Lesezeit: 14 Minuten
Die Auswirkungen des Ukraine-Kriegs auf Syrien

Wie Russlands Krieg nun Syrien trifft

Analyse
von Sam Heller
US-Militärkonvoi in Nordostsyrien
Foto: Army Staff Sgt. 1st Class Curt Loter US-Verteidigungsministerium

Weizen- und Energiepreise, diplomatische Sackgasse, Gefahr neuer Kämpfe: Die Folgen des Kriegs in der Ukraine sind für Syrien katastrophal und drohen, noch schlimmer zu werden.

Der Einmarsch Russlands in die Ukraine hat auf der ganzen Welt für Erschütterungen gesorgt. Der Krieg hat sich auch auf die internationale Politik, die globalen Finanznetze und Rohstoffmärkte ausgewirkt, mit gefährlichen Folgen gerade für die Ärmsten und Schwächsten der Welt. Syrien ist hierbei besonders anfällig.

 

Die Berichterstattung über die Zusammenhänge konzentriert sich weitgehend darauf, wie Russlands Vorgehen in Syrien jenes in der Ukraine vorweggenommen hat. Man liest auch Berichte darüber, dass Syrer für den Einsatz auf russischer Seite rekrutiert werden könnten. Der Krieg in der Ukraine trifft Syrien allerdings auch auf andere, direktere Weise.

 

Erstens werden die globalen wirtschaftlichen Folgen dieses Kriegs das Leid in Syrien weiter verschlimmern, einschließlich der bereits jetzt gravierenden Nahrungsmittelknappheit. Und zweitens markiert der Krieg das scheinbare Ende des amerikanisch-russischen Dialogs über humanitäre Fragen in Syrien. Die Aussetzung dieser bilateralen Gespräche könnte darüber hinaus aber auch weitreichendere politische Folgen haben. Kompromisse hingen zuletzt von einem amerikanisch-russischen Dialog ab, der nun angesichts des russischen Überfalls auf die Ukraine unmöglich erscheint.

 

Da sich die weltweite Aufmerksamkeit nun auf den neuen Konflikt in Europa konzentriert, rutschen langwierige Krisen wie die in Syrien auf der Prioritätenliste der politischen Entscheidungsträger immer weiter nach unten - gerade jetzt, wo die Bedingungen für die Menschen in Syrien sich erneut verschlechtern.

 

Das Gespenst des Hungers

 

Die Vereinten Nationen schätzen, dass von den 21,7 Millionen Einwohnern Syriens 14,6 Millionen humanitäre Hilfe benötigen. Etwa 12 Millionen gelten als ernährungsgefährdet, was bedeutet, dass ihnen der sichere Zugang zu ausreichend nährstoffreichen Lebensmitteln fehlt.

 

Das Land leidet bereits seit mehr als zwei Jahren unter einer Hungerkrise. Die Zahl der Syrer, deren Nahrungsmittelversorgung nicht gesichert ist, stieg 2020 im Vergleich zum Vorjahr um 4,5 Millionen Menschen (57 Prozent). Die Ursache dafür liegt in einem Zusammenspiel der Katastrophen: Der wirtschaftliche Zusammenbruch im benachbarten Libanon, die Covid-19-Pandemie und die Verschärfung westlicher Sanktionen. Der Wert der syrischen Lira stürzte ab, was einen Kaufkraftverlust unter der Bevölkerung zur Folge hat. Außerdem litt das Land unter einem Mangel an wichtigen Rohstoffen, da es der syrischen Regierung an finanziellen Mitteln fehlte, Treibstoff und Weizen zu importieren.

 

Die Hungerkrise war jedoch weniger eine Frage der Verfügbarkeit, also des tatsächlichen Angebots dieser Waren auf syrischen Märkten, sondern vor allem eine Frage des Zugangs. Während 2019 das durchschnittliche Haushaltseinkommen und Ausgaben fast gleich hoch waren, überstiegen 2021 die Ausgaben das Einkommen um 49 Prozent. Dieses Defizit führt dazu, dass die Menschen in Syrien sich weniger Nahrungsmittel leisten können, und sogar auf Kinderarbeit und Kinderheirat zurückgreifen, um an Geld zu kommen.

