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Bürgerkrieg, Khalifa-Haftar und Milizen in Libyen

Ein Land im Würgegriff

Feature
Ein Land im Würgegriff
Bürgerproteste in Tripolis im Dezember 2011. Seitdem versuchen Bürgerinitiativen erfolglos, die bewaffneten Gruppen aus der Stadt zu vertreiben. Foto: Mirco Keilberth

Die Offensive von General Khalifa Haftar gerät ins Stocken – und Milizen aus dem ganzen Land strömen Richtung Tripolis. Mit der Eskalation rund um die Hauptstadt steht auch die Libyen-Politik der internationalen Gemeinschaft vor einem Scherbenhaufen.

Zum zehnten Mal in diesem Jahr lädt Jamal Al-Aweeb die Munition für das schwere Maschinengewehr auf seinen Toyota Pick-Up, organisiert Verpflegung und füllt den Tank. Wie immer, wenn die 350-Mann-Einheit des 55-jährigen Kommandeurs aus der libyschen Hafenstadt Misrata gerufen wird.

 

Doch dieses Mal ist alles anders. Dieses Mal solle die Kampfgruppe der Banyan-Marsous-Brigade nicht gegen den IS südlich von Sirte vorrücken. Der Anruf kam auch nicht von AFRICOM, dem Afrika-Kommando der US-Streitkräfte, mit dem seine Einheit im Kampf gegen den IS zusammenarbeitet, sondern aus Tripolis, der 200 Kilometer entfernten Hauptstadt. Die Banyan-Marsous-Kämpfer sind offiziell Teil der Präsidentschaftsgarde von Premier Fayez Al-Serraj. Ihren Sold haben sie in den letzten Monaten wie so oft zwar nicht erhalten, aber die Patrouillen durch die Wüste werden dennoch fortgesetzt. Auch zum eigenen Schutz vor Autobomben. »Manchmal auch gemeinsam mit den Soldaten der Haftar-Armee aus dem Osten. Denn libysche und ausländische Extremisten, die sich in den Schwarzen Bergen in der Sahara versteckt haben, greifen uns und die LNA an.«

 

Zwischen den Soldaten habe es nie Probleme gegeben, sagt Al-Aweeb. Dennoch geht es nun gegen die Haftars Truppe um die Kontrolle der Hauptstadt. Hunderte Pick-ups aus Misrata eilten wenige Tage nach Beginn der LNA-Offensive der Einheitsregierung in Tripolis zur Hilfe. Die Banyan-Marsous-Brigade und die Hauptstadtmilizen sind der wichtigste Verbündete der Regierung, die über keine eigene Armee verfügt.

 

»Haftar ist eine Kopie von Gaddafi, seine Söhne führen eigene Brigaden, er will das Land allein beherrschen. Doch das lassen wir nicht zu«, sagt Jamal Al-Aweeb, der sich noch am selben Abend auf den Weg nach Tripolis macht.

 

Mit dem Überraschungsangriff der ostlibyschen Armee stehen sich erstmals nach dem Sturz von Muammar Gaddafi alle Konfliktparteien in Tripolis gegenüber. Der libyschen Hauptstadt droht ein langer Zermürbungskrieg um die Verteilung der Ressourcen von Afrikas einst reichstem Staat.

 

Libyens Erzfeinde stehen sich nun in Tripolis gegenüber

 

Die spontan geschmiedete Allianz verfeindeter Milizen aus Tripolis, Zuwara, Misrata und Zintan konnte den Vormarsch der »Libyschen Nationalarmee« (LNA) vorerst stoppen. Aber der selbst ernannte Feldmarschall Khalifa Haftar setzt auf die Spaltung seiner Gegner und den Unmut der Bevölkerung gegen die Willkür der Milizen. Sollte Haftar scheitern, droht auch seiner aus lokalen Milizen, Söldnern aus dem Sudan und dem Tschad und Madkhali-Salafisten, bestehenden LNA zu zerfallen.

 

Trotz des UN-Waffenembargos liefern die ausländischen Partner beiden Seiten Waffen. Ägypten, die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE), Russland und Frankreich unterstützen Haftar. Die VAE und Ägypten liefern Waffen. Russland druckte Milliarden Dinar, die ihm erlauben, seinen Krieg zu finanzieren. Während französische Militärberater Haftars LNA zur Seite stehen und die VAE eine Luftwaffenbasis in der Provinz Cyreneika unterhalten, liefern Katar und die Türkei Waffen an die Islamisten in Tripolis und Misrata.

 

Zwei Gewinner und Verlierer des Stellvertreterkriegs stehen jetzt schon fest: Während Kämpfer des sogenannten Islamischen Staates (IS) ihr Gebiet langsam wieder ausweiten, fürchten viele von Europa ferngehaltene Migranten um ihr Leben.

