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Arabischer Frühling reloaded?

General-Abrechnung

Analyse
Demonstrationen in Algerien
Die Proteste in Algerien sind nicht nur friedlich, sondern auch sehr gut organisiert. Foto: Yacine Boudhane

Drei Länder, drei Fragen, drei Experten – Wo Nordafrika im Frühling 2019 steht.

Libyen

1. Wer sind die Schlüsselakteure?

Fayez Al-Sarraj: Premierminister der libyschen »Regierung der nationalen Einheit« mit Sitz in Tripolis, die aus den letzten Friedensverhandlungen zu Libyen 2016 hervorgegangen und offiziell die einzige international anerkannte Regierung Libyens ist. Allerdings hat sie national und international mit Legitimitätsverlust zu kämpfen. Khalifa Haftar: Anführer der selbst ernannten Libyschen Nationalarmee (LNA). Haftar hat sich im östlichen Teil Libyens positioniert und propagiert sich selbst als Führer, der mit harter Hand ganz Libyen kontrollieren und stabilisieren könnte. Im April 2019 entschied er, auf Tripolis zu marschieren. Neben diesen beiden zentralen Akteuren auf nationaler Ebene, spielen lokale and regionale Akteure Schlüsselrollen in Libyen. Die Küstenstadt Misrata etwa operiert in stark eigenständigen Strukturen, allerdings im Zusammenspiel mit Tripolis.

 

2. Welche Rolle spielen welche ausländischen Mächte?

Für Haftars militärischen Vormarsch war und ist die militärische Unterstützung der Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) sowie Ägyptens zentral. Daneben nutzt Russland seine Vetomacht im UN-Sicherheitsrat zu Haftars Gunsten. Auf EU-Seite ist vor allem Frankreich zuzuschreiben, dass der General politische Legitimität erlangte. Dagegen stellt sich vor allem Italien als starker Unterstützer der Regierung in Tripolis und deren verbündeter Milizen dar. Die USA unterstützen eigentlich ebenfalls Serraj, allerdings hat Präsident Trump auch seinen Zuspruch für Haftar publik gemacht. Katar und die Türkei stehen vor allem islamistischen, mit den Muslimbrüdern verbundenen Kräften im Libyen nahe – verwundete Kämpfer werden hier behandelt und regierungsnahe Medien trommeln für Serraj.

 

3. Welcher Aspekt wird nicht prominent genug beleuchtet?
Oft wird Libyen durch das Prisma der West-Ost-Teilung analysiert. Dadurch werden lokale Dynamiken übersehen, die alle Entwicklungen auf nationaler Ebene beeinflussen. Außerdem befindet Libyen sich im Umbruch und entwickelt erst ein politisches System mit eigenständigen Institutionen, ökonomischen Strukturen und Zivilgesellschaft – ein Prozess, der Zeit braucht. Der ehemalige Diktator des Landes, Muammar Al-Gaddafi hinterließ kaum Strukturen, auf denen nach 2011 hätte aufgebaut werden können.

 

Sudan

1. Wer sind die Schlüsselakteure?

Die Protestbewegung im Sudan brachte Berufsverbände und weite Teile der verarmten städtischen Arbeiterschaft zusammen und ist in jeder Hinsicht ein neuer und überraschender Akteur in der politischen Landschaft Sudans. Dem Übergangsrat des Militärs steht der frühere Generalinspekteur der sudanesischen Streitkräfte, Abdel-Fattah Burhan, vor. Den Ton gibt aber der stellvertretende Vorsitzende an: Muhammad Hamdan Daqlu, genannt »Hametti«. Der »sudanesische Bonaparte« verfügt mit den »Schnellen Eingreiftruppen« (RSF) über die wohl schlagkräftigste Einheit im Land – eine Truppe, die aus den berüchtigten Reitermilizen des Darfur-Kriegs, den Dschandschawid, hervorgegangen ist.

 

2. Welche Rolle spielen welche ausländischen Mächte?

Die Auslagerung von Sicherheitsaufgaben in der Region stärkten Hametti und seine Privatarmee weit mehr als ihr Dienst für das Baschir-Regime. In der Sahara fungiert die RSF als Grenztruppe im Auftrag der EU, um Migranten auf dem Weg nach Europa aufzuhalten. Kein Wunder, dass die EU-Staaten in Khartum nach dessen Berufung in den Übergangsrat zuerst bei »Hametti« anklopften. Neben diplomatischer Unterstützung und wohlwollender Berichterstattung versuchen Riad und Abu Dhabi, die Autorität des Übergangsrates mit Finanzspritzen und Eillieferungen zu stärken. Umfang des Hilfspakets: drei Milliarden US-Dollar, gedacht für Treibstoff, Weizen und Medikamente sowie eine Soforteinlage in die leere Kasse der Zentralbank.

