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Afghanische Ortskräfte in Deutschland

»Deutschlands Bild in der Welt nimmt Schaden«

Interview
Bundeswehrsoldaten beim Einsatz in Afghanistan.
Bundeswehrsoldaten beim Einsatz in Afghanistan. Die Bundeswehr arbeitet eng mit lokalen Mitarbeitern zusammen. @Bundeswehr

Marcus Grotian, Soldat und Mitbegründer des Patenschaft-Netzwerks »Afghanische Ortskräfte«, über die verzweifelte Lage von ehemaligen Bundeswehrhelfern in Deutschland.

zenith: Herr Grotian, warum sind Ortskräfte so wichtig für den Bundeswehreinsatz in Afghanistan?

Marcus Grotian: Wenn man Ziele im Ausland erreichen will, braucht man immer Leute, die die Sprache sprechen und die Strukturen vor Ort kennen. Mit wem spricht man überhaupt? Für solche Fragen sind erfahrene und verlässliche Ortskräfte unabdingbar. In Spitzenzeiten waren bei der Bundeswehr 1.500-2.000 Ortskräfte im Einsatz. Heute immerhin noch circa 500. Noch größer ist die Zahl bei Ministerien oder in der deutschen Entwicklungszusammenarbeit.

 

Welche Aufgaben übernehmen Ortskräfte?

Ortskräfte werden oft als reine Übersetzer wahrgenommen. Aber die Tätigkeiten sind vielfältiger: Sie arbeiten als Wachen, Köche oder auch also sogenannte Fixer (Organisatoren), sie ermöglichen also eine Vielzahl von logistischen Aufgaben. Eine Wache, die mit einem Gewehr in der Hand unser Lager bewacht, spricht vielleicht kein Deutsch oder Englisch, ist aber immer noch eine Ortskraft, die für uns im Einsatz ist. 

 

Wie lief die Zusammenarbeit mit den afghanischen Ortskräften und der Bundeswehr?

Ich war selbst mit einem Truppenverband in Afghanistan, der viel mit Ortkräften operiert hat. Auch wenn ich selbst nur wenig direkt mit ihnen zu tun hatte, verdanken viele meiner Kameraden den Ortskräften ihr Leben. Das Vertrauensverhältnis ist eng. 

 

Übersetzer gelten ja schnell als Verräter. Welchen Risiken sind Ortskräfte innerhalb Afghanistans ausgesetzt?

Die Ortskräfte sind in ihrem eigenen Land nicht immer gut gelitten. Die Taliban, der IS und die organisierte Kriminalität haben kein Interesse daran, dass wir mit unserem Ziel, ein demokratisches und rechtsstaatliches Afghanistan aufzubauen, Erfolg haben. Die einheimischen Unterstützer sind bei ihnen als Kollaborateure verschrien. Ehemalige Ortskräfte und ihre Familien werden ständig von den Taliban drangsaliert und bedroht. Auch afghanische Politiker finden es nicht immer gut, dass Afghanen für ausländische Mächte arbeiten. Der ehemalige Präsident Hamid Karzai forderte in seiner Amtszeit die Bundesrepublik in einer diplomatischen Note auf, ehemaligen Ortskräfte wieder aus Deutschland zurückzuschicken, damit sie in Afghanistan das Land aufbauen.

 

Sind Ihnen denn konkrete Fälle von Bedrohungen ehemaliger Ortskräfte bekannt?

Nun bin ich da ja nie direkt dabei, weil ich jetzt hier in Deutschland sitze und mir ihre Geschichten erst hinterher anhöre. Aber die Ortskräfte werden ja nur in Deutschland aufgenommen, wenn sie glaubhaft darlegen können, dass ihr Leben bedroht wird. Und das konnten über 770 Menschen tun, überprüft von mehreren Geheimdienststellen. Das wirft ein düsteres Licht auf die Lage der ehemaligen Ortskräfte in Afghanistan. 

 

Wie können Ortskräfte, die um ihr Leben fürchten, in Deutschland einen Aufenthaltstitel bekommen?

Wenn man sich bedroht fühlt, kann man sich an seinen ehemaligen Arbeitgeber wenden. Das wird dann in einem sogenannten Blackbox-Verfahren, an welchem mehrere Ministerien und Geheimdienste beteiligt sind, geprüft. Wenn man das besteht, kann man über ein vereinfachtes Visaverfahren nach Deutschland kommen und hat dann einen Aufenthaltstitel. Nach acht Jahren kann man dann einen deutschen Pass beantragen, wenn man deutsch spricht und über ein geregeltes Einkommen verfügt sowie einen festen Wohnsitz nachweisen kann. Nur ist es in der Praxis leider nicht so einfach mit der Integration. 

