Ankaras Intervention in Nordsyrien mischt die Karten neu. Das Assad-Regime, kurdische und sunnitische Milizen bringen sich in Stellung für die nächste Stufe des Bürgerkriegs.
Mitte August flammten in Hasakah bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen den kurdischen Selbstverteidigungseinheiten (YPG), ihren Sicherheitskräften (den sogenannten Asayesh) und Pro-Assad-Milizen neu auf. Innerhalb kurzer Zeit eskalierte der Konflikt: Tausende Bewohner der Stadt im Nordosten Syriens flohen vor den schweren Gefechten und der syrischen Luftwaffe, die zum ersten Mal in dem seit 2011 tobenden Krieg kurdische Siedlungsgebiete bombardierte. Nach einer Woche konnte die YPG einen Waffenstillstand zu ihren Gunsten aushandeln, der die ohnehin bestehende Vormachtstellung der Kurden zementiert.
Einen Tag später eroberten syrische Rebellen in einer Blitzoffensive mit Hilfe türkischer Panzer, sowie Luftunterstützung durch die Türkei und die USA, die vom sogenannten »Islamischen Staat« (IS) gehaltene Grenzstadt Jarabalus. Dabei wurden nicht nur die Dschihadisten des IS vertrieben – die sich wohlwissend ohne großen Widerstand zurückzogen – sondern auch die Kurden in ihrem Vormarsch gestoppt. Wenige Tage zuvor hatte Washington noch indirekt dem syrischen Regime gedroht, man werde keine Luftangriffe auf die Region um Hasakah tolerieren. US-Spezialeinheiten führen dort gemeinsam mit der YPG den Kampf gegen den IS an. Bezogen auf Jarabulus erteilte Vize-Präsident Joe Biden den Kurden jedoch eine Absage: Die YPG werde keinerlei Unterstützung mehr erhalten, falls sie westlich des Euphrats weiter vorstoße, drohte er bei einem Besuch in Ankara.
Washingtons Strategie gegen den IS ist nachhaltig gefährdet.
Die Ereignisse in Hasakah und Jarabulus könnten nicht nur das folgenreiche Ende des Nichtangriffspakts zwischen den Kurden und dem Assad-Regime bedeuten. Washingtons Strategie gegen den IS ist nachhaltig gefährdet, während die Zeichen zwischen den sunnitischen Rebellen und den Kurden auf Eskalation stehen. Ankara hingegen hat geschickt Fakten geschaffen: Die seit langem gewünschte Pufferzone zwischen den kurdischen Kantonen ist vorerst Realität. Die bewaffnete sunnitische Opposition scheiterte von Beginn an daran, in der Provinz Hasakah Fuß zu fassen. Die Gründe dafür liegen nicht nur im hohen Anteil kurdischer Bevölkerung, sondern vor allem in Spannungen, die schon seit 2004 andauern. Angespornt durch die Entwicklungen hin zur Souveränität der Kurden im Nordirak wurden damals auch in Syrien Rufe nach Unabhängigkeit laut. Während eines Fußballspiels in Qamishli kam es zu Auseinandersetzungen zwischen kurdischen Fans und Unterstützern eines arabischen Teams aus Deir ez-Zor, in denen sich der seit Monaten zuspitzende Konflikt entlud.
Das Assad-Regime hat seine Enklave in Hasakah verloren
Daraufhin feuerten syrische Sicherheitskräfte mit scharfer Munition in die Menge und töteten sieben Kurden. Bei einer Beerdigung am Folgetag schossen die Sicherheitskräfte erneut und provozierten damit brutale Ausschreitungen in Qamishli und anderen kurdischen Städten. Die syrische Armee rückte mit Panzern vor und umkreiste die Stadt. Unterstützt wurde sie dabei von sunnitischen Stammesmilizen, die zuvor von der Regierung bewaffnet worden waren – deren Unterstützung bei der Niederschlagung ihrer »Mini-Revolution« haben die Kurden nicht vergessen. Im Laufe des Jahres 2013 wurden Einheiten der Freien Syrischen Armee, die Islamisten von Ahrar Al-Sham und die Dschihadisten der Nusra-Front dann von der YPG, Pro-Assad-Milizen und dem IS aus der Region vertrieben. Während die YPG seither einen fortdauernden Kampf gegen den IS führt, hielt das syrische Regime Teile der bedeutenden Städte Hasakah und Qamishli unter Kontrolle.