 

3. Welcher Aspekt wird nicht prominent genug beleuchtet?

Die Neuordnung der Macht vollzieht sich vor allem innerhalb der Führungsriege des Staates. Unter dem Druck der Protestbewegung haben Baschirs Generäle im »Sicherheitskomitee«, einem Gremiums, das die wichtigsten Figuren in Militär, Geheimdienst und den Milizen zusammenbringt, den langjährigen Staatschef klinisch sauber von der Macht getrennt. Das entstehende Vakuum füllten sie selbst – mit dem Übergangsrat. Die anschließenden Umbildungen innerhalb des Rats sind als Kalibrierung der Machtverhältnisse zu sehen, teilweise auch auf Druck auswärtiger Mächte.

 

Algerien

1. Wer sind die Schlüsselakteure?

Obwohl er sich für einen verfassungskonformen Übergang stark macht, ist General Ahmed Gaïd Salah seit März de facto Machthaber in Algerien. In der Sowjetunion ausgebildet, wurde er 1993 General und führte die Armee während des Bürgerkriegs. Den Protesten begegnet er abwechselnd mit Drohungen und Lob. Vor allem seine Kontakte zu den VAE verheißen für viele Algerier nichts Gutes. General a.D. Mohamed Mediene, von 1990 bis 2015 Geheimdienstchef, gehörte zu den wichtigsten Figuren beim Putsch gegen die Islamische Heilsfront und im Bürgerkrieg. Nach dem blutigen Ende einer Geiselnahme wurde Mediene 2015 von Bouteflika und Gaïd Salah entmachtet. Weil er über ein Netzwerk loyaler Verbündeter verfügen soll, wirft ihm der Armeechef vor, die Proteste organisiert zu haben. Obwohl Bouteflika sein Geld nutzte, um die Opposition zu unterwandern und ihre Glaubwürdigkeit zu zerstören, hat sich eine Plattform für den Wandel um einige bekannte Namen im In- und Ausland gebildet, die Bedingungen für einen Regimewechsel nennt. Erfüllt wurde bisher nur eine: Bouteflikas Rücktritt.

 

2. Welche Rolle spielen welche ausländischen Mächte?

Im Exil war Bouteflika Berater des Herrscherhauses von Abu Dhabi. Kaum Präsident, gewährte er seinen Gönnern Privilegien. Sie bekamen den Zuschlag für die Verwaltung des Hafens von Algier, gemeinsam bauen beide Länder den Panzerwagen Nimr von Mercedes Benz. Wegen der guten Kontakte zu Armeechef Gaïd Salah gelten die VAE in Algerien momentan als Volksfeind Nummer eins. Obwohl Frankreich nachgesagt wird, auf General Mediene gesetzt zu haben, pflegte Paris auch enge Beziehung zu Bouteflika. Emanuel Macron hat seinem Land jedoch einen Bärendienst erwiesen, als er vorschnell die Verlängerung der Amtszeit Bouteflikas begrüßte. Seitdem hagelt es anti-französische Parolen. Die meisten hochrangigen Offiziere haben in sowjetischen Akademien gelernt, der Geheimdienst wurde vom KGB ausgebildet. Moskau befürchtet, dass die Proteste den letzten Verbündeten in der Region destabilisieren. In den vergangenen Wochen hat Russland mehrmals vor einer ausländischen Einmischung in Algerien gewarnt und blickt dabei nach Frankreich.

 

3. Welcher Aspekt wird nicht prominent genug beleuchtet?

Unter den frankophilen Eliten Algeriens wird seit dem Militärputsch gegen die Islamische Heilsfront 1992 immer wieder die Gefahr einer islamistischen Machtübernahme heraufbeschworen. Und auch in den europäischen Medien ist das Gespenst des politischen Islam dauerpräsent. Dabei sind die Islamisten in den Augen des algerischen Regimes nicht per se außen vor, mehrere islamistische Parteien waren an Regierungskoalitionen unter Bouteflika beteiligt. Im Umkehrschluss bedeutet das aber auch, dass diese Parteien kaum erwähnenswerten Rückhalt in der Bevölkerung genießen. Die Gefahr einer islamistischen Wendung wird daher maßlos übertrieben.

Von: 
Inga Kristina Trauthig, Magdi El Gizouli, Bachir Amroune

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