen in Palästina an und erhielt knapp 20 Prozent der Stimmen. Er diente auch kurzzeitig als Informationsminister in der kurzlebigen Einheitsregierung von 2007. Vor seinem Eintritt in die Politik praktizierte Barghuthi als Arzt und ist immer noch Vorsitzender der »Palestinian Medical Relief Society« (PMRS). zenith traf Mustafa Barghuthi am Rande seines Deutschland-Besuchs Ende Dezember 2019.

Von: 
Calum Humphreys

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