 

Der Krieg hat die Lebensmittelmärkte erneut erschüttert

 

Schon vor dem Einmarsch Russlands in die Ukraine hatten die weltweiten Lebensmittelpreise unter anderem wegen der Pandemie und Problemen in der Versorgungskette Rekordhöhen erreicht. Nun hat der Krieg den Lebensmittelmärkten einen neuen Schock versetzt. Beide Länder liefern zusammen 30 Prozent des weltweiten Weizens, dazu kommen große Anteile der globalen Lieferungen von Mais, Gerste und Sonnenblumenöl. Seit Februar blockiert Russland ukrainische Exporte über das Schwarze Meer. Russland selbst hingegen kann aufgrund der Folgen westlicher Finanzsanktionen kaum noch exportieren. Dementsprechend sind die Preise dramatisch gestiegen. Der Krieg wird darüber hinaus auch die künftige landwirtschaftliche Produktion beeinträchtigen. Er trifft die ukrainischen Landwirte direkt, während Russland der weltweit größte Exporteur von Düngemitteln ist. Der Preis für Treibstoff, ein weiterer wichtiger Rohstoff für Landwirte, ist ebenfalls in die Höhe geschnellt.

 

Jeder Preisanstieg bei diesen Rohstoffen trifft die syrische Bevölkerung erheblich, denn zur Herstellung von Fladenbrot, das den Kern der Ernährung ausmacht, müssen große Mengen an Weizen importiert werden. Auch Sonnenblumenöl ist ein Grundnahrungsmittel der syrischen Küche. Humanitäre Organisationen sind der Ansicht, dass die unsichere Ernährungslage in Syrien weiterhin eine Frage des Zugangs – und nicht der Verfügbarkeit – bleibt, solange nicht weitere Länder Exportverbote verhängen. Steigen die Lebensmittelpreise aber weiter, wird dies jene 12 Millionen Menschen in Syrien gefährden, die derzeit von Ernährungsunsicherheit betroffen sind, und könnte zusätzlich weitere 1,9 Millionen Syrer in die Ernährungsunsicherheit treiben.

 

Die konkreten Folgen werden je nach Region unterschiedlich sein. Was den Weizen betrifft, so schätzte die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) den Gesamtbedarf Syriens für 2022 auf 4,3 Millionen Tonnen. Doch Syriens Getreideernte im vergangenen Jahr war aufgrund unzureichender Regenfälle und hoher Kosten für Produktionsmittel historisch schlecht. Lag die durchschnittliche Weizenproduktion des Landes vor 2011 bei 4,1 Millionen Tonnen jährlich, so wird sie für das vergangene Jahr lediglich auf etwas mehr als 1 Million Tonnen geschätzt.

 

Und selbst diese geringe Menge wird nicht gleichmäßig verteilt, denn 70 Prozent der syrischen Weizenproduktion stammen aus Gebieten, die nicht unter Kontrolle der Regierung in Damaskus sind, in denen allerdings nach einer aktuellen Schätzung mehr als 60 Prozent der Bevölkerung leben. Um diese Menschen zu ernähren, hat Damaskus keine andere Wahl als zu importieren.

 

Regierungsbeamte haben die Befürchtungen einer Brotknappheit heruntergespielt und erklärt, dass die vorhandenen Weizenreserven und die vertraglich vereinbarten Importe für den Rest des Jahres ausreichen. Der Minister für Binnenhandel und Verbraucherschutz hat zudem erklärt, dass die westlichen Sanktionen kein Hindernis für die überwiegend russischen Weizenimporte des Landes darstellen. Nach Angaben des Wirtschaftsministers importiert Damaskus monatlich 180.000 Tonnen Weizen. Es bleibt jedoch abzuwarten, ob die stark steigenden Weizenpreise die bestehenden Verträge gefährden könnten.

