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Erdoğan und Kılıçdaroğlu vor der Stichwahl in der Türkei

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Analyse
Erdoğan und Kılıçdaroğlu vor der Stichwahl in der Türkei
CHP Fotoğraf Servisi

Die türkische Politik ist immer wieder für Überraschungen gut. Dennoch braucht Kemal Kılıçdaroğlu bei der Stichwahl am Sonntag fast schon ein Wunder.

Beinahe hätte Präsident Recep Tayyip Erdoğan die Wahlen schon in der ersten Runde für sich entschieden. Mit 49,5 Prozent der Stimmen blieb der Amtsinhaber nur drei Prozentpunkte unter seinem Ergebnis von 2018 und geht damit als klarer Favorit in die Stichwahl am Sonntag. Seine ohnehin starke Ausgangsposition verbesserte sich sogar noch einmal, da der Drittplatzierte (5,2 Prozent) Sinan Oğan am Montag seine Wählerschaft dazu aufrief, ihr Kreuz bei Erdoğan zu machen.

 

Diese Entscheidung begründete Oğan damit, dass die AKP-geführte »Volksallianz« im Parlament die klare Mehrheit stellt und eine Präsidentschaft Kılıçdaroğlus damit zu politischer Instabilität führen würde. Auch wenn zu erwarten war, dass die Regierung dieses Argument für sich nutzen wird, ist diese Erklärung wenig überzeugend. Einerseits stellt sich die Frage, wieso der parteilose Oğan überhaupt als Kandidat angetreten ist. Die rechte Ata-Allianz, die ihn nominierte, konnte nämlich wie erwartet keine Sitze im Parlament gewinnen. Andererseits sind dem Präsidenten seit der Verfassungsänderung 2018 umfassende Kompetenzen eingeräumt, sodass Kılıçdaroğlu größtenteils am Parlament vorbeiregieren und darüber hinaus auch Neuwahlen ansetzen könnte.

 

Es ist wahrscheinlicher, dass Oğan die eigene politische Karriere vorantreiben möchte – und die Chancen dafür stehen besser auf der Seite des Siegers. Türkische Journalisten spekulieren, dass er plant, mit Erdoğans Hilfe den 75-jährigen Devlet Bahçeli bald als MHP-Vorsitzenden abzulösen. Der führt die den Grauen Wölfen nahestehende Partei bereits seit 1997. Auch Oğan war von 2011 bis 2015 Abgeordneter für die MHP im türkischen Parlament. Sein Zerwürfnis mit Bahçeli führte allerdings dazu, dass er gleich zweimal aus der Partei herausgeschmissen wurde.

 

Kılıçdaroğlus neue Strategie: YouTube und Hetze gegen Flüchtlinge

 

Für Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu stehen die Vorzeichen dementsprechend schlecht. Sein Wahlkampf über Twitter, oppositionelle TV-Sender und Wahlkundgebungen kam bei der eigenen Anhängerschaft zwar sehr gut an, erreichte aber letztlich nicht genügend Wähler. Auch die ehemaligen AKP-Spitzenpolitiker Ahmet Davutoğlu und Ali Babacan sowie die islamistische Saadet-Partei konnten die Lücke nicht füllen und etwa unter »besorgten Konservativen« Vertrauen in die kemalistische CHP schaffen. Um vor allem junge Leute anzusprechen und von sich zu überzeugen, nahm Kılıçdaroğlu daher am Format »Offenes Mikrofon« des YouTubers Oğuzhan Uğur teil.

 

Dort stellten ihm Anhänger seiner politischen Gegner stundenlang teils ziemlich aggressive Fragen. Kılıçdaroğlus Auftritt ist seit Mittwochabend online. Das vierstündige Video erhielt bereits bis zum nächsten Morgen mehr als 10 Millionen Klicks. Vor der Wahl hatte auch Oğan sehr von dem Format profitiert. Seine Folge wurde mehr als 14 Millionen Mal aufgerufen.

 

Der Oppositionskandidat fokussiert sich außerdem inzwischen fast nur noch auf ein Thema: Flüchtlinge. »Die Syrer werden gehen!«, so steht es neben einem grimmig schauenden Kılıçdaroğlu auf einer landesweiten Plakatkampagne. In einem Video kündigte er an, die »10 Millionen Syrer« aus dem Land zu werfen und versprach außerdem, das Ganze innerhalb eines Jahres umzusetzen. Dabei erklärt der CHP-Vorsitzende weder, woher er diese Zahl hat – offiziell leben etwa 3,5 Millionen Syrer in der Türkei – noch wie diese Rückführung genau aussehen soll.

 

Wirtschafts- und Flüchtlingspolitik sind die einzigen Themen, bei denen die Regierung tatsächlich angreifbar ist. Neu ist der Anti-Flüchtlinge-Kurs Kılıçdaroğlus nicht, bisher fokussierte er sich im Wahlkampf jedoch vor allem auf die Wirtschaftskrise. Das liegt zum einen daran, dass harte Rhetorik gegen Flüchtlinge kaum zur Rhetorik der »radikalen Liebe« passt, zum anderen daran, dass Davutoğlu 2016 als Premierminister das Flüchtlingsabkommen mit der EU aushandelte und auch andere Partner am Sechsertisch sich gegen die Rückführung der mehr als 3,5 Millionen Syrer aussprechen.

