Was die Ankunft der ersten Gastarbeiter aus der Türkei in Deutschland mit dem Kalten Krieg zu tun hat – und wie Ankara seinen Einfluss in den türkischen Gemeinden heute geltend macht.
Während des Kalten Krieges war es die Allianz zwischen den Nato-Bündnispartnern und Ankara, die Konrad Adenauer zu folgender Aussage bewegte: dass »jede Erschütterung am Bosporus an der Elbe zu spüren« sei. Der antagonistische Kampf zwischen der UdSSR und den USA führte dazu, dass die muslimischen Nationalstaaten sowie Nationalstaaten mit überwiegend muslimischer Bevölkerung hart umkämpft waren, womit die Einflusssphäre des ideologischen Gegners verringert werden sollte. Das Christentum und der Islam wurden von den USA und ihren Verbündeten als wichtiges Bollwerk gegen die Ausbreitung des Kommunismus gesehen.
Muslimische Staaten waren ebenso bereit, gestützt auf ihre religiösen Lehren sowie eine kapitalistische Marktwirtschaft, der Sowjetunion die Stirn zu bieten. Die Türkei ging in den 1950er Jahren einen Schritt weiter, erlaubte den USA, Militärbasen auf ihrem Territorium zu errichten, und nahm am Koreakrieg teil. Der hohe Blutzoll rechnete sich, er ermöglichte ihr die Aufnahme in die Nato. Die Krisen und Konflikte im weiteren Verlauf der globalen Systemkonkurrenz änderten grundsätzlich nichts an der amerikanisch-türkischen Koalition und der strategischen Bedeutung der Türkei.
Nach Ende des Kalten Krieges kamen neue politische Krisen und Debatten auf, die den europäischen Blick auf die (türkischen) Muslime neu prägten. Der Jugoslawienkrieg, der Tschetschenienkrieg, der Irakkrieg sowie die dadurch ausgelösten Flüchtlingsbewegungen führten zu einer verstärkten Wahrnehmung von Muslimen außerhalb der ideologischen Grenzen des Kalten Krieges.
Die politischen Diskurse bewegten sich entlang religiöser sowie ethnischer Dispute. Angeheizt von intellektuellen Diskursen, welche Konflikte der Zukunft die weltanschauliche Rivalitäts-Lücke schließen würden, die der Kalte Krieg hinterließ. Die politischen Aktivitäten der Türkei in den 1990er Jahren waren davon geprägt, in den oben genannten Konflikten und Kriegen zu vermitteln.
Gleichzeitig kursierte in gewissen politischen Kreisen der Türkei der 1990er Jahren die Überzeugung, dass der Wegfall der UdSSR eine Vereinigung der Turkvölker von China bis zum Balkan auf Grundlage des Islams und gemeinsamer Abstammung ermöglichen könnte. Außenpolitisch bemühte sich Ankara seit den 1990er Jahren über verschiedene türkisch-muslimische Vereinigungen auf europäischem Boden und darüber hinaus, seine politischen Interessen im Ausland durchzusetzen.
Parallel dazu etablierten sich seit Mitte der 1960er Jahre bis zum Ende des Kalten Krieges innerhalb der türkisch-muslimischen Einwanderungsgesellschaft in Deutschland sowie im europäischen Raum eigene Vereins- und Religionseinrichtungen. Einige der Einwanderer der ersten Stunde waren politische Opfer des ersten Putsches in der Türkei 1960 gewesen. Ihre Partei, die »Demokratische Partei« (DP), konnte bei den Wahlen 1950, 1954 und 1957 bis zu 57,61 Prozent der Stimmen für sich verbuchen. Vor allem konnte sie durch die Revitalisierung des Islam ihre Popularität steigern und halten.
In den 1990er Jahren konzentrierte sich die Türkei außenpolitisch auf Vermittlung – etwa in den Kriegen im Kaukasus und auf dem Balkan
Das türkische Militär setzte der Partei am 27. Mai 1960 ein Ende, weil es befürchtete, dass die kemalistische Republik ihrer laizistischen Grundprinzipien beraubt würde. Die Gefahr, aufgrund politischer Überzeugungen inhaftiert und verfolgt zu werden, könnte einen Teil der Einwanderer bewegt haben, von einer Rückkehr in die Türkei, bis auf die Urlaubszeit, abzusehen.
Deutschland bot wegen seiner wirtschaftlichen Prosperität sowie politischen Stabilität viele Vorteile. Darüber hinaus ermöglichte es der türkisch-muslimischen Einwanderungsgesellschaft aufgrund der religionsoffenen Säkularität, ihre kulturellen und religiösen Traditionen aufrechtzuerhalten, und politisch aktive Gläubige mussten keine unmittelbaren negativen politischen Konsequenzen seitens des deutschen Staates befürchten.
Auf Initiative einzelner Personen entstanden islamische Gebetsstätten, etwa durch Anmietung von Garagen oder ähnlichen Einrichtungen in kleinem Kreis. Diese Vereinigungen sollten auch ein Stück Heimat in der Fremde realisieren. Ebenso konnten in solchen Einrichtungen Spenden für Bedürftige oder politische Verbündete in der Türkei gesammelt werden.
Die religiösen Einrichtungen hielten aber auch die Differenz zwischen Türken und Deutschen ein Stück weit aufrecht. Anders gesagt, auch die Einwanderungsgesellschaft wollte ihre türkische Identität und partikulare Zugehörigkeit zum Islam im Rahmen von Vereinigungen nach außen zeigen.
Die Anhängerzahlen von türkisch-muslimischen Organisationen wie etwa dem Verband der Islamischen Kulturzentren (VIKZ) oder der Islamischen Gemeinschaft Millî Görüş (IGMG) im europäischen Ausland wuchsen und zwangen Ankara ab den 1980er Jahren stärker dazu, über die türkische Religionsbehörde Diyanet in die Entwicklungen in Europa einzugreifen.