 

Der Leiter der Syrischen Getreideverwaltung sagte zwar, dass Russland weiterhin Weizen zu den zuvor vereinbarten Preisen liefere, fügte allerdings hinzu, dass Syrien auch nach alternativen Lieferanten suche, da steigende Kosten für die Transportversicherung die Importe verteuert hätten. Die FAO hatte zuvor prognostiziert, dass die syrische Regierung für das Jahr 2021-22 rund 1 Million Tonnen Weizen importieren wird, was immer noch ein ungedecktes Defizit von 1,9 Millionen Tonnen für den gesamten Inlandsverbrauch bedeuten würde, wovon allein 1,6 Millionen Tonnen die von Damaskus kontrollierten Gebiete betreffen. Es ist daher unklar, wie es der Regierung gelingen soll, genügend Weizen zu beschaffen.

 

Die Auswirkungen des Kriegs in der Ukraine auf die globalen Energiemärkte sind wahrscheinlich ebenfalls eine Gefahr. Höhere Kraftstoffpreise werden sowohl die öffentlichen Finanzen belasten, indem sie die Kosten für staatliche Subventionen in die Höhe treiben, als auch den Transport und somit Lebensmittel für die syrische Bevölkerung teurer machen.

 

Regierungsvertreter haben eingeräumt, dass Syrien von den in die Höhe geschnellten Einfuhrpreisen betroffen sein wird, haben aber gleichzeitig versucht, die Ängste vor einer größeren Lebensmittelkrise zu zerstreuen. Nach dem Einmarsch Russlands in der Ukraine kündigte die Regierung außerdem an, die Versorgung mit zentralen Versorgungsgütern zu rationieren und die Lebensmittelexporte zu beschränken. Die syrische Regierung subventioniert eine Reihe von Grundnahrungsmitteln, die Bürger mit einer vom Staat ausgegebenen Smartcard bei Großhändlern und anderen Einzelhändlern kaufen können. Subventionierte Waren sind jedoch nur in begrenzten Mengen erhältlich. Zudem hat die Regierung vor kurzem Hunderttausende besser gestellte syrische Familien vom Erhalt von Subventionen ausgeschlossen - in einigen Fällen offenbar zu Unrecht.

 

Auch für Hilfsorganisationen werden die Spielräume enger

 

Nicht nur von der Regierung kontrollierte Gebiete sind durch den Ukraine-Konflikt gefährdet. Der Nordosten Syriens wird von den kurdisch-geführten syrischen Partnern der USA kontrolliert, bleibt aber wirtschaftlich teilweise in die von der syrischen Regierung kontrollierten Gebiete integriert. Der Nordosten kann sich auf lokal angebauten Weizen verlassen, muss aber zusätzlich zu anderen wichtigen Importen Weichweizen für die Brotherstellung importieren. Das Gebiet wird somit zwangsläufig unter den steigenden Lebensmittelpreisen und einer weiteren Schwächung der syrischen Lira leiden. Selbst die vertriebenen Syrer im Lager Al-Rukban - in der Nähe des US-Militärstützpunkts Al-Tanf in der Syrischen Wüste - leben vom Schmuggel von Mehl und anderen Waren aus den umliegenden Gebieten unter Regierungskontrolle.

 

Der von den Rebellen kontrollierte Nordwesten ist wirtschaftlich stärker mit der benachbarten Türkei verbunden als mit den Gebieten, die von der syrischen Regierung kontrolliert werden. Daher ist er scheinbar von den wirtschaftlichen Verhältnissen in den Regierungsgebieten isoliert. Trotzdem wird auch dieser Landesteil äußerst anfällig für die Auswirkungen des Ukraine-Kriegs sein. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen leben in der Enklave 4,4 Millionen Syrer, darunter 2,8 Millionen Binnenvertriebene. Ungefähr 3,4 Millionen Menschen benötigen Hilfe und 3,1 Millionen gelten als ernährungsgefährdet. Die lokalen Verwaltungen sind weitgehend zur Verwendung der türkischen Lira übergegangen. Auch die im Nordwesten tätigen humanitären Organisationen beschaffen ihre Güter aus der Türkei.