 

Eigentlich wollte UN-Generalsekretär António Guterres bei seinem ersten Besuch in Libyen endlich etwas Positives über die so oft kritisierte UNSMIL-Mission der Vereinten Nationen vermelden: die von seinem Libyen-Beauftragten für den 15. April geplante »Nationale Versöhnungskonferenz« in Gadhames an der tunesischen Grenze. Doch Stunden vor der geplanten Pressekonferenz mit Ghassan Salamé in dem schwer bewachten Gelände »Palm City« außerhalb von Tripolis kam den Diplomaten ein ebenfalls oft belächelter älterer Herr zuvor. Khalifa Haftar verkündete aus seinem Kommandostand bei Benghazi »Stunde Null«, den Sturm auf die Hauptstadt. »Die Vertreibung der Milizen und Terroristen von den Schalthebeln der Macht in Tripolis.« Die Geburtsstunde eines unter ihm geeinten Libyens.

 

Einen »Aufstand gegen die Islamisten«, die nach dem Tod Muammar Al-Gaddafis Libyens Institutionen infiltrierten, hatte der 72-Jährige bereits 2013 ausgerufen. Viele Armeeoffiziere wie Haftar fühlten sich damals von den revolutionären »Sandalenträgern« ausgebootet. Ehemaligen Al-Qaida-Sympathisanten wie Abdulhakim Bel Hadj oder Khaled Sharif hatten im Verteidigungsministerium das Sagen. Doch Haftars Ruf nach der Rückkehr von Polizei und Armee blieb in Tripolis ungehört. Der im westlibyschen Tarhouna geborene Haftar verbündete sich schließlich mit den Stammesführern der Provinz Cyreneika und vertrieb nach dreijährigem Häuserkampf die radikalen Gruppen aus Benghazi. Nun rollen Nachschubkolonnen aus der Cyreneika in die 600 Kilometer entfernte Drei-Millionen-Metropole, in der alle wichtigen Institutionen Libyens angesiedelt sind.

 

In der Cyreneika glaubt man an die zweite Befreiung von Tripolis

 

In Ostlibyen ist der Groll gegen den Zugriff der Hauptstadtmilizen auf die staatlichen Ressourcen so stark wie vor dem Aufstand gegen Gaddafi vor acht Jahren. Viele Menschen in Benghazi glauben, dass nun die zweite Befreiung von Tripolis bevorstehe, dieses Mal aus der Hand der Kämpfer aus dem islamistischen Milieu.

 

Aber auch die Gaddafi-Loyalisten aus Tarhouna, die ehemaligen Revolutionäre aus Misrata, Zintan und den Nafusa-Bergen drängen zurück in die Stadt, aus der sie von den Stadtmilizen verdrängt wurden. Auf einen jahrelangen Krieg bereiten sich auch die radikalen Gruppen vor, die sich in nach dem Verlust von Sirte in die zentrallibyschen Schwarzen Berge zurückgezogen haben und immer wieder Selbstmordkommandos nach Benghazi und Tripolis schicken.

 

Bisher flackerten in Libyen lokale, oft unabhängig voneinander entstandene kleine Konflikte auf. Bei der Schlacht um Tripolis stehen die letzten funktionierenden Institutionen auf dem Spiel. Nach dem Ende der Kämpfe muss ein neuer Sozialvertrag her, glaubt der ehemalige Staatssekretär Hadi Ghariani. »Ohne eine gerechtere Verteilung von Macht und Ressourcen droht langfristig ein Kabul am Mittelmeer.«

 

Seit 2014 gibt es im Land de facto zwei Regierungen. Die international anerkannte und von der UN unterstützte Regierung in Tripolis, und die Regierung von Premier Abdulla Thinni in der 600 Kilometer weiter östlich gelegenen Provinz Cyreneika, die General Haftars Militärmacht ein demokratisches Antlitz geben soll. Haftar bekämpfte den IS, nahm den Osten des Landes ein. Die Milizen in Tripolis kontrollierten die dortige Regierung, die Zentralbank, die Öleinkünfte und die Migrationsströme.

 

Tripolis wird seit Jahren von einem Dutzend Milizen mit unterschiedlichen politischen Ausrichtungen kontrolliert. Formell sind sie der Einheitsregierung gegenüber loyal. Tatsächlich aber haben sich kriminelle Netzwerken gebildet, die Wirtschaft und Regierung kontrollieren. Gemeinsam ist vielen Milizen oft nur, dass ihre Kämpfer auf den Lohnlisten von Ministerien oder staatseigenen Firmen stehen.

 

Es ist diese im Osten so verachtete Regierung und deren Milizen, die von der EU großzügig finanziell unterstützt werden, damit sie die Migrationsströme eindämmen und die Boote auf dem Mittelmeer abfangen, bevor afrikanische Flüchtlinge europäische Küsten erreichen.