 

Was heißt das konkret? Welche Probleme haben ehemalige Ortskräfte in Deutschland?

Es gibt eine ganze Reihe von Problemen. Zum einen ist es den Afghanen seit 2016 nicht mehr möglich, ihre Familien nach Deutschland zu bringen, nur ihre Frau und minderjährige Kinder. Anfangs konnten Ortskräfte angeben, welche Familienmitglieder genau gefährdet sind. Dann wurde eine Entscheidung über die gesamte Familie getroffen. Das entspricht den afghanischen Familienstrukturen und hat die Lebenswirklichkeit insofern abgebildet, weil die jungen Männer oft für eine ganze Großfamilie das Geld verdienen. Im Rahmen der sogenannten Flüchtlingskrise wurden die Auflagen aber stark verschärft. Seitdem darf nur noch eine Frau – auch nicht immer die Norm in Afghanistan – sowie alle minderjährigen Kinder nach Deutschland kommen. Alle anderen Familienmitglieder müssen einen Visaantrag stellen. Dafür sind die Auflagen aber absurd hoch.

 

Inwiefern?

Die Familie darf niemandem auf der Tasche liegen. Man muss finanziell komplett selbstständig sein, genug Wohnraum zur Verfügung haben, und muss das Ganze auch noch schriftlich für die Zukunft bestätigen. Das ist absurd. Kaum eine ehemalige Ortskraft kann das garantieren. Mit den 500 Euro, die man als Ortskraft in Afghanistan verdient, ist man dort reich. In Deutschland sieht das anders aus. 

 

Welchen weiteren Probleme begegnen die ehemaligen Ortskräfte in Deutschland?

Die Familien, die es hierer geschafft haben, bekommen mittlerweile laut Empfehlung des Innenministeriums nur noch eine Aufenthaltsempfehlung von einem Jahr. Anfangs waren es noch drei Jahre. Die Regeln wurden auch hier verschärft.

 

»Mit einem Aufenthaltstitel von einem Jahr kriegt man nicht mal einen Handyvertrag. Geschweige denn einen Job«

 

Warum ist das so?

Fragen Sie mal das Innenministerium! Ich weiß es wirklich nicht. Mit einem Aufenthaltstitel von einem Jahr kriegt man nicht mal einen Handyvertrag. Geschweige denn einen Job. Damit habe ich nicht einmal ansatzweise die gleichen Chancen, wie jemand, der hier Asyl sucht. 

 

Im Gegensatz zu Asylsuchenden haben ehemalige Ortskräfte immerhin einen Aufenthaltstitel.

Ja, deswegen gelten sie Einigen als privilegiert. Nur, de-facto bringt das herzlich wenig. In Berlin leben sie oft viel länger im Übergangswohnheim als Geflüchtete. Denn für Asylsuchende steht eine große Infrastruktur an Organisationen und Anlaufstellen zur Verfügung. Für ehemalige Ortskräfte ist das nicht der Fall. Die sind häufig völlig auf sich allein gestellt. 

 

Welche Folgen hat das?

Wir hatten in Sachsen den Fall eines Afghanen, der nur Dari spricht und daher irrtümlich drei Monate lang in eine Asylbewerberunterkunft untergebracht war. Irgendwann fiel den Mitarbeitern dort auf, dass er ja bereits einen Aufenthaltstitel hat. Der Mann wurde dann obdachlos. Wie soll er sich ohne Hilfe und ohne Deutschkenntnisse hier zurechtfinden? Er war durchs Netz gefallen, eben gerade, weil er keinen Asylbewerberstatus hatte. 

 

Einige ehemalige Ortskräfte schaffen es ja trotz dieser widrigen Umstände, hier einen Job zu finden. Wie ergeht es ihnen?

Da fällt mir die Geschichte eines Afghanen aus Magdeburg ein, der einen Job in Leipzig gefunden hatte und so seine Familie hätte ernähren können. Leider wurde ihm der Transfer nach Leipzig nicht erlaubt, da ein Umzug seinem Integrationsprozess abträglich sein könnte. Bizarr! Er macht den Job jetzt trotzdem und pendelt jeden Morgen anderthalb Stunden von Magdeburg nach Leipzig. 

 

»Bei den ehemaligen Ortskräften in Deutschland herrscht Unverständnis und Ernüchterung«

 

Ein Einzelfall?