 

Das bedeutet jedoch, dass das Gebiet den wirtschaftlichen Turbulenzen in der Türkei ausgesetzt ist. Die türkische Lira hat im letzten Jahr fast die Hälfte ihres Wertes verloren und die Türkei selbst ist ebenfalls anfällig für die Auswirkungen des Ukraine-Krieges auf die globalen Märkte. Insbesondere braucht sie Weizen aus Russland und der Ukraine – fast das gesamte Mehl in den Bäckereien im Nordwesten Syriens wird wiederum aus der Türkei importiert. Inzwischen hat Ankara die Ausfuhr von Agrarprodukten eingeschränkt. Des Weiteren importiert die Region Treibstoff aus der Türkei. Höhere Treibstoffpreise werden sich nicht nur auf den Transport auswirken, sondern auch auf die Lebensmittelpreise. Berichten zufolge haben die lokalen Verwaltungen die Preise bereits erhöht.

 

Hilfsorganisationen werden ihrerseits Schwierigkeiten haben, den gestiegenen Bedarf an humanitärer Hilfe in Syrien zu decken, da diese ebenfalls vom Ukraine-Konflikt betroffen sind. Steigende Preise bedeuten, dass sie weniger einkaufen können. Der Leiter des Welternährungsprogramms (WFP), David Beasley, sagte beispielsweise, dass die weltweiten Betriebskosten der Organisation um 71 Millionen Dollar pro Monat gestiegen sind. Das WFP sei bereits gezwungen, die Lebensmittelrationen für Flüchtlinge und andere bedürftige Menschen in Ländern des Nahen Ostens zu kürzen. Darüber hinaus wird der Krieg in der Ukraine wahrscheinlich zunächst die Aufmerksamkeit und Ressourcen der Geber von langwierigen Konflikten wie in Syrien ablenken.

 

In Syrien wollte Moskau kooperieren

 

Neben den genannten wirtschaftlichen und humanitären Folgen des Kriegs auf Syrien wird auch der Einfluss auf die Diplomatie neue humanitäre und sicherheitspolitische Risiken mit sich bringen. Im vergangenen Jahr führten die Vereinigten Staaten und Russland einen kontinuierlichen, offensichtlich konstruktiven Dialog über humanitäre Fragen in Syrien. Dieser Dialog führte im Juli zur Resolution 2585 des UN-Sicherheitsrats, mit der das UN-Mandat für grenzüberschreitende humanitäre Hilfslieferungen aus der Türkei in den Nordwesten Syriens ohne Zustimmung der syrischen Regierung verlängert wurde. Die Erneuerung der Genehmigung zu »grenzüberschreitender Hilfe« war Teil eines umfassenderen Kompromisses: Der Sicherheitsrat erlaubte sowohl sogenannte »Early-Recovery-Hilfe« in ganz Syrien als auch »Cross-Line-Hilfe« aus den von der syrischen Regierung kontrollierten Gebieten in den von den Rebellen gehaltenen Nordwesten und in andere Regionen außerhalb der Kontrolle Damaskus‘.

 

Darüber hinaus hat sich Washington dafür eingesetzt, die Reichweite der US-Sanktionen besser und klarer zu bestimmen, um internationale Hilfe und andere wirtschaftliche Aktivitäten zu erleichtern, die nach den US-Sanktionsbestimmungen eigentlich erlaubt sind, aber dennoch durch die abschreckende Wirkung der Sanktionen beeinträchtigt werden.

 

Obwohl die Resolution 2585 die grenzüberschreitende Hilfe de facto um ein Jahr verlängerte, garantierte sie formal nur eine Verlängerung um sechs Monate. Eine weitere sechsmonatige Verlängerung im Januar hing von einem Bericht des UN-Generalsekretärs über die Hilfsmaßnahmen ab. Das schien ein Test für die Bereitschaft Russlands zu sein, sich weiterhin konstruktiv zu engagieren. Moskau hätte die Abstimmung über die Verlängerung in einen weiteren harten diplomatischen Kampf verwandeln können, ließ sie aber stattdessen mit minimaler Dramatik zu und signalisierte damit: In humanitären Fragen zu Syrien will man weiter kooperieren.

