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Finanzkrise in der Türkei

Lauter Nullen

Analyse
Die Finanzkrise in der Türkei
Die Inflation in der Türkei war im September auf 24,5 Prozent gestiegen – mehr als die meisten Analysten erwartet hatten und der höchste Wert seit 17 Jahren. Foto: Philipp Matheis

Die Inflation in den Griff bekommen: Dieses Versprechen hat die Regierung Erdoğan einst eingelöst. Sie baut auf das Vertrauen in ihr Krisenmanagement und scheint sich dabei maßlos zu überschätzen.

Vielleicht liegt es an dem Dekret, das die Regierung im Herbst verhängte, wonach jeder, der sich kritisch über die türkische Wirtschaft äußert, mit einer Anzeige zu rechnen habe. Vielleicht liegt es auch an der türkischen Krisenresilienz. Oder Yasar Ayaydin, mit lockigem Haar und legerem Auftreten, ist einfach gnadenloser Optimist, der nicht sehen will, was da auf sein Land zurollt.

 

Auf jeden Fall gibt er sich unbeeindruckt von der Finanzkrise, die die Türkei seit Ende Juli im Griff hat. »Das Wichtigste ist doch, dass die Leute unsere Hemden kaufen«, sagt der 43-Jährige. »Solange sie das tun, haben wir nichts zu befürchten.« Tatsächlich ist der Textilhersteller Tudors, mit 200 Filialen einer der größten des Landes, in einer guten Position: »Unsere Importe halten sich in etwa die Waage mit unseren Exporterlösen.« Auch die Kredite in Euro und Dollar könnten damit bedient werden.

 

Ayaydin gründete die Firma mit seinem Bruder vor zehn Jahren. In seinem Büro hängt ein Bild des Staatsgründers Kemal Atatürk, und vom gleichnamigen Flughafen donnern die Maschinen alle fünf Minuten über ihn hinweg. Mittlerweile hat das Unternehmen Zweigstellen in mehreren Balkanländern und erwirtschaftet laut eigenen Angaben umgerechnet 50 Millionen US-Dollar im Jahr.

 

Allerdings muss auch er einräumen, dass einige seiner Lieferanten den Betrieb vorübergehend einstellen mussten. Zu teuer seien die Importe geworden. Über Politik will Ayaydin nicht reden, die Lösung für die türkischen Probleme liegt für ihn einfach darin, mehr zu exportieren. »Wir müssen härter arbeiten, besser werden und andere Märkte erschließen.«

 

Damit hat der hemdsärmelige Unternehmer zumindest nicht unrecht, denn eine tiefere Ursache in der aktuellen türkischen Wirtschaftskrise liegt darin, dass das Land zu viel importiert und zu wenig exportiert. Doch allein das erklärt die türkische Krise noch nicht.

 

Die Inflation war im September auf 24,5 Prozent gestiegen – mehr als die meisten Analysten erwartet hatten und der höchste Wert seit 17 Jahren. »Damit hängt die Zentralbank schon wieder mit einer Zinserhöhung hinterher. Der Effekt ist verpufft, die Glaubhaftigkeit angeschlagen«, sagt Gregor Holek von Raiffeisen Capital Management in Wien. Der Fondsmanager ist unter anderem auf den türkischen Markt spezialisiert. Zudem hagele es nun schlechte Nachrichten, und obendrein verstärke ein hoher Ölpreis die Inflation. »Alles sieht nach einer harten Landung der türkischen Wirtschaft aus.«

 

Das bedeutet: faule Kredite, Firmenpleiten und Entlassungen. Nicht alles an dieser Krise ist hausgemacht. Die Türkei weist seit Jahren ein auch im Vergleich zu anderen Schwellenländern hohes Leistungsbilanzdefizit auf.

 

Weil das Land vor allem aus Russland Energie importiert und im Vergleich dazu wenig exportiert, ist es auf steten Kapitalzufluss angewiesen. Das funktionierte so lange, wie die Zinsen in Europa und den USA extrem niedrig waren. Weil dort kaum Rendite zu holen war, floss das Geld amerikanischer Anleger in riskantere Märkte. Dort freute man sich über das billige Geld. So nahmen türkische Unternehmen vermeintlich günstige Kredite in US-Dollar und Euro auf.

 

Über die Jahre wuchs der Schuldenberg auf rund 250 Milliarden US-Dollar an. Seit der Zinswende in den USA aber hat sich dieser Fluss umgekehrt. Aus riskanten Schwellenländern fließt das Geld zurück in vermeintlich sichere Anlagen, etwa amerikanische Staatsanleihen. Die Währungen geraten unter Druck. Zeitgleich zur türkischen Lira rauschten die Währungen von Argentinien, Vietnam und Indien in den Keller.

 

Viele türkische Unternehmen stehen jetzt vor dem Problem, dass sie ihre Kredite zwar in US-Dollar zurückzahlen müssen, aber nur Lira einnehmen. Die Zinslast, und damit die Kosten der Unternehmen, steigen massiv. Betroffen sind zum Beispiel die großen Einkaufszentren, die in den vergangenen Jahren auch in Provinzstädten wie Diyarbakir im Osten gebaut wurden.