Innerhalb des vergangenen Jahres gelang es der YPG mit Hilfe von Luftunterstützung durch die USA, den IS zurückzudrängen. Es besteht kein Zweifel, dass die syrischen Kurden die Region um Hasakah beanspruchen. Erst Ende Juni wurde die nahe gelegene Stadt Qamishli zur Hauptstadt Rojavas – der kurdischen Bezeichnung für die de facto autonomen Gebiete im Norden Syriens – erklärt.
Die jüngsten Auseinandersetzungen in Hasakah begannen mit vereinzelten Feuergefechten zwischen Pro-Assad-Milizen und den Sicherheitskräften der Asayesh. Beide Parteien beschuldigten sich, Checkpoints der Gegenseite angegriffen zu haben. Nach einigen Tagen gelang es den Asayesh und der YPG, die Milizen einzukreisen: Über Lautsprecher-Ansagen forderten sie ihre Gegner auf, die Waffen niederzulegen. Andernfalls stehe ihnen der Tod bevor. Zwei ausgerufene Waffenstillstände scheiterten und auch eine Delegation aus Moskau vermochte es nicht, ein Ende der Kämpfe zu erreichen. Am 23. August verkündete die YPG dann schließlich einen Waffenstillstand samt Konditionen, die sich eher wie eine Kapitulationserklärung des syrischen Regimes lesen. Sowohl dem syrischen Militär als auch den verbündeten Milizen ist nun der Zugang zur Stadt verboten. Dem Regime von Präsident Baschar Al-Assad bleibt lediglich ein kleines Gebiet im Kern Hasakahs. Die Partei der Demokratischen Union (PYD) samt ihres bewaffneten Arms, der YPG, kontrolliert nun über 95 Prozent der Stadt und festigt ihren Anspruch auf die Provinz – samt ihrer immensen Öl- und Gasvorkommen.
Die Kurden sehen die Kämpfe als Zeichen einer Annäherung zwischen der Türkei, Iran und dem Assad-Regime. Berichten zufolge wurden die Kämpfe in Hasakah auf Seiten des Regimes von Iranern angeführt und von der Hizbollah unterstützt. Ziel sei es, die kurdischen Gebietsgewinne im Norden Syriens zu verhindern. Die Regierung in Ankara betrachtet die PYD als Teil der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) und will um jeden Preis verhindern, dass die syrischen Kurden ihre drei Kantone verbinden und Rojava eine territoriale Einheit wird.
Die Sorge der Kurden bewahrheiteten sich kurz darauf: In der Nacht zum 24. August begann die Türkei mit Luftangriffen auf Stellungen des IS rund um Jarabulus, die letzte vom IS kontrollierte Grenzstadt nahe der Türkei, westlich des Euphrats. Erstmals sind dabei türkische Panzerverbände und Spezialeinheiten auf syrisches Territorium vorgerückt, um eine Offensive von rund 5.000 Rebellen zu unterstützen. Kurdische Quellen haben gemeldet, dass dabei auch die YPG ins Visier geriet, deren Einheiten südlich und östlich der Stadt stationiert sind und kurze Zeit zuvor die strategisch wichtige Stadt Manbij eroberten. Die Türkei betrachtete die Überquerung des Euphrats stets als rote Linie kurdischer Expansion. Entsprechend richtet sich die Operation »Euphrates Shield« mindestens gleichermaßen gegen die Kurden wie den IS.