Bei den ehemaligen Ortskräften in Deutschland herrscht Unverständnis und Ernüchterung. Sie kommen mit einer sehr hohen Meinung von Deutschland im Gepäck zu uns und glauben, es würde wertgeschätzt, dass sie für uns gearbeitet haben. Sie sind dann ziemlich ernüchtert. Einer besonderen Integrationsbereitschaft von deutscher Seite können sie sich in jedem Fall nicht erfreuen. 

 

Wollen sie überhaupt in Deutschland wohnen?

Mein Eindruck ist: teils, teils. Die lieben ihr Land. Ich habe durchaus auch Stimmen gehört, die am liebsten sofort wieder nach Afghanistan gehen würden, wenn die Sicherheitslage es zuließe. Nur, grundsätzlich geht doch kaum noch jemand davon aus, dass das in absehbarer Zeit der Fall sein wird. Lesen Sie mal den neuesten UN-Bericht. Das Land schlittert immer weiter in Richtung Abgrund. Die ehemaligen Ortskräfte hier sind Realisten. Sie wissen, dass sie sich auf ein Leben im Exil einstellen müssen. 

 

Wie kümmert sich die Bundeswehr denn um ihre ehemaligen Mitarbeitet?

Die Bundeswehr kümmert sich gar nicht um sie. Gesetzlich ist es nicht ihre Aufgabe. Man überlässt das daher dem Innenministerium. Das wiederum auf die zahlreichen Organisationen für Geflüchtete verweist. Und so kommt es, dass Afghanen, die jahrelang unter Lebensgefahr mit unseren Soldaten in die Schlacht gezogen sind, schnell durchs Raster fallen. Viele sind auch traumatisiert. Ihnen bleibt nichts anderes übrig, als sich an den psychologischen Dienst für Asylsuchende zu wenden. Im Regelfall bekommen sie dann nach neun bis zehn Monaten einen Termin bei einem Psychologen, der nicht mal ihre Sprache spricht. 

 

Was sagen Politiker dazu, wenn Sie im Rahmen Ihrer Arbeit mit ihnen sprechen?

Das Interessante ist: Im Gespräch finde ich immer von allen Seiten Unterstützung. Nur handelt die Bundesregierung dann anders. Das muss ich erstmal so hinnehmen. Aber das Bild Deutschlands in der Welt nimmt Schaden. Wenn ehemalige Ortskräfte heute in Mazar-i-Sharif vor dem deutschen Camp gegen ihre Behandlung protestieren, dann geht das durch die Sozialen Medien. Als Arbeitgeber kriegen wir da langfristig Probleme. Auch Leute in Mali, oder wo auch immer wir noch zukünftig aktiv sein werden, könnten das irgendwann mitbekommen. Wir sollten uns also um diese Leute kümmern. Wenn wir die jungen, westlich geprägten Afghanen so behandeln, mit wem wollen wir denn unsere Missionen in der Welt eigentlich durchführen? 

 

Was sollte die deutsche Politik unternehmen?

Es wäre auch schon viel wert, die Leistung der ehemaligen Ortskräfte für die deutsche Gesellschaft stärker zu würdigen. Auch kleine Gesten zählen. Wir versuchen, Neuankömmlinge zum Beispiel vom Flughafen abzuholen. Allein ein »Schön, dass du da bist« nimmt emotionalen Stress. Offiziell ist das aber nicht vorgesehen. In anderen Ländern, wie den USA, ist das übrigens völlig normal. Wir sehen das und haben deswegen unser Patenschaft-Netzwerk gegründet. Aber in unserem ehrenamtlichen Engagement stoßen wir an unsere Grenzen. Von 500 Anfragen in den letzten vier Jahren haben wir vielleicht 50 derart bearbeiten können, dass ich sagen kann: Da wurde wirklich jemandem geholfen. Eine Organisation wie unsere ist wichtig, könnte aber viel effektiver sein, wenn sie institutionell stärker verankert wäre. Wir brauchen also eine Form der Ansprechbarkeit der deutschen Gesellschaft. Mit zwei hauptamtlichen Sozialarbeitern könnte schon eine Menge bewirkt werden.


Marcus Grotian ist Vorsitzender des Patenschaftsnetzwerkes Afghanische Ortskräfte e.V. in Deutschland. Das Patenschaftnetzwerk wurde von aktiven und ehemaligen Soldaten gegründet, um ehemaligen Ortskräften beim Start in Deutschland zu helfen. Der Generalinspekteur der Bundeswehr Eberhard Zorn ist Schirmherr. Das Interview fand im Rahmen der Buchpräsentation "Auch. Wir. Dienten. Deutschland - Über die Zusammenarbeit mit afghanischen Ortskräften während des ISAF-Einsatzes" der Bundeszentrale für politischen Bildung statt.

Von: 
Leo Wigger

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