 

»Wir überlassen die Libyer der Willkür der Milizen. Niemand ist bereit, die Täter zur Rechenschaft zu ziehen, das wird sich schon bald rächen«, sagt ein Mitarbeiter des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR. Dass die für Mitte April angesetzte Konferenz einen Durchbruch hätte erreichen können, daran zweifelt man in Reihen der UNSMIL. »Ich weiß selbst nicht, nach welchen Kriterien wir die Teilnehmer der Konferenz ausgesucht haben«, so ein UN-Mitarbeiter, der verantwortlich für die Vorbereitung der Konferenz war.

 

Eine Hauptstadt im Würgegriff der Mafia

 

Seit dem Sturz Gaddafis 2011 ist Libyen nicht zur Ruhe gekommen und zu einem Flickenteppich aus Lehensgebieten von Milizen mutiert. Der ehemalige Kultusminister Libyens, Younis Issa, kritisiert gegenüber zenith, dass die Diplomaten und Experten ihren Blick in der aktuellen Krise auf Khalifa Haftar verengen. »Sein Vorgehen, sein Auftreten als großer Führer im Stile Gaddafis hat ihn zum perfekten Feindbild gemacht, symbolisiert aber auch ein grundsätzliches Problem Libyens. Der Zugang zu Geld und Macht ist auf ein Kartell von Familien oder Stämmen beschränkt, über Jahrzehnte clever von Gaddafi gemanagt, jetzt von vielen kleinen Gaddafis. Wenn Haftar weg ist, werden es vielleicht Gruppen aus Misrata oder Zintan sein, die gegen die Milizenmafia in Tripolis antreten.«

 

Der General, der einst half, Gaddafi an die Macht zu putschen, dann in Ungnade fiel und in die USA ins Exil ging, wo er angeblich mit der CIA zusammenarbeitete, kam 2011 nach Libyen zurück, um Gaddafi zu stürzen. Haftar hat keinen Hehl daraus gemacht, über ein geeintes Libyen herrschen zu wollen. Bei einem Treffen mit westlichen Diplomaten hatte er noch Anfang April unmissverständlich klar gemacht, dass er auf die Eroberung von Tripolis setze, sollte der politische Prozess weiterhin stocken. Trotz Truppenaufmarsch im zentrallibyschen Jufra schienen die ins benachbarte Tunis evakuierten EU-Diplomaten überrascht.

 

Dabei war die LNA in den letzten Monaten im Eiltempo durch den Süden des Landes gezogen. Wie schon vor seiner Offensive auf Benghazi hatte der »Feldmarschall« grünes Licht von Stammesältesten eingeholt. Seit seinem Besuch in der saudischen Hauptstadt Riad werben salafistische Imame, die salafistischen Milizen in Tripolis zur Kooperation mit der LNA zu bewegen. Mit bisher mäßigem Erfolg, glaubt Jamal Al-Aweeb. »Die wichtigsten Milizen sind nach Jahren des Streites nun vereint. Wir vergessen für den Moment die Konflikte zwischen den westlibyschen Milizen und haben nur einen Feind: Haftar und all die früheren Gaddafi-Anhänger, die mit ihm kämpfen.«

 

In sozialen Medien herrscht tobt der Krieg zwischen Ost und West

 

Faisal Swehli handelt mit Motoröl, Getreide und Elektrogeräten, ein typischer Mix für libysche Importfirmen. Der Unternehmer fährt die Strecke zur Frontlinie jeden Tag, sein Büro ist nur vier Kilometer von dem Gefechtslärm entfernt. Eine Ewigkeit, wie er ruhig sagt. Swehli hört von Freunden, die an der Front kämpfen, dass die Angreifer auf dem Rückzug seien. Hoffnungsvoll blickt er dennoch nicht in die Zukunft.

 

In den Vororten Wadi Rabia, Gasr bin Gashir, Azizia und Al-Assaba trauen sich die Menschen seit einer Woche nicht aus den Häusern. Es kann Monate dauern, bis Haftars Truppen geschlagen sind, denkt Swehli. Aber was dann? Die Spaltung der Gesellschaft ist so stark wie 2011 oder noch stärker, sagt er.

 

Selbst wenn sich die internationalen Partner von Haftar und Serraj auf einen Waffenstillstand einigen. Werden sich die Milizen aus Tripolis zurückziehen, wenn Premier Serraj dies befiehlt? Würden die Söldner, Madkhali-Salafisten und Gaddafi-Loyalisten auf Haftars Rückzugsbefehl überhaupt reagieren?

 

Swehli schüttelt den Kopf, nachdem er die Hasskommentare auf seinem Smartphone schaut. Er kennt den innerlibyschen Rassismus gut, seine Eltern stammen aus Misrata, geheiratet hat er eine Frau aus dem ostlibyschen Benghazi, Haftars Reich, wie jetzt viele in Tripolis witzeln. »Nie zuvor gab es so viele Hasskommentare zwischen Ost- und Westlibyern wie heute. Ich weiß nicht, wie wir aus diesem Konfliktkreislauf wieder herauskommen.«

Von: 
Mirco Keilberth

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