»Euphrates Shield« genießt Rückendeckung aus Washington. US-Kampfflugzeuge unterstützten den Vormarsch auf Jarabulus, während Vize-Präsident Joe Biden bei einem Besuch in Ankara drohte, die YPG werde keine Unterstützung mehr erhalten, falls sie westlich des Euphrats vorrücke. Washington geht mit diesem Schritt auf eine Kernforderung der Türkei ein. Die Botschaft ist eindeutig: Die Interessen der Türkei haben gegenüber denen der Kurden letztlich Priorität. Dabei hat Washington der YPG und später den »Demokratischen Kräften Syriens« (SDF) – ein von der YPG dominiertes Bündnis mit assyrischen Milizen sowie wenigen sunnitischen Arabern – seit Ende 2014 intensive politische, logistische und finanzielle Unterstützung zukommen lassen. Ohne diese Unterstützung hätte die YPG den Euphrat womöglich gar nicht erst erreicht. Wenige Tage zuvor waren US-Kampfflieger sogar über Hasakah aufgetaucht – als Warnung an die syrischen Luftwaffe: Man werde die Gefährdung von US-Spezialeinheiten, die gemeinsam mit der YPG gegen den IS vorgehen, nicht dulden.
Washingtons Spagat – Ankaras Triumph
Washingtons Tanz auf mehreren Hochzeiten scheint vorerst ein Ende zu Ungunsten der Kurden gefunden zu haben. Letzteren scheint, eine Kontinuität kurdischer Geschichte, kein verlässlicher Partner zu bleiben. Selbst die syrische Regierung und die Türkei verfolgen, bezogen auf die Kurden, ähnliche Interessen, nämlich deren Autonomiebestrebungen zu verhindern. Ankara käme ein Ende des Nichtangriffspaktes zwischen dem syrischen Regime und den Kurden mehr als gelegen. Berichte über ein abgestimmtes Vorgehen zwischen Ankara und Damaskus in Hasakah und Jarabulus bleiben Spekulation. Bemerkenswert ist jedoch, dass der türkische Ministerpräsident Binali Yıldırım von seiner bisher kompromisslosen Position abrückte, Präsident Assad müsse abtreten. Vor Journalisten erklärte er, Assad könne für eine Zwischenzeit im Amt bleiben.
Tatsächlich hat die türkische Regierung jedoch geschickt taktiert, um die bereits Mitte 2015 angedachte Pufferzone im Norden Syriens zu realisieren. Diese war damals am Widerstand der USA gescheitert. Die medial groß inszenierte Wiederannährung an Moskau und den Iran hat Washington jedoch offenbar zu Zugeständnissen gegenüber Ankara genötigt. »Der vorläufige Gewinner ist Präsident Erdogan«, meint Scott Lucas, Professor für Internationale Politik an der Universität Birmingham. »Viele Beobachter haben die ›Versöhnung‹ mit Russland als Kapitulation gegenüber Moskau und Teheran gesehen, sodass Assad langfristig an der Macht bleiben könne. Tatsächlich jedoch hat Erdogan Russland und den Iran gegen die USA ausgespielt und sich selbst den politischen Raum für eine Intervention geschaffen, die Moskau und Teheran genauso überrascht hat wie das Assad-Regime.«
Zwar hat der IS mit Manbij und Jarabulus eine wichtige Versorgungslinie in die Türkei verloren, profitiert aber dennoch maßgeblich von der neuen Situation. Im Bewusstsein ihrer militärischen Unterlegenheit haben die Dschihadisten sich ohne große Verluste aus Jarabulus zurückgezogen. Nun können sie aus sicherer Entfernung zusehen, wie die türkische Armee, die SDF und syrische Rebellen sich gegenseitig bekämpfen. Letztere planen, eine Verbindungslinie zwischen Jarabulus, Marea und Azaz zu sichern, um dann auf die vom IS gehaltene Stadt Al-Bab vorzurücken. Al-Bab haben auch die Demokratischen Kräfte Syriens im Visier – der Wettlauf auf die letzte größere, vom IS gehaltene Stadt im Umland von Aleppo hat bereits begonnen.