 

Dieses weitere Engagement scheint nun jedoch unmöglich. Die USA und Russland haben zwar einige diplomatische Kontakte zu wichtigen Themen wie den multilateralen Verhandlungen zur Wiederherstellung des Atomabkommens mit Iran aufrechterhalten, die bilateralen Gespräche über grenzüberschreitende Hilfe für Syrien und damit verbundene humanitäre Fragen sind jedoch vermutlich beendet.

 

Das Ende dieser Gespräche bedeutet voraussichtlich, dass es keine weiteren Kompromisse bei humanitären Fragen in Syrien geben wird. Es gilt als unwahrscheinlich, dass Maßnahmen, die im vergangenen Jahr vereinbart wurden, vollständig rückgängig gemacht werden. Aber was auch immer an weiteren Zugeständnissen möglich gewesen wäre, die das Leiden der Syrer weiter hätten lindern können, scheint nun vom Tisch zu sein.

 

Darüber hinaus stellt das Ende des amerikanisch-russischen Dialogs infrage, ob Russland die Verlängerung des grenzüberschreitenden humanitären Mandats der Vereinten Nationen zulassen wird, wenn es im Juli dieses Jahres erneut im Sicherheitsrat zur Sprache kommt.

 

Diplomaten und humanitäre Organisationen berichten, dass Großbritannien und Deutschland an der Entwicklung eines alternativen Koordinierungsmechanismus gearbeitet haben, der die Rolle der Vereinten Nationen bei der Organisation der grenzüberschreitenden Hilfe teilweise ersetzen könnte, sollte der Sicherheitsrat das UN-Mandat nicht verlängern. Humanitäre Organisationen weisen jedoch seit langem darauf hin, dass es keinen wirklichen Ersatz für die UN-geführte grenzüberschreitende Hilfe aus der Türkei gibt, sowohl was den Umfang der geleisteten Hilfe, als auch was die Transparenz des Einsatzes angeht.

 

Diese Hilfsleistungen versorgen Millionen von Syrern im Nordwesten. Ein Landesteil, der angesichts der Bevölkerungsdichte, des akuten humanitären Bedarfs und der Nähe zu den türkischen Märkten besonders anfällig für die wirtschaftlichen Auswirkungen des Ukraine-Konflikts zu sein scheint. Eine Nichtverlängerung des grenzüberschreitenden Mandats würde wahrscheinlich katastrophale Folgen haben.

 

Daneben gibt es auch Anlass zur Sorge, dass eine Beendigung des amerikanisch-russischen Engagements Russland dazu ermutigen könnte, im Allgemeinen eine destabilisierende Rolle in Syrien zu spielen. Es muss allerdings erwähnt werden, dass Russland in Syrien bislang keine gefährlichen und eskalierenden Schritte unternommen hat. Es gibt kaum Anzeichen dafür, dass sich das russische Militär gegenüber den US-Streitkräften aggressiver verhält oder dass sich Moskau nicht mehr an die vereinbarten »Deconfliction«-Maßnahmen hält. Doch im vergangenen Jahr hatten die USA und Russland gemeinsame Anstrengungen zur Herstellung von Stabilität in Syrien unternommen. Beide konnten von einer relativen Ruhe profitieren und ausloten, welche Kompromisse möglich waren, um die humanitären Bedingungen im ganzen Land zu verbessern. Jetzt jedoch könnte es sein, dass Russland weniger Nutzen in Stabilität und Ruhe sieht.

 

Es ist jedoch weniger klar, wie Moskau nun reagieren würde, wenn die Türkei neue militärische Operationen in Syrien angeht.

 

Die USA wollen bestimmte Gebiete von Sanktionen ausnehmen, die Türkei ist dagegen

 

Berichten zufolge will Washington geografisch begrenzte Ausnahmen von den US-Sanktionen zulassen, welche die Gebiete im Nordosten Syriens, die von den kurdisch-geführten Partnern der USA kontrolliert werden, und einen nördlichen Teil der Provinz Aleppo, der von der türkisch-gestützten Opposition kontrolliert wird, betreffen. Diese neuen Ausnahmen könnten Hilfslieferungen für diese Gebiete zusätzlich erleichtern und private Investitionen ermöglichen. Sie könnten aber auch zur effektiven Aufspaltung Syriens beitragen und damit dem oft wiederholten Bekenntnis der USA und anderer internationaler Akteure zur Souveränität und territorialen Integrität Syriens zuwiderlaufen.