 

Erdoğan gilt als Anhänger einer in Fachkreisen als eher bizarr geltenden Theorie, wonach hohe Zinsen die Inflation nicht eindämmen, sondern im Gegenteil erst verursachen

 

»Da viele Mieter türkische Lira einnehmen, die Geschäftsmieten aber in Euro oder Dollar bezahlen müssen, kommt es jetzt zu ersten Zahlungsausfällen«, erzählt Artuğ Çetin. Er ist CEO des deutschen Immobilienentwicklers Prime Development, der mehrere Einkaufszentren in Anatolien finanziert.

 

Ein beträchtlicher Teil der Krise ist aber eben auch politischer Natur und hätte durch umsichtiges Handeln der Regierung unter Präsident Recep Tayyip Erdoğan vermieden werden können. Der erste Schock für die internationalen Anleger kam mit der Ernennung des neuen Finanzministers. Gehofft hatte man auf Mehmet Şimşek – der ehemalige Merrill-Lynch-Banker und bis Juni auch stellvertretende Premierminister galt als die letzte Bastion wirtschaftlichen Sachverstands in Erdoğans Kabinett. Er wurde ersetzt – ausgerechnet durch Berat Albayrak, Erdoğans Schwiegersohn.

 

Es folgten Ankündigungen des Präsidenten, in Zukunft mehr Einfluss auf die türkische Zentralbank ausüben zu wollen. Erdoğan gilt als Anhänger einer in Fachkreisen als eher bizarr geltenden Theorie, wonach hohe Zinsen die Inflation nicht eindämmen, sondern im Gegenteil erst verursachen. Das mag vom Koran inspiriert sein, wonach das Verlangen von Zinsen als unislamisch gilt, oder schlicht der Tatsache geschuldet sein, dass höhere Zinsen auch das Wirtschaftswachstum drosseln.

 

Im August wechselte Erdoğan dann den stellvertretenden Zentralbankchef aus und ernannte sich anschließend auch noch selbst zum Chef des türkischen Staatsfonds. In dem 2017 ins Leben gerufenen Fonds liegen Anteile zahlreicher türkischer Unternehmen, darunter Turkish Airlines. Seinen Schwiegersohn machte er kurzerhand zum Stellvertreter.

 

Als Auslöser der Krise gilt der Streit um den amerikanischen Pastor Andrew Brunson, der fast zwei Jahre unter abstrusen Vorwürfen inhaftiert war. Die Haft wurde später in Hausarrest umgewandelt. Erst im Oktober kam der Pastor frei und durfte ausreisen. All dies zerstörte das Vertrauen internationaler Anleger und beschleunigte den Kapitalabfluss weiter.

 

Als dann schließlich die Zentralbank die Zinsen Mitte September auf 24 Prozent erhöhte, half das auch nicht mehr viel weiter. Das Vertrauen ist nachhaltig beschädigt und es wird einiges an Anstrengungen bedürfen, um es wiederherzustellen.

 

Auch ein Geschenk vom türkischen Lieblingsverbündeten Katar hat bisher wenig geholfen. Das Emirat sicherte Ankara Investitionen in Höhe von 14 Milliarden US-Dollar zu (obendrauf gab es einen Privatjet für den Präsidenten im Wert von 400 Millionen US-Dollar). Das Geld dürfte in Immobilien und in die ohnehin überhitzte Baubranche fließen.

 

Bisher ist es Erdoğan gelungen, die Krise zu seinen Gunsten zu spielen. Er beschwört den ohnehin latenten Antiamerikanismus im Land und stellt sein Land als Opfer eines »ökonomischen Terrorismus« dar, mit dem die USA die Türkei bedrohten. Von der lahmen Opposition kommt wenig Kritik. Das dürfte sich ändern, wenn in den kommenden Monaten die Finanzkrise auf die Realwirtschaft übergreift und die ersten Firmen Mitarbeiter entlassen werden müssen, um dem Kostendruck zu begegnen.

 

Schon jetzt spüren die türkischen Bürger die Finanzkrise deutlich im Alltag: Das türkische Grundnahrungsmittel heißt Simit, ein mit Sesam bestreuter Weißbrotkringel. Jahrelang kostete das Gebäck eine türkische Lira. An manchen Orten ist der Preis seit Kurzem auf 1,50 Lira gestiegen. Eine ähnliche Preiserhöhung haben die Istanbuler Verkehrsbetriebe vollzogen, der Preis einer einfachen Kurzstrecke stieg von vier auf fünf Lira.

 

Trotzdem reagieren viele Türken noch relativ gelassen auf die aktuelle Situation. »Wir sind Inflation gewohnt«, sagt Mehmet Akkus, ein Immobilienunternehmer aus Istanbul. »Ende der Neunziger lag die Inflation bei über 90 Prozent. Daran können sich die Älteren noch gut erinnern.« Viele würden deswegen ihr Vermögen traditionell in Immobilien und Gold investieren – der beste Inflationsschutz.

 

Doch trotz des Optimismus mancher Istanbuler gibt es keine Anzeichen für eine Entspannung. »Die meisten Analysten gehen mittlerweile von einer graduellen Abwertung der Lira aus«, sagt Fonds-Manager Holek. Bevor es besser wird, muss es schlimmer werden.

Von: 
Philipp Matheis

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