Unterstützt wurde Ankara vom deutschen Staat, der keine eigenen muslimischen Einrichtungen gründete und offensichtlich die Befriedigung von islamischen Religionspraxen der türkischen Religionsbehörde überließ. In Belgien beispielsweise wurde der Islam de facto 1974 als Körperschaft eingetragen. In Österreich war der Islam bereits seit 1912 anerkannt. In beiden Ländern bildeten sich Repräsentanten aus, die sich den Interessen der (türkischen) Muslime widmeten.
Parallel dazu führten die geopolitischen Transformationsprozesse in Iran und der Sieg der Mudschaheddin in Afghanistan dazu, dass islamistische Gesellschaftsordnungen jenseits der orthodoxen Überzeugungen an Gewicht gewannen. So sympathisierte der Gründer der Millî-Görüş-Bewegung und ehemalige Ministerpräsident Necmettin Erbakan (1926–2011) mit dem islamistischen Regime in Teheran.
Im Ausland versuchte die Türkei, der Millî Görüş das Wasser abzugraben – durch bilaterale Verträge
Dessen Überzeugungen und Ansichten waren unter seinen Anhängern in Deutschland und dem Rest Europas kein Geheimnis. Wenn auch im kleinen Rahmen, die Gebets- und Vereinsstätten waren auch Orte, an denen islamistische Literatur aus der Türkei erworben werden konnte.
Der türkische Nationalstaat erkannte das Gefahrenpotenzial der aufkommenden islamistischen Ideologie Anfang der 1980er Jahre und verstrickte die türkisch-nationalistische Ideologie und islamische Überzeugungen miteinander. Im Ausland versuchte die Türkei, der Millî Görüş dadurch das Wasser abzugraben, indem sie durch bilaterale Verträge mit Deutschland sowie weiteren europäischen Ländern sicherstellte, dass die Imame der Diyanet für die religiöse Erziehung der türkischen Einwanderungsgesellschaft die Zuständigkeit übernahmen. Ab den 1990er Jahren sowie vor allem den 2000er Jahren wurde die facettenreiche türkisch-muslimische Einwanderungsgesellschaft immer sichtbarer.
Während die erste Generation vor allem im Dienstleistungssektor tätig gewesen war, konnten sich die in Deutschland sowie anderen europäischen Ländern geborenen Nachkommen aufgrund ihres Bildungsaufstiegs und ihrer Unternehmensbereitschaft neue Arbeitsfelder erschließen. Dies lässt vermuten, dass die türkisch-muslimischen Einwanderer ab den 1960er Jahren ihren sozialen Status kontinuierlich verbessern konnten und somit ihren Kindern eine bessere Ausgangslage in die Arbeitswelt ermöglichten. Das soll nicht über bestehende Integrationsprobleme hinwegtäuschen, sondern auf die unterschiedlichen Realitäten hinweisen.
Ein anschauliches Beispiel dafür sind in Deutschland geborene und gut ausgebildete Vertreter türkisch-muslimischer Organisationen, die die rechtsstaatschwächende Politik des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan verteidigen oder für gut befinden. DITIB- Funktionäre, die in Deutschland geboren wurden, haben immer wieder mit demokratiepolitisch bedenklichen Aussagen zur Verteidigung der AKP-Politik für Unverständnis gesorgt. Ein aktuelles Beispiel wäre auch die Umwidmung der Hagia Sophia, die einige türkische Verbandsvertreter in Deutschland in der Tradition der AKP-Rhetorik rechtfertigten.
Ab den 1990er Jahren wurde die facettenreiche türkisch-muslimische Einwanderungsgesellschaft immer sichtbarer
Ebenso lassen sich Akteure ausmachen, die in Deutschland oder Europa den vollen Schutz für Minderheiten einfordern, aber dieselben Rechte für Minderheiten in der Türkei für unzulässig erklären. In besonderem Maße teilt der Themenkomplex des Genozids an den osmanischen Armeniern die türkisch-muslimische Einwanderungsgesellschaft in verschiedene Gruppen.
In diese Debatten ist die türkische Religionsbehörde Diyanet direkt oder indirekt involviert und versucht, die Deutungshoheit für sich zu beanspruchen. Der Bildungsaufstieg von Einwanderungsgruppen ist eine Variable zur Messung von Integration. Gleichzeitig bedeutet eine gute Integration in die Strukturen der Mehrheitsgesellschaft nicht, dass die Verbundenheit mit dem Heimatland abgeschnitten wird.
Der auffallend große Widerspruch dabei ist, dass Teile aus der türkischen Einwanderungsgesellschaft in Deutschland demokratische Rechte einfordern und gleichzeitig eine autoritäre Politik im Ursprungsland ihrer Eltern tolerieren. Möglicherweise weil sie glauben, dass die vorübergehende Beschneidung von demokratischen Rechten zu mehr Demokratie führen könnte.
Vielmehr zeigen solche Entwicklungen, dass Einwanderungsgruppen von mehreren sozialen Dynamiken beeinflusst werden. Die AKP hat es verstanden, dieses »Humankapital« für sich nutzbar zu machen. Nicht zufällig werden in Deutschland, Frankreich oder Belgien Wahlveranstaltungen abgehalten. Auch abseits von wichtigen politischen Großereignissen versuchen Verbände wie DITIB oder ATIB, türkische Interessen auf deutschem und europäischem Boden durchzusetzen.
Mag. Dr. Hüseyin Çiçek ist Religions- und Politikwissenschaftler, zurzeit ist er Universitätsassistent an der Universität Wien und assoziierter Mitarbeiter am Erlanger Zentrum für Islam und Recht in Europa.