 

Die Türkei hat Berichten zufolge Vorbehalte gegen die geplanten Ausnahmen von den Sanktionen geäußert – aus Sorge über kurdischen Separatismus. Und angesichts dessen, dass solche Ausnahmen die internen Trennlinien Syriens weiter verfestigen und gleichzeitig dafür sorgen, dass der größte Teil des Reichtums des Landes an Weizen, Öl und anderen Ressourcen außerhalb der Kontrolle der syrischen Regierung verbleibt, hat auch Moskau einen Anreiz, eben diese Linien aufzulösen.

 

Das Engagement der USA und Russlands in Syrien hat in letzter Zeit einige Vorteile für die syrische Bevölkerung gebracht. Wenn Moskau und Washington in Syrien jedoch erneut aneinandergeraten, wird dieser Konflikt vor allem für die syrische Bevölkerung gefährlich sein.

 

Das vergangene Jahr schien zumindest kleine Verbesserungen für die Syrer zu versprechen. Nachdem die wirtschaftlichen und humanitären Bedingungen in Syrien 2020 einen neuen Tiefpunkt erreicht hatten, erzielten die USA, Russland und andere internationale Akteure im vergangenen Jahr einige grundlegende humanitäre Kompromisse, die Hoffnung darauf machten, das Leid der Syrer verringern zu können.

 

Aufgrund der russischen Aggression in der Ukraine scheint die Möglichkeit für solche Verbesserungen jedoch nicht mehr da zu sein. Die globalen Märkte sind in Aufruhr und die Gespräche zwischen den USA und Russland scheinen beendet. Für die syrische Bevölkerung wird es daher noch schlimmer werden - möglicherweise sogar viel schlimmer, falls Russland beschließt, noch mehr Unruhe zu stiften und der bewaffnete Konflikt erneut eskaliert.

 

Für die USA und andere westliche Geberländer lohnt es sich nach wie vor, soviel wie möglich zu tun, um die Not der Syrer zu lindern. Es ist nur natürlich, dass die politische Aufmerksamkeit momentan auf die Ukraine gerichtet ist. Aber das Leid in Syrien war schon vor dem Einmarsch Russlands in die Ukraine so groß wie nie zuvor.

 

Der Einmarsch Russlands in die Ukraine hat die humanitäre Zusammenarbeit in Syrien erheblich erschwert. Es liegt nun an den USA und ihren Verbündeten, dafür zu sorgen, dass die Syrer nicht noch mehr unter Russlands rücksichtslosem und zerstörerischem Handeln leiden müssen.


Sam Heller ist Syrien-Experte beim Think-Tank The Century Foundation. Dieser Text ist eine bearbeitete und übersetzte Fassung, die mit Genehmigung der Century Foundation erscheint.

Von: 
Sam Heller

Banner ausblenden

Die neue zenith 02/2022 ist da: Reise zum Mittelpunkt der Erde

Reise zum Mittelpunkt der Erde

Die neue zenith ist da: mit einem großen Dossier zur Region Persischer Golf und überraschenden Entdeckungen. Von Archäologe über Weltpolitik und Wattenmeer zu E-Sports und großem Kino.

Banner ausblenden

Newsletter 2

Der heiße Draht

Frische Analysen, neue Podcast-Folgen, exklusive Einladungen zu Hintergrundgesprächen und Werkstattberichte: Jeden Donnerstag erhalten tausende Abonnenten den zenith-Newsletter. Sie  wollen auch auf dem Laufenden bleiben? Dann melden Sie sich hier kostenlos an.

Banner ausblenden

WM Katar

So eine WM gab es noch nie

Auf 152 Seiten knöpfen sich Robert Chatterjee und Leo Wigger alle wichtigen Fragen rund um die erste Fußball-WM in einem arabischen Land vor.