 

Kılıçdaroğlus Motivation ist klar: Für den 74-Jährigen geht es darum, alle Wähler seines nationalistischen Bündnispartners İYİ-Partei und der ultranationalistischen Zafer-Partei für sich zu gewinnen. Dafür sicherte Kılıçdaroğlu sich unter anderem auch die Unterstützung Ümit Ozdağs, also des Vorsitzenden der Zafer-Partei, der seit Jahren vor allem mit ungezügelter Hetze gegen die Flüchtlinge im Land auffällt.

 

Kann Kılıçdaroğlu noch gewinnen?

 

Für Amtsinhaber Erdoğan waren die Wahlen am 14. Mai ein großer Erfolg. Dank seines Charismas und seines Wahlkampfs mit unfairen Mitteln hat der Präsident trotz der zahlreichen Krisen kaum an Unterstützung eingebüßt. Für ihn geht es vor allem darum, seine Wähler erneut zu mobilisieren. Dass auch an der Basis eine gewisse Unzufriedenheit herrscht, zeigt sich daran, dass die AKP bei den Parlamentswahlen zum zweiten Mal hintereinander knapp sieben Prozentpunkte verloren hat. Trotzdem ist davon auszugehen, dass auch die Wähler der anderen Parteien des Bündnisses wieder zur Urne ziehen. Dann wäre Erdoğan kaum zu schlagen.

 

Ob Oğans Wählerschaft seinem Aufruf in Massen folgt, ist dagegen fraglich. Bis vor wenigen Wochen war er kein politischer Faktor. Für viele Protestwähler sowie ehemalige İnce-Anhänger bot er allerdings eine attraktive Alternative. Der Großteil seiner Stimmen stammt vermutlich von İYİ- und Zafer-Wählern. Erdoğans Vorsprung in der ersten Runde war jedoch so groß, dass es ihm schon reichen würde, wenn nur eine Minderheit zu ihm wechseln oder zuhause bleiben würde.

 

Auch für Kılıçdaroğlu geht es in erster Linie darum, die eigenen Wähler erneut zu mobilisieren. Das gestaltet sich für ihn jedoch schwieriger als für den Präsidenten. Aus Sicht der Anhänger Kılıçdaroğlus fielen die Ergebnisse der Parlaments- und Präsidentschaftswahlen sehr ernüchternd aus. Die Aussichten auf den erhofften Sieg sind gering. Um den Glauben daran wieder zu stärken, spielt der CHP-Vorsitzende auch mit dem Narrativ, dass es bei der Stimmenauszählung zu Ungereimtheiten kam.

 

Denn obwohl die Opposition jahrelang Zeit hatte, war sie nicht gut vorbereitet und arbeitete am Wahlabend wohl mit falschen Zahlen. Teilweise wurden noch am Morgen Wahlbeobachter gesucht und es ist nicht ganz klar, ob das Bündnis an all den 191.885 Urnen im Land vertreten war. Daher rief der Kandidat der »Allianz der Nation« für die Stichwahl dazu auf, eine Million Beobachter zu stellen. Indizien oder gar Beweise für Fälschungen im großen Rahmen gibt es allerdings nicht. Gerade in CHP-Hochburgen konnte Erdoğan seine Ergebnisse von 2018 sogar fast replizieren.

 

Die Einbindung von Ümit Özdağ ist zudem ein großer Geduldstest für Kılıçdaroğlus kurdische Wähler. Im Wahlkampf traf Özdağ auf eine junge Frau, die sich als Wählerin der pro-kurdischen HDP bekannte. Seine Reaktion: »Du siehst gar nicht aus wie eine Mörderin.« Özdağ setzt sich zudem dafür ein, weiterhin gewählte HDP-Lokalpolitiker mit Beamten zu ersetzen und brachte sich selbst als Innenminister ins Spiel.

 

Obwohl HDP-Unterstützer wahrscheinlich etwa ein Fünftel der Wähler Kılıçdaroğlus ausmachten, traf er sich lediglich einmal mit der Parteiführung. Auch die Zugeständnisse gegenüber seinen kurdischen Wählern sind sehr allgemein gehalten, Ministerien stehen gar nicht zur Debatte. Der nationalistische Ton, die Treffen mit Özdağ sowie die Tatsache, dass diesmal nur Kılıçdaroğlu – und nicht auch die eigene Partei – auf dem Wahlzettel stehen, bergen die Gefahr einer niedrigeren Wahlbeteiligung.

 

Die türkische Politik ist immer wieder für Überraschungen gut. Was Kılıçdaroğlu braucht, ist jedoch fast schon ein Wunder. Wenn die Stichwahl am 28. Mai halbwegs normal verläuft, geht Erdoğan in seine dritte Amtszeit als Präsident. Am wahrscheinlichsten ist ein Sieg mit ein paar Prozentpunkten Vorsprung, wobei der AKP-Vorsitzende sich ein möglichst starkes Mandat erhofft. Für seinen Herausforderer muss hingegen am Sonntag alles perfekt laufen: Die eigene Wählerbasis von türkischen Nationalisten bis linken Kurden muss abermals mobilisiert werden, die Oğan- und İnce-Wähler müssen ihn nahezu vollständig unterstützen und am besten müsste auch noch ein Teil der MHP-Wähler zumindest zu Hause bleiben oder gar seinen Anti-Flüchtlings-Kurs unterstützen.

Von: 
Marc Imperatori

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