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Die Zivilgesellschaft im Nahost-Konflikt und das Ende der Zweistaatenlösung

Unter BDS-Verdacht

Kommentar
Stadtansicht Nablus
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Wer eine dialogorientierte Lösung des Nahostkonflikts will, hat es zunehmend schwer. Zwischen BDS und der Regierung Netanjahu wird jeder, der den leisesten Zweifel erregt, zum Feind erklärt.

Der Anruf aus Deutschland kommt etwa hundert Meter vor dem Checkpoint Beit El am nördlichen Ausgang Ramallahs. »Hast Du die Mail nicht gesehen? Es ist dringend. Arbeiten wir mit einer dieser Organisationen zusammen?« Die Antwort lautet Nein. Aber die Situation könnte den eingeschränkten Spielraum für zivilgesellschaftliches Engagement im israelisch-palästinensischen Konflikt symbolisch nicht besser beschreiben.

 

Das Auto ist seit einer Stunde eingeklemmt in der Schlange am Checkpoint, mit dem die israelische Armee den Weg nach und aus Ramallah wahlweise abriegeln kann. Bei diesem Tempo wird es sicher noch eine weitere Stunde brauchen, bis der Weg ins zehn Kilometer entfernte Jerusalem frei ist. Dort wiederum nahm die eilige Anfrage aus Deutschland ihren Ursprung, genauer im israelischen Ministerium für Strategische Angelegenheiten.

 

Ursprünglich 2006 ins Leben gerufen, um für den rechtsnationalistischen Politiker Avigdor Liberman einen Ministerposten zu schaffen, erfreut sich das Ministerium in der Regierung Netanjahu großer Beliebtheit. Es hat sich auf Lobbyarbeit gegen Länder, Bewegungen und Nichtregierungsorganisationen, die die israelische Regierung als strategische Bedrohungen wahrnimmt, spezialisiert.

 

In der Praxis sieht das dann so aus: Das Ministerium verfasst einen plakativen Bericht mit dem Titel »Terrorists in suits«, in dem es palästinensischen Nichtregierungsorganisationen Verbindungen zu Organisationen wie der Hamas oder der Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP) unterstellt; beide sind von der Europäischen Union als Terrororganisationen gelistet. Auch wenn der Bericht keine wirklichen Beweise dafür vorlegt, gibt sein Entstehungsort, ein israelisches Ministerium, ihm genug Gewicht, ihn nicht ignorieren zu können. Und so wandert der Rufmord über Abgeordnete im Deutschen Bundestag, über eine Anfrage beim Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) dann schließlich zu einer deutschen Organisation, die mit palästinensischen Nichtregierungsorganisationen zusammenarbeitet.

 

Die Dynamik ist so verständlich wie vorhersehbar. Wer möchte denn dafür verantwortlich sein, dass deutsche Steuergelder in die Hände von Terroristen geraten? Die Autoren eines solchen Berichts wissen genau, dass sie nur gewinnen können. Entweder wird die Förderung von oder Zusammenarbeit mit unliebsamen Organisationen eingestellt, oder es entsteht permanenter Rechtfertigungsdruck für die zusammenarbeitenden Organisationen, der Ressourcen bindet. Ähnlich toxisch wie eine Verbindung zu Terroristen ist die mögliche Unterstützung von Antisemiten.

 

So ist zu erklären, dass die Bewegung BDS (Boycot, Disinvestment, Sanctions), die in Deutschland kaum eine Rolle spielte, zum großen Thema im Bundestag wurde. Die Abgeordneten verabschiedeten einen Antrag, der die Bewegung, die mit Boykottaufrufen gegen die israelische Besatzung kämpft, als antisemitisch einstuft und die Bundesregierung auffordert, die Finanzierung von Organisationen, die BDS aktiv unterstützen, einzustellen. Zahlreiche israelische und jüdische Holocaust- und Antisemitismusforscher, die deutschen politischen Stiftungen in Israel und Palästina und renommierte deutsche Nahostwissenschaftler hatten vor diesem Schritt gewarnt.

 

Der Hintergrund: Die Sache ist leider sehr viel komplizierter als etwa das israelische Ministerium für strategische Angelegenheiten oder der israelische Lobbyverein NGO Monitor diese darstellen. BDS wurde 2005 von 171 palästinensischen Nichtregierungsorganisationen als gewaltfreie Form des Protests gegen die Besatzung gegründet und fordert die Einhaltung internationalen Rechts, und keineswegs Israels Vernichtung, wie dies in häufigen Dämonisierungen der Bewegung behauptet wird. Auch wenn es sicher im weltweiten Netzwerk von BDS Antisemiten gibt, so distanziert sich die Bewegung in Palästina dezidiert von jeder Form von Diskriminierung, darunter Antisemitismus. Die pauschale Gleichstellung von BDS mit Antisemitismus kommt einer kollektiven Kriminalisierung der palästinensischen Zivilgesellschaft gleich und setzt sämtliche deutsche Organisationen unter Druck, die in Palästina entwicklungspolitisch arbeiten.

 

Wer nur den leisesten Zweifel erregt, wird zum Feind erklärt.

 

Zwar haben deutsche Organisationen auch vor dem Bundestagsbeschluss die BDS-Bewegung nicht als solche unterstützt, das versteht sich aus der deutschen Geschichte und der besonderen Beziehung zu Israel. Allerdings schätzte die Bundesregierung BDS bisher als nicht per se antisemitisch ein und sah die Bewegung von der Meinungsfreiheit gedeckt, das geht aus Protokollen von BMZ-Ländergesprächen hervor. Diese Position stellt der Bundestagsbeschluss nun in Frage und wird von der israelischen Regierung als strategischer Erfolg gefeiert: Der Deutsche Bundestag bezeichnet eine weltweite Protestbewegung gegen die israelische Besatzungspolitik als antisemitisch, ohne die Besatzung auch nur mit einem Wort zu erwähnen.

 

Der israelische Minister für Strategische Angelegenheiten beglückwünschte Deutschland zu diesem Beschluss. Der Lobbyverein NGO Monitor feierte sich in seinem Newsletter selbst, die Arbeit spiegele sich im Bundestagsbeschluss wider. Offen zu Tage getreten war die Arbeit von NGO Monitor nur in dem Antrag der AFD, in dem die Lobbyorganisation wörtlich zitiert wird, und beispielsweise die deutschen Politischen Stiftungen in die Nähe von Terrororganisationen gerückt werden.

 

Das deutsche Ansehen hat in Palästina durch den Bundestagsbeschluss massiv gelitten. In der BDS Bewegung hat dieser eher eine Trotzreaktion hervorgerufen. In friedlichem Protest überreichte die Bewegung einen Protestbrief an den Leiter des deutschen Vertretungsbüros in Ramallah. Für den Frieden in der Region ist das vielleicht noch die beste Reaktion. Angesichts der immer aussichtsloseren Situation der Palästinenser unter Besatzung hätte eine Kriminalisierung einer gewaltfreien Form des Protests auch bedeuten können, zum gewaltvollen Kampf aufzurufen.

 

Für Kräfte, die an einer dialogorientierten und friedvollen Lösung des Konflikts interessiert sind, wird es immer schwieriger. Zumal wenn sich internationale Vermittler durch ihre Handlungen selbst disqualifizieren. Denen, die sagen, man könne durch Dialog etwas erreichen, gehen nach 52 Jahren Besatzung in Palästina langsam die Argumente aus.

 

Und so werden beispielsweise deutsche politische Stiftungen nicht nur von rechten Ideologen in Israel unter Druck gesetzt, sondern auch von einer breit angelegten Anti-Normalisierungsbewegung in Palästina, wozu auch BDS zählt. Projekte, die einen Austausch zwischen Israelis und Palästinensern vorsehen, werden auf die eine oder andere Weise bekämpft. So werden beispielsweise Hotels und andere Anbieter von Veranstaltungsräumen unter Druck gesetzt, dort keine Dialogveranstaltungen zu erlauben, oder Veranstaltungen werden medienwirksam von Krawallmacher gestört.

 

Das Klima hat sich also grundlegend verändert. Solange die Zweistaatenlösung noch eine ernsthafte Perspektive darstellte, war Zivilgesellschaft etwas, was von allen Seiten begrüßt wurde und gestärkt werden sollte. Nun werden zivilgesellschaftliche Organisationen genau unter die Lupe genommen, ob sie im Konflikt auf der vermeintlich richtigen Seite stehen. Wer nur den leisesten Zweifel erregt, wird zum Feind erklärt.

 

Im Fall des Direktors des Jüdischen Museums in Berlin reichte ein Tweet seines Teams, der auf eine Petition von 240 israelischen und jüdischen Wissenschaftlern verwies, die sich kritisch mit dem Bundestagsbeschluss zu BDS beschäftigte, dass er seinen Hut nehmen musste. Dabei war es egal, dass er sich erklärte und eine BDS-Unterstützung von sich wies. Der andauernde Konflikt hat eine Hypersensibilität geschaffen, die jeden mit Kontakt zum vermeintlichen Feind – und sei es des kontroversen Austausches wegen – verurteilt.

 

In diesem Umfeld wird es schwer für Brückenbauer. Das System der erzwungenen Trennung, das viele Kritiker in der von Siedlungen zerklüfteten Westbank entstehen sehen, in den Köpfen ist es bereits da.

 

Der Autor ist Mitarbeiter/in einer deutschen Organisation in den besetzten palästinensischen Gebieten und schreibt unter Pseudonym. Der Name ist der Redaktion bekannt.

Von: 
Georg